Gibt es irgendwelche Beweise, oder eine halbwegs begründete Annahme dafür, dass es wirklich trojanische, oder zumindest aus einer anderen eroberten Stadt, Auswanderer gab, welche sich im Latium niedergelassen haben und somit für die Gründung Alba Longas und Roms verantwortlich waren?
Gegen einen realen historischen Hintergrund, zumindest soweit es Alba Longa betrifft, spricht schon die Überlieferungsgeschichte. In den ältesten bekannten Quellen wird Rom meist noch von Aeneas selbst, seinem Sohn oder Enkel gegründet, Alba Longa spielt noch keine Rolle. Allem Anschein nach wurden erst später, als man erkannte, dass zwischen dem trojanischen Krieg und der mutmaßlichen Gründung Roms über vierhundert Jahre lagen, die Gründung Alba Longas und die Liste der Könige dieser Stadt eingeschoben, um diesen Zeitraum überbrücken zu können. Zumindest die Gründung Alba Longas durch Trojaner ist also offenkundig eine spätere Erfindung, um chronologische Probleme zu lösen, und geht auf keine alten Überlieferungen, die einen realen Hintergrund haben könnten, zurück. Eine Gründung von Rom selbst durch Trojaner ist aber schon rein chronologisch unmöglich.
Das schließt natürlich noch nicht generell aus, dass sich Trojaner in Latium niederließen und ihre Nachfahren Rom gründeten. Allerdings sprachen die Römer bekanntlich Latinisch, also eine italische Sprache, während die historischen Bewohner Trojas wohl eine Sprache Kleinasiens, eventuell Luwisch, sprachen. Also selbst wenn Rom tatsächlich von Menschen mit trojanischen Wurzeln gegründet worden wäre, wären diese wahrscheinlich längst in der Bevölkerung Latiums aufgegangen gewesen, sodass es wenig sinnvoll wäre, sie noch als Trojaner zu bezeichnen. Beweise gibt es ohnehin keine, auch keine "halbwegs begründete" Annahme.
Bei Troja wird es ja wohl auch zeitlich eher unwahrscheinlich sein, doch gibt es vielleicht einen kleinen wahren Kern in diesem Teil der Aenais, oder dient das ausschließlich als "propagandistischer Mythos" ?
Der Kreis der Literaten um Maecenas und Augustus war recht gebildet, Griechenland war in Philosophie und Literatur das Vorbild schlechthin und so kannte und verarbeitete man - oder konkret Vergil - eben Hesiod und Homer etc.
Die ältesten bekannten Quellen für einen trojanischen Ursprung Roms waren griechische Autoren und reichen bis ins 5. Jhdt. v. Chr. zurück, also bis in eine Zeit, als Rom noch unbedeutend war. Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass die ältesten bekannten Autoren, denen zufolge Rom von Aeneas gegründet wurde, nämlich Hellanikos von Lesbos und Damastes von Sigeion, stadtrömische Lokalsagen kannten. Mir scheint es daher eher so gewesen zu sein, dass die Römer begierig eine griechische Überlieferung über einen trojanischen Ursprung ihrer Stadt aufgriffen und weiter ausschmückten, um sich einen ruhmvollen Ursprung zu verschaffen und sich mit der griechischen Welt zu verbinden.
Dass Rom einen trojanischen Ursprung gehabt haben soll, war übrigens kein Einzelfall: Auch bei etlichen anderen Städten Italiens und Siziliens wurde die Gründung (trojanischen oder griechischen) Überlebenden des trojanischen Krieges zugeschrieben.
Die Eigenleistung von Vergil ist, soweit es die Entwicklung des Mythos betrifft, relativ gering. Er verarbeitete im Wesentlichen nur ältere Überlieferungen der Griechen und Römer zu einem großen Epos.