Ich versuche mal, selbst zu antworten, und zwar: eindeutig ja.
Mein Hauptargument liegt in seiner eigenartigen Wandlung vom gnadenlosen Feldherr bzw. Consul zum Friedenskaiser als Alleinherrscher. Solch eine Wandlung um 180 Grad ist nur möglich, wenn man sich vor allem vom Verstand leiten lässt. Denn beide Seiten Octavians waren zu ihrer Zeit politisch geboten.
Entschuldige wenn ich widerspreche. Das ist eine psychologische Charakterisierung, die nicht nur unglaublich schwer sondern auch auf wackligen Füßen steht.
Schon dieses Argument "Nur möglich wenn..." setzte voraus, das wir zweifelsfrei wüßten, das sich Menschen wirklich von jetzt auf gleich ändern oder nur schauspielern, wie du es ihm hier unterstellst.
Weiterhin das wir wüßten warum sie dies tun (sich verändern oder schauspielern).
m.W. ist das aber durchaus kontrovers behandelt.
Der gnadenlose Feldherr in Stichpunkten:
- Proskriptionen i.J. 43, darunter auch Cicero, den er bewunderte, darunter auch sein Vormund C. Toranius. Die Proskibierten waren vogelfrei und durften von jedermann getötet werden. Ganz nebenbei konnte man sich an ihrem Vermögen bereichern.
(...)
- Viele Anhänger des Sextus Pompeius und Lepidus wurden nach der Schlacht von Naulochos hingerichtet. Caesars clementia galt ihm nichts.
Gerade diese beiden Punkte würde ich im Zusammenhang sehen.
Der einzige, der erfolgreich nach der Macht gegriffen hatte, ohne das sie sich ihn griff war Sulla. Die Proskriptionen waren seine Idee gewesen und hatten seinen Machtanspruch und seine Reformen gesichert (bis zu seinem Ende zumindest, mangelnde Zukunftspolitik, wieder etwas an dem Augustus geradezu verbissen arbeitete).
Caesar dagegen war durch seine clementia letztlich umgekommen, und gebracht hatte sie ihm außer der Bewunderung eines großen, aber nicht vollständigen Teiles der Bevölkerung relativ wenig. Erst riesige Gelder, die eher in der Geberbereitschaft als Tugend zu suchen sind denn in der Gnade sind sein Rückhalt gewesen.
Schlußendlich brachten ihn die Leute um, denen er clementia hatte zukommen lassen. Augustus war sich dessen möglicherweise also bewußt.
- nach der Belagerung von Perusia ließ er 300 Bürger der Stadt hinschlachten
- Auch die Bevölkerung Italiens behandelte er nach pragmatischen Vorgaben und mit wenig Feingefühl: um seine Veteranen aus den Bürgerkriegen zu entlohnen, verteilte er einfach das Land neu, d.h. enteignete eine Unzahl von Grundbesitzern, um das Land den Soldaten zu vermachen.
Ersteres findet sich ebenfalls bei Alexander, Scipio, Cato, Caesar...Das ist in meinen AUgen ein Zeichen für die Grausamkeit der Kriegsführung.
Zweiteres ist eine sich wiederholende Unausweichlichkeit, die er ebenfalls von Sulla u.a. abgekupfert hatte.
Und sehen wir mal darauf, was er nicht tat: die Familie des Marc Anton bspw. überlebte. Dessen jüngerer Sohn stirbt erst, als er in den Händen der Iulia der Sittenpolitik des Augusts entgegenhandelte.
Das ist durchaus nicht so selbstverständlich, sieht man die schwere der Vorwürfe gegen Marc Anton, die Härte der Propaganda und die Vorgehensweise seiner Nachfolger (bspw. läßt Tiberius die gesamte Familie seines legendären Prätorianerpraefekten Seianus hinrichten).
Doch dieser mitleidlose Zug des Octavian dauerte auch noch in späteren Zeiten an, besonders, was seine Familie betrifft.
- Seine Tochter Julia hat er wie ein Stück Dreck behandelt: Schon als 2j Kind wurde sie mit Antyllus (Sohn des Marc Anton) verlobt, als 6j dem Gotenkönig Kotiso als Frau angeboten (der wollte sie allerdings nicht), später gezwungen zur Ehe mit Agrippa, dessen glückliche Ehe daher aufgelöst werden musste. (Springt man so mit Freunden um?) Weil sich Oct. über die Leichtlebigkeit seiner Tochter ärgerte, verbannte er sie auf die Insel Pandataria.
- Ähnliches tat er mit Julia d.J., seiner Enkelin, auch sie wurde auf die Insel Trimerus verbannt.
- Noch brutaler ging er mit Agrippa Postumus um, seinem Enkel: er ließ ihn via Geheimbefehl nach seinem eigenen Tod hinrichten!
Über den direkten Umgang mit seiner Familie wissen wir nichts. Wir kennen nur die politischen Äußerungen dieses Umganges. Der Umgang mit Livia bspw. ist alles andere als hart. Sie läßt sich für ihn scheiden, er adoptiert den Nachwuchs und posthum sogar sie.
War eine Sicherung seiner Reformen und seiner Bestrebungen ohne dynastische Tendenzen möglich? Hat nicht auch Caesar gnandenlos entschieden, posthum nicht Marc Anton, den zweifellos mächtigsten Mann nach ihm in Rom, sondern den unbedeutenden Octavian zu adoptieren und damit zu designieren?
War der Umgang mit weiblichen Kindern generell in den Adelsfamilien besser? Wurden sie nicht meist schon im zarten Kindesalter versprochen, regelrecht verschachert?
Seine Persönlichkeit war durch den Verstand gesteuert, er besaß keine Launen wie etwa Hadrian: Problemlos fügte er sich z.B. den Ratschlägen seines Arztes wegen seines Leberleidens und hielt strenge Diät. Problemlos fügte er sich auch den Ratschlägen des Agrippa in militärischen Angelegenheiten (z.B. bei Actium oder Naulochos). Er tolerierte Kritik im Senat oder umlaufende Schmähschriften in der Stadt, ließ die Kritiker nicht verfolgen. Seine Reden, selbst kleine Ansprachen, hielt er nach Manuskript und überließ nichts dem Zufall.
Das ist ebenfalls eine Mischung aus Interpretation und unkritischer Quellenbetrachtung. Man kann dies sicherlich so sehen, vollkommen unbelassen. Aber sie ist einseitig und berücksichtigt wie oben bereits nicht die Tendenzen der Quellen wie die allgemeine Quellenlage.
Gleichgültig, in welchem Lebensbereich: Er pflegte einen pragmatischen, rational durchorganisierten Lebensstil; seine Familie behandelte er rein nach pragmatischen Gesichtspunkten und ging dabei auch über Leichen; Kriegsgegner richtete er erbarmungslos hin; als "Friedenskaiser" dann, als er gefestigt im Sattel saß, ließ er dagegen Kritik zu, was zweifellos eine herrschaftsstabilisierende Wirkung hat.
Liest man sich die literarischen Quellen durch, kommt man wohl in der Tat zu diesem Schluß. Um einmal Bringmann zu zitieren: "Diese Sehweise ist gewiss ebensowenig verkehrt wie die Entlarvung der ausgegebenen Losung vin einer wiederhergetellten Republik, aber beides ist trotz relativer Berechtigung einseitig."
In meinen Augen ist vieles An Augustus uns einfach unverständlich. Kulturell wie Psychologisch gibt es eine Vielzahl an Faktoren, die wir nicht kennen oder nicht nachvollziehen können, mal ganz abgesehen, von dem Projekt, an dem dieser Mann arbeitete und den Lehren seiner Vorgänger.
Woher wollen wir wissen, dass dieser so beherrschte Mann nicht abends heimlich in sein Kopfkissen weinte über all die Opfer seiner Taten?
Wir wissen es nicht und das Bild eines kaiserfeindlichen Tacitus oder einer Klatschbase wie Suetonius ist sicher nicht alleinstehend geeignet, uns über den Charakter und den psychologischen Zustand Auskunft zu geben.