Die Sarazenen in der Schweiz

Kannst du nicht mal 30 Jahre zurück reisen und meinem Lateinlehrer einen netten Schubs geben, um ihn zu ersetzen? Den Akkusativ als Zielkasus werde ich jetzt nie wieder vergessen.
Ehrlich gesagt, hat sich in mein Gedächtnis vor allem der Spruch ROMANI ITE DOMUM eingebrannt. Der Begriff "Zielkasus" war mir entfallen, da musste ich doch kurz nachschauen.
 
Dann wird Flodoard erwähnt
Vielen Dank für die Auszüge aus den Annalen. Die werde ich mir genauer anschauen.
Soviel weiss ich inzwischen schon:
Mit den Anglorum sind wohl tatsächlich angelsächsische Pilger gemeint. So meint jedenfalls die Fussnote in der französischen kommentierten Ausgabe der Annalen.
Den Hugo konnte ich als Hugo I. König von Niederburgund (924-947) und Italien ausmachen, der wäre in Fraxinetum zuständig gewesen.
 
929:
Viae Alpium a sarracenis obsessae a quibus multi Romam proficisci volentes, impediti revertuntur.

931:
Graeci Sarracenos per mare insequentes usque in Fraxinetum saltum, ubi erat refugium ipsorum, et unde egredientes Italiam sedulis preadabantur incursibus, Alpibus eciam occupatis, celeri Deo propitio internetione proterunt, quietam reddentes Alpibus Italiam.

Die Byzantiner verfolgten die Sarrazenen über das Meer bis Gebirge von Fraxinetum/Freinet, wo ihr Schlupfwinkel war und von wo aus sie ausfuhren, um Italien fleißig auszurauben. Die Alpen besetzten sie auch und schnell war Gott gnädig und sie ließen von der Zerstörung ab und kehrten aus Italien in die Apen zurück.​


Den ersten Satz würde ich, ein bisschen frei, so übersetzen:
Die Straßen der Alpen wurden von den Sarrazenen besetzt; viele, die nach Rom reisen wollten, wurden von ihnen aufgehalten und mussten zurückkehren.
Den zweiten:
Die Byzantiner verfolgten die Sarrazenen über das Meer bis ins Gebirge von Fraxinetum/Freinet, wo ihr Schlupfwinkel war und von wo aus sie ausfuhren, um Italien fleißig auszurauben. Die Alpen besetzten sie auch, in Gott sei Dank schnellem Morden ritten sie über das untätige Italien hinweg und zogen sich in die Alpen zurück.​
 
Weiss nicht ob du den Artikel von Hannes Steiner im Bündner Monatsblatt : Zeitschrift für Bündner Geschichte, Landeskunde und Baukultur aus dem Jahr 2009 kennst.
Danke! Nein, den Artikel hatte ich noch nicht gelesen. Ich sah in zwar einmal als Quelle vermerkt, war aber noch nicht bis zu ihm vorgedrungen.
Hannes Steiner hat ja die ganze Arbeit mit den Quellen und deren Übersetzung, auch die von Liutprand und seiner Antapodosis, schon gemacht und wie es aussieht hervorragend.
Ich bin gerade überwältigt.
 
Ohne diesen Fall zu kennen beschäftige ich mich zufällig gerade wieder einmal mit einem ähnlichen Phänomen in der Surselva. Antrieb war dieser Satz in der Wikipedia unter "Falera" zum Thema Megalithenanlage Parc la Mutta:

Die Anlage ist durch Peillinien mit der Umgebung verbunden. Zum Beispiel liegen die drei Kirchen von Falera, Ladir und Ruschein auf der gleichen südwestlichen Kultlinie.

https://de.wikipedia.org/wiki/Falera
Leider hält diese Behauptung einer Überprüfung nicht stand, die Kirche von Ruschein liegt völlig daneben. Allerdings verläuft die Linie über die nahe Burg(ruine) Frauenberg, die an einem nachgewiesenen bronzezeitlichen Kultplatz errichtet wurde (wie auch die Kirchen von Ladir und Falera). Weiterhin konnte ich feststellen, dass die Linie nach SW verlängert auf die Kapelle St. Maria Magdalena in Rueun trifft und in NO-Verlängerung auf die Kapelle St. Nikolaus in Laax.

surselva_mkp_01.jpg surselva_mkp_02.jpg

Da zudem jeweils Sichtverbindungen zwischen den Plätzen bestehen, muss man wohl von einer geplanten Anlage ausgehen, die mindestens in die Bronzezeit verweist.

(Das nur meine 50 Cents dazu — bei weiterem Diskussionsbedarf sollte das Thema besser ausgelagert werden...)

[Edit] Das ist nicht ganz so off-topic, jedenfalls geografisch, wie es scheint — müssen doch viel später die Sarazenen auf dem Weg von Disentis nach Chur und retour über Ilanz und Laax gezogen sein, einen anderen Weg hat es nicht gegeben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Darin sehe ich den Satz:

die sarazenen, – ein berberischer stamm, der 889 in der nähe des heutigen st. tropez auf dem europäischen festland fuss gefasst hatte, die kolonie fraxinetum gründete und sich von dort aus nach 906 im burgundischen königreich ausbreitete.
Sarazenen ist kein berberischer Stammesname. Sarazene - bzw. Sarakenoi - ist ein bereits bei Klaudios Ptolemaios überlieferter Name für Menschen im arabischen Raum, der womöglich auf ein früharabisches Etymon zurückgeht, womöglich šarqīyūn(a), was der Plural von šarqī(un). Aš-šarq(u) ist 'der Osten', dieser Begriff wird dann in der lateinischen Literatur des Mittelalters häufig für (arabische) Muslime verwendet. Nur... so wie die Araber alle Europäer gerne als Ifranǧ ('Franken') bezeichneten, so bezeichneten eben die lateinischen Europäer die Muslime gerne in cummulo als Sarazenen. Über deren Ethnizität besagt das also nichts. Es ist wohl einigermaßen wahrscheinlich, dass es sich bei den Fraxinetischen und Schweizer Sarazenen um Berber handelte und dass diese wohl aus einer Qabīla(t|un) ('Stamm') kamen. Es können aber genauso gut Araber oder islamisierte Ibero-Romanen - Muwalladūn(a) - gewesen sein.

der christliche chronist luitprand von cremona, dem wichtigsten historiker seiner zeit, gab ob dieser kehrtwende von könig hugo seiner verwunderung über die bündnispolitik des provenzalen ausdruck. er richtete gar eine ode an den mont jovis, wie der grosse st. bernhard damals noch hiess: „unbegreiflich bis du, berg jupiter, der du die frömmsten sterben lässt und zuflucht schenkst den maurischen schurken. oh, möge doch der blitz dich treffen und in tausend stücke schlagen.“​

Das Gedicht findet man in der Liutprandi Antapodosis, Lib. V, cap. XI (MGH SS rer. Germ. 41, S. 136).
 
und der oben erwähnte Artikel in einer etwas systematischeren Form hier:
Der Islam in der Schweiz
Der Verfasser ist offenbar ein Schweizer Konvertit. Ich wollte gestern schon, als ich über den Verfasser noch nichts wusste, schreiben, dass sich der Argumentationsaufbau ähnlich anhört wie der von den radikalen Andalucistas (die ich Andalusistas nenne).
Andalucismo mit C ist eine politische Bewegung, die sich je nach Radikalität für eine Abspaltung von Spanien oder zumindest mehr Unabhängigkeit einsetzt, die PA (Partido Andalucista) sowie ihre Abspaltung PSA (Partido Socialista de Andalucía, die Abspaltung hat den alten Parteinamen wieder aufgegriffen) sind sozialdemokratisch orientiert und die PA koaliert daher häufig mit der PSOE (spanische Sozialdemokraten). Die PSA als Abspaltung ist eher unbedeutend geblieben, aber selbst die PA ist eine Kleinstpartei.
Nun gibt es noch den Andalusismo mit S. Die stammen auch ursprünglich aus dem PSA/PA-Lager, glauben aber, dass die Andalusier zum Christentum zwangskonvertierte Muslime seien und sind daher zum Islam konvertiert (man wird wahrscheinlich überall sonst in Spanien mehr Menschen finden, deren Vorfahren ursprünglich mal Muslime waren, als ausgerechnet in Andalusien, wo die Muslime und Christen die man für heimliche Muslime hielt, radikal vertrieben wurden). Das ist so ähnlich, wie mit den Black Muslim-Bewegungen in den USA, die auch den Islam für die "natürliche" Religion ihrer Vorfahren hielten. Historisch richtiger wäre es wohl gewesen, animistische Kulte, wie die Santería anzunehmen...
Solche Darstellungen werden aus einer psychologisch verständlichen Motivation heraus geschrieben. Man sieht sich als schweizer (oder spanischer) Bürger in einer religiösen Minderheitssituation, womöglich auch diskriminiert und will gewissermaßen eine Kontinuität, "wir waren ja schon immer da" oder "wir sind zu unseren Wurzeln zurückgekehrt", konstruieren. Letztendlich ist das nichts anderes, als die islamfeindlich-nationalistische Haltung zu übernehmen und für die eigene Sicht positiv umzukehren. Also dem islamfeindlich-nationalistischen Narrativ wird eine islamfreundlich-nationalistische Erzählung gegenüber gestellt.
 
Das Gedicht findet man in der Liutprandi Antapodosis, Lib. V, cap. XI (MGH SS rer. Germ. 41, S. 136).
Dort war ich heute auch schon mal. Das war die Stelle an der ich mich durch die Poesie entmutigt für heute vom Latein verabschiedete.

Solche Darstellungen werden aus einer psychologisch verständlichen Motivation heraus geschrieben.
Nach all der Lektüre heute, verstärkte sich bei mir auch das Gefühl, in dem Artikel wird einer zwar spannenden aber relativ unbedeutenden Episode in der Geschichte zu viel Gewicht gegeben. Nur weil es viele, auch gute Quellen gibt, steigert das ja nicht automatisch die Bedeutung. Ich konnte das aber nicht richtig einordnen. Danke für die Klärung.
 
931:
Graeci Sarracenos per mare insequentes usque in Fraxinetum saltum, ubi erat refugium ipsorum, et unde egredientes Italiam sedulis preadabantur incursibus, Alpibus eciam occupatis, celeri Deo propitio internetione proterunt, quietam reddentes Alpibus Italiam.

Die Byzantiner verfolgten die Sarrazenen über das Meer bis Gebirge von Fraxinetum/Freinet, wo ihr Schlupfwinkel war und von wo aus sie ausfuhren, um Italien fleißig auszurauben. Die Alpen besetzten sie auch und schnell war Gott gnädig und sie ließen von der Zerstörung ab und kehrten aus Italien in die Apen zurück.
Den zweiten:

Die Byzantiner verfolgten die Sarrazenen über das Meer bis ins Gebirge von Fraxinetum/Freinet, wo ihr Schlupfwinkel war und von wo aus sie ausfuhren, um Italien fleißig auszurauben. Die Alpen besetzten sie auch, in Gott sei Dank schnellem Morden ritten sie über das untätige Italien hinweg und zogen sich in die Alpen zurück.
Ich würde das etwas anders übersetzen:
"Die Byzantiner verfolgten die Sarazenen über das Meer bis ins Gebirge von Fraxinetum, wo deren Schlupfwinkel war, und von wo aufbrechend sie Italien in eifrigen Einfällen plünderten, und nachdem sie auch die Alpen besetzt hatten, vernichteten sie sie durch einen durch den gnädigen Gott raschen Untergang, als sie von den Alpen ins ruhige Italien zurückkehrten."
Meiner Meinung nach sind also die Graeci das Subjekt des Satzes, auf die sich auch das proterunt bezieht (andernfalls würde das Subjekt Graeci allein stehen, ohne zugehöriges Verb): Sie verfolgten die Sarazenen und vernichteten sie schließlich, als diese von den Alpen nach Italien zurückkehrten.
Meine Übersetzung setzt allerdings voraus, dass "reddentes" ein Schreibfehler für "redientes" ist, denn reddentes würde "zurückgeben" bedeuten, "redientes" hingegen "zurückkehren". Mit "zurückgeben" weiß ich mir allerdings gar nichts anzufangen: "sie (die Griechen oder die Sarazenen?) gaben den Alpen das ruhige Italien zurück"????
 
Zuletzt bearbeitet:
Naive Frage mit dem Zusatz, dass ich nicht erwarte oder gar verlange, dass mir unbedingt jemand zu einer Antwort verhelfen muss: Gibt es noch andere Berichte über diese Razzia? Immerhin soll sie ja ein recht ausgedehntes Einzugsgebiet gehabt haben und, unabhängig, wer wem eine aufs Haupt gab, könnte/dürfte das auch anderwärts Spuren hinterlassen haben.
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"Die Byzantiner verfolgten die Sarazenen über das Meer bis ins Gebirge von Fraxinetum, wo deren Schlupfwinkel war, und von wo aufbrechend sie Italien in eifrigen Einfällen plünderten, und nachdem sie auch die Alpen besetzt hatten, vernichteten sie sie durch einen durch den gnädigen Gott raschen Untergang, als sie von den Alpen ins ruhige Italien zurückkehrten."
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