Naja, das sind Spekulationen - oder deuten die Quellen etwas in dieser Richtung an? Das Problem hätte nur bestanden, wenn Germanicus vorgehabt hätte, sei es als neuer restitutor res publicae, sei es als neuer princeps, seinen Onkel zu entmachten.
Bei Tacitus ist diese Implikation unübersehbar. Allein wie er schildert, dass die meuternden Soldaten ihm angeboten hätten, ihn zum Princeps zu erheben. Selbstverständlich hat der Held das abgelehnt, weil es ihm ja niiieee ganz überhaupt nicht darum ging, als Trimuphator nach Rom zurückzukehern. Er wollte doch bloß eine Schmach sühnen und römische Herrlichkeit wiederherstellen. Jedenfalls bei Tacitus. Aber allein dass Tacitus die beiden Charaktere in dieser Weise gegeneinander stellt, deutet darauf hin, dass hier ein Teil der Motive lag. Sicher wird er den Konflikt überzeichnet haben, aber dass er sich das alles aus den Fingern gesaugt hat, kann ich mir nicht vorstellen. Germanicus hatte ganz sicher auch persönliche Ambitionen. Und ganz sicher fand Tiberius diese Ambitionen gar nicht apart.
Aber wie gesagt, darum ging es mir eigentlich nicht.
Nun ja, wenn Tiberius doch die Rheingrenze gesichert hatte und Aliso wieder hergestellt hatte, dann war es doch nur folgerichtig, dass Germanicus den Germanen zeigte, wo der Hammer hängt und evtl. sogar den status quo ante herzustellen versuchte.
Das Ziel, den status ante quo wiederherzustellen, hatten sicher beide gemeinsam. Schon weil Augustus noch (nach-)existierte und seine Wünsche auch durch seinen Tod nicht sofort obsolet wurden oder revidiert werden konnten. Aber es bleibt die Frage nach den Methoden: Für mich ist in den Quellen zwischen den Zeilen erkennbar, dass Tiberius mit seinen Aktionen eine mittelfristige, vorsichtige Konsolidierung vorbereitet hat, während Germanicus eher die grobe Kelle schwingen wollte. Folgerichtig haben wegen der Art, wie Germanicus den Krieg geführt hat, treue römische Bundesgenossen die Seiten gewechselt (Inguiomer). Die Art, wie Germanicus diesen Krieg geführt hat, hat die Germanen gezwungen, Stellung zu beziehen. Neutral zu bleiben, war in der Phase nicht mehr möglich. So war es Germanicus, der auch die bis dahin Unentschlossenen in den Krieg und ins Lager der Feinde getrieben hat. Er hat die Lage eskaliert. Tiberius dagegen wollte sie beruhigen. Und diese Beruhigung hätte die Chance geboten, aus einer sicheren Position heraus Schritt für Schritt alles zurückzugewinnen.
Zum Zerwürfnis zwischen Tiberius und dem Sohn seines geliebten Bruders Drusus scheint also erst in der Folgezeit gekommen zu sein.
Natürlich. Die Zerwürfnisse resultierten ja auch nicht aus Meinungsverschiedenheiten über das Ziel sondern über die Methoden. Denke ich jedenfalls. Dass Germanicus in Rom "gefährlich beliebt" gewesen wäre, wenn er als Sieger aus Germanien zurückgekehrt wäre, kommt noch hinzu. Entscheidend ist aber ein anderer Punkt: Nachdem Germanicus mit seinen acht Legionen durch Germanien gezogen war wie ein Elefant durch den Porzellanladen, war für vorsichtige Annäherungen einfach kein Raum mehr. Hätten z.B. die Marser den Römern noch vertrauen können, nachdem sie mehrfach Ziel von Angriffen waren, die auf ihre physische Vernichtung ausgerichtet waren? Germanicus hat mit seiner Politik der ungezügelten Gewalt alles zunichte gemacht, was Tiberius mit seiner schrittweisen ruhigen Konsolidierung unmittelbar nach der Varusniederlage in die Wege leiten wollte. Von dem Punkt an blieben nur noch zwei Alternativen: den Gegner endgültig niederkämpfen oder sich zurückziehen und abwarten. Variante eins wäre unzumutbar teuer geworden. Auch das haben die Germanicus-Feldzüge gezeigt.
Nebenbei: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Germanicus überrascht war, dass sein Onkelchen mit seinen Aktionen nicht einverstanden war. Er hat sich mit dieser Art der Kriegführung bewusst in Opposition zu Tiberius gestellt. Sicher wollte er das nicht nutzen, um nach seiner Rückkehr den Thron zu erobern. Aber langfristige Ambitionen hatte er bestimmt.
MfG