Terranigma
Neues Mitglied
Der ursprüngliche Grund warum ich mich im Forum angemeldet ist, weil mir eine Frage seit Monaten Kopfschmerzen bereitet. Aktuell besuche ich diverse Veranstaltungen zu dem Thema Kirchengeschichte im Mittelalter und lese u.a. - nebst diverser Sekundärliteratur - die angenehm umstrittene Kriminalgeschichte des Christentums von K.H. Deschner weil ich doch feststellte, dass in der Sekundärliteratur unter dem Schleier der wissenschaftlichen Terminologie diverse Sachverhalte sehr eigenartig dargestellt werden. Das Vorwort des 1. Bandes - davon mal ab - kann ich eigentlich jedem nur empfehlen, denn so einen wortgewaltigen Mann habe ich selten gelesen. Aber egal. Er wirft darin eine Frage auf, die mich seitdem ich sie las nicht mehr in Ruhe lässt, und zwar folgende:
"Ist es legitim historischen Ereignissen, Sachverhalten, Taten und Personen ein ethisches Werturteil zu unterziehen?"
K.H. Deschner geht natürlich davon aus, dass dem so ist wenn er sagt, dass er subjektiv schreibt und auch wertet, weil der Mensch eben ein Subjekt ist und Objektivität nicht mehr als ein hehres Ziel, aber gewiss nicht praktikabel, da schon die Themenwahl, Gewichtung der Argumente, Auswertung der Quellen, etc. alles subjektive Prozesse sind, sodass das Resultat am Ende - der wiss. Artikel - unmöglich objektiv sein kann. Gleichermaßen sagt er, dass Unrecht eben Unrecht ist; ob ein Mensch gestern ode vor 100 oder 1.000 Jahren getötet wurde ändert nichts an der Tat. Nun, ich weiß soviel: die meisten Historiker würdem dem widersprechen, allerdings weiß ich aber auch, dass viele Historiker sich derartige fragen wohl auch kaum stellen sondern direkt mit dem Selbstbewusstsein des objektiv-wertfreien Wissenschaftlers zu Werke gehen.
In der Schule lernen wir bereits den Begriff der Zeitgebundenheit kennen. Die Zeit, in der Menschen leben, prägt ihr Denken und Handeln und auch moralische Werte sind, offenkundig, keine statischen Größen sondern werden in einer konkreten Gesellschaft erst erfunden. Demzufolge sei es illegitim Personen aus früheren Epochen ethisch zu beurteilen, da dies anachronistisch wäre; wir würden heutige Wertmaßsstäbe an Personen ansetzen welche diese Wert nicht geteilt haben. Die historische Wissenschaft würde dem heute wohl in weiten Teilen - allerdings nicht einstimmig - zustimmen.
Das wirft allerdings Probleme und Fragen auf, denn: die Behauptung ist, dass man sich kein ethisches Urteil erlauben darf unsere heutigen Maßstäbe nicht deckungsgleich mit den damaligen sind. Kurz: man darf das Handeln einer Person nicht ethisch beurteilen wenn diese Person andere ethische Wertvorstellungen hat als ich. Aber ist das praktikabel? Das ist ja eine durchaus weitgreifende Behauptung, die in der historischen Forschung lapidar als wahr angemommen wird. Konsequen durchdacht, wäre es somit illegitim wenn ich mir Fragen über die Menschenrechtssituation in Tibet/China stelle, da beide Kulturkreise sich von meinem unterscheiden und auch die dort vorherschenden Wertvorstellungen abweichen. Prinzipiell - so scheint mir - dürfte ich mir gar kein Werturteil erlauben, etwa auch nicht gegenüber Rassisten oder Homophoben, da diese ja gleichermaßen einen anderen Wertemaßstab haben als ich. Konsequent durchdacht, wäre es somit auch wissenschaftlich illegitim den Holocaust als Massenmord oder Verbrechen zu titulieren, den SS-Anhängern dürfte man keinen Mord unterstellen - sie alle haben schließlich aus ihrer Zeitgebundenheit heraus agiert und besaßen einen anderen Wertemaßstab als wir heute. Nun, das lässt sich doch aber über praktisch jeden Menschen sagen! Davon ab; bestimmt der Zeitgeist den Menschen oder bestimmt der Mensch den Zeitgeist? Waren Bürger in den Jahre 1933-45 antisemitisch geprägt weil der Zeitgeist so war, oder war der Zeitgeist vom Antisemitismus geprägt weil Antisemiten das Sagen hatten? Manchmal habe ich den Eindruck, wird vom Zeitgeist und der Zeitgebundenheit gesprochen als wenn das irgendein metaphysisches Konstrukt wäre.
Meine Frage ist, wie man damit umgehen soll: dass historische Wissenschaft nicht objektiv ist, halte ich für gegeben. Ich finde Nietzsche hat es ganz schön gesagt - wie der Mann sowieso recht viel Kluges zu sagen wusste:
"Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objektivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, daß es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut, man meint das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, daß das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Men schen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographieren?"
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Würdet ihr sagen, dass es also doch legitim ist ethische Werturteile auch über ältere Zeiten zu fällen oder überschattet die Objektivität und Zeitgebundenheit alles? Das klingt für mich allerdings, konsequent gedacht, - auch abseites der Geschichtsforschung - nach einem völligen Werterelativismus und quasi-Nihilismus. Meine Sorge dabei ist, dass Generationen nach uns in 100, 200 Jahren - wenn der 2. Weltkrieg und der Holocaust tatsächlich Geschichte ist - es als unwissenschaftlich abtun werden, wenn jemand den Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit tituliert weil dies ja ein Werturteil wäre, das einem Wissenschaftler nicht zusteht. Der Überfall auf Polen wird dann als Ausgreifen nach Osten bezeichnet, die Progrome gegen Juden, Marxisten, Homosexuelle und Co als Friedenssicherung im Inneren oder Machtkonsolidierung. Wenn man z.B. über das Mittelalter liest, liest man solche wohlfeinen Ausführen ja andauernd; das in den Angriffskriegen Karls d. Großen tatsächlich Menschen brutal ums Leben kamen und Blut floss, kann man leicht vergessen wenn man nur Sekundärliteratur liest und keine Quellen.
Mit der Überbetonung der Zeitgebundenheit in denen Handlungen zu sehen sind, scheint man mir arge Probleme aufzuwerfen; darf ich in 30 Jahren etwa keine ethische Beurteilung der Gesellschaft im heutigen Jahre 2012 machen weil das anachronistisch wäre? Mit welchem Recht verurteilen wir Verbrecher wenn diese aus ihrem Wertemaßstab der Überzeugung sind, dass eine Tat, die wir als Unrecht empfinden, für diese Verbrecher aber Recht ist?
Um zum Punkt zu kommen:
1) Wisst ihr gute Literatur (Aufsätze, Monographien, etc.) die sich mit dem Thema beschäftigen? Ich fand kaum etwas, dabei finde ich die Frage extrem wichtig - auch, da ich später Geschichte unterrichten werde, und ich Martin Luthers' Antisemitismus nicht mit der Zeitgebundenheit abspeisen möchte. Artikel fand ich kaum welche bislang; und selbst in denen wurde auf die margere Literatur hingewiesen.
2) Wie ist eure Meinung? Seht ihre eine Lösung aus dem Dilemma Radikaler Relativismus vs. Historiker Anachronismus?
"Ist es legitim historischen Ereignissen, Sachverhalten, Taten und Personen ein ethisches Werturteil zu unterziehen?"
K.H. Deschner geht natürlich davon aus, dass dem so ist wenn er sagt, dass er subjektiv schreibt und auch wertet, weil der Mensch eben ein Subjekt ist und Objektivität nicht mehr als ein hehres Ziel, aber gewiss nicht praktikabel, da schon die Themenwahl, Gewichtung der Argumente, Auswertung der Quellen, etc. alles subjektive Prozesse sind, sodass das Resultat am Ende - der wiss. Artikel - unmöglich objektiv sein kann. Gleichermaßen sagt er, dass Unrecht eben Unrecht ist; ob ein Mensch gestern ode vor 100 oder 1.000 Jahren getötet wurde ändert nichts an der Tat. Nun, ich weiß soviel: die meisten Historiker würdem dem widersprechen, allerdings weiß ich aber auch, dass viele Historiker sich derartige fragen wohl auch kaum stellen sondern direkt mit dem Selbstbewusstsein des objektiv-wertfreien Wissenschaftlers zu Werke gehen.
In der Schule lernen wir bereits den Begriff der Zeitgebundenheit kennen. Die Zeit, in der Menschen leben, prägt ihr Denken und Handeln und auch moralische Werte sind, offenkundig, keine statischen Größen sondern werden in einer konkreten Gesellschaft erst erfunden. Demzufolge sei es illegitim Personen aus früheren Epochen ethisch zu beurteilen, da dies anachronistisch wäre; wir würden heutige Wertmaßsstäbe an Personen ansetzen welche diese Wert nicht geteilt haben. Die historische Wissenschaft würde dem heute wohl in weiten Teilen - allerdings nicht einstimmig - zustimmen.
Das wirft allerdings Probleme und Fragen auf, denn: die Behauptung ist, dass man sich kein ethisches Urteil erlauben darf unsere heutigen Maßstäbe nicht deckungsgleich mit den damaligen sind. Kurz: man darf das Handeln einer Person nicht ethisch beurteilen wenn diese Person andere ethische Wertvorstellungen hat als ich. Aber ist das praktikabel? Das ist ja eine durchaus weitgreifende Behauptung, die in der historischen Forschung lapidar als wahr angemommen wird. Konsequen durchdacht, wäre es somit illegitim wenn ich mir Fragen über die Menschenrechtssituation in Tibet/China stelle, da beide Kulturkreise sich von meinem unterscheiden und auch die dort vorherschenden Wertvorstellungen abweichen. Prinzipiell - so scheint mir - dürfte ich mir gar kein Werturteil erlauben, etwa auch nicht gegenüber Rassisten oder Homophoben, da diese ja gleichermaßen einen anderen Wertemaßstab haben als ich. Konsequent durchdacht, wäre es somit auch wissenschaftlich illegitim den Holocaust als Massenmord oder Verbrechen zu titulieren, den SS-Anhängern dürfte man keinen Mord unterstellen - sie alle haben schließlich aus ihrer Zeitgebundenheit heraus agiert und besaßen einen anderen Wertemaßstab als wir heute. Nun, das lässt sich doch aber über praktisch jeden Menschen sagen! Davon ab; bestimmt der Zeitgeist den Menschen oder bestimmt der Mensch den Zeitgeist? Waren Bürger in den Jahre 1933-45 antisemitisch geprägt weil der Zeitgeist so war, oder war der Zeitgeist vom Antisemitismus geprägt weil Antisemiten das Sagen hatten? Manchmal habe ich den Eindruck, wird vom Zeitgeist und der Zeitgebundenheit gesprochen als wenn das irgendein metaphysisches Konstrukt wäre.
Meine Frage ist, wie man damit umgehen soll: dass historische Wissenschaft nicht objektiv ist, halte ich für gegeben. Ich finde Nietzsche hat es ganz schön gesagt - wie der Mann sowieso recht viel Kluges zu sagen wusste:
"Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objektivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, daß es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut, man meint das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, daß das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Men schen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographieren?"
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Würdet ihr sagen, dass es also doch legitim ist ethische Werturteile auch über ältere Zeiten zu fällen oder überschattet die Objektivität und Zeitgebundenheit alles? Das klingt für mich allerdings, konsequent gedacht, - auch abseites der Geschichtsforschung - nach einem völligen Werterelativismus und quasi-Nihilismus. Meine Sorge dabei ist, dass Generationen nach uns in 100, 200 Jahren - wenn der 2. Weltkrieg und der Holocaust tatsächlich Geschichte ist - es als unwissenschaftlich abtun werden, wenn jemand den Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit tituliert weil dies ja ein Werturteil wäre, das einem Wissenschaftler nicht zusteht. Der Überfall auf Polen wird dann als Ausgreifen nach Osten bezeichnet, die Progrome gegen Juden, Marxisten, Homosexuelle und Co als Friedenssicherung im Inneren oder Machtkonsolidierung. Wenn man z.B. über das Mittelalter liest, liest man solche wohlfeinen Ausführen ja andauernd; das in den Angriffskriegen Karls d. Großen tatsächlich Menschen brutal ums Leben kamen und Blut floss, kann man leicht vergessen wenn man nur Sekundärliteratur liest und keine Quellen.
Mit der Überbetonung der Zeitgebundenheit in denen Handlungen zu sehen sind, scheint man mir arge Probleme aufzuwerfen; darf ich in 30 Jahren etwa keine ethische Beurteilung der Gesellschaft im heutigen Jahre 2012 machen weil das anachronistisch wäre? Mit welchem Recht verurteilen wir Verbrecher wenn diese aus ihrem Wertemaßstab der Überzeugung sind, dass eine Tat, die wir als Unrecht empfinden, für diese Verbrecher aber Recht ist?
Um zum Punkt zu kommen:
1) Wisst ihr gute Literatur (Aufsätze, Monographien, etc.) die sich mit dem Thema beschäftigen? Ich fand kaum etwas, dabei finde ich die Frage extrem wichtig - auch, da ich später Geschichte unterrichten werde, und ich Martin Luthers' Antisemitismus nicht mit der Zeitgebundenheit abspeisen möchte. Artikel fand ich kaum welche bislang; und selbst in denen wurde auf die margere Literatur hingewiesen.
2) Wie ist eure Meinung? Seht ihre eine Lösung aus dem Dilemma Radikaler Relativismus vs. Historiker Anachronismus?