Hier gehen aber nun einige Sachen durcheinander: Kannibalismus aus der Not heraus und Kannibalismus aus Aberglauben. Um sinnvoll über das Thema zu diskutieren, wäre es vielleicht besser, dass wir die ganzen Unfälle, nach denen Kannibalismus zum Notnagel wurde, mal ad acta legen und uns auf den "medizinischen" Kannibalismus konzentrieren. Dieser ist - laut Artikel - belegt bei den Römern und dann erst wieder seit dem späten MA.
Das Konzept des Kannibalismus ist dem Mittelalter nicht fremd, aber es wirkt auf auch auf das Mittelalter befremdlich. So schreiben die Verfasser des Priesterkönigsbriefes, die wohl pro-staufisch einzuordnen sind:
"In tribus Indiis dominatur magnificentia nostra, ettransit terra nostra ab ulteriore India, in qua copus sancti Thomae apostoli requiescit, per desertum, et progreditur ad solis ortum et redit per declivum in Babilonem desertam iuxta turrim Babel. Septuaginta duae provinciae serviunt nobis, quarum paucae sunt christianorum, et unaqueque habet regem per se, qui omnes sunt nobis tributarii. [...] Habemus alias gentes, quae solummodod vescuntur carnibus tam hominum quam brutorum animalium et abortivorum, quae nunquam timent mori. Et cum ex his aliquis moritur, tam parentes eius quam extranei avidissime comedunt eum, dicentes: 'Sacratissimum est humanam carnem manducare'."
Übersetzung:
"Über drei Indien herrscht unsere Hoheit, und unser Land erstreckt sich vom jenseitigen Indien, in dem der Leib des heiligen Apostels Thomas ruht, über die Wüste hinweg bis zum Aufgang der Sonne und reicht im Westen bis zum verlassenen Babylon nahe dem Turmbau von Babel. 72 Provinzen, von denen nur wenige in christlicher Hand sind, sind uns zu Diensten und eine jede hatihren eigenen König; diese sind uns abgabepflichtig. [...] Wir herrschen über andere Volksstämme, die sich nur von Fleisch ernähren, sowohl Menschen- als Tierfleisch und besonders Frühgeburten, und diese fürchten nicht, sterben zu müssen. Und wenn einer von ihnen stirbt, verspeisen ihn Verwandte und Freunde und behaupten: 'Menschenfleisch verzehren ist unser heiligstes Tun.'"
Ich möchte auch behaupten, dass nicht das Mittelalter, sondern der Übergang zur Neuzeit der eigentliche Beginn solch medizinisch-kannibalischer Praktiken ist. Warum? Weil die Menschen, um entsprechende Heilvorstellungen zu entwickeln grundlegende Ideen der menschlichen Anatomie benötigten. Und hier steht nun mal Leonardo da Vinci ganz wiet vorne. Ich sehe diese Form des Kannibalismus als typisches Renaissance-Phänomen und dieses war sicher nicht weit verbreitet (also nicht geographisch sondern gesellschaftlich gesehen).
Die den Kannibalismus verurteilende Literatur ist doch eher abundant. Da kann man Defoe nennen, den wohl jeder gelesen hat und andere mehr. Ein Bsp. aus Hispanoamerika von Fray Pedro de Aguado, Historia de Santa Marta y Nuevo Reino de Granada (2. Hälfte 16. Jhdt.). Er beschreibt ein Ereignis im Norden Kolumbiens:
"Ivanse cada dia muriendo de los españoles que los yndios flecharon en el acometimiento que a Machin de Oñate hizieron, y el dia que levantaron este vltimo çerco murieron once españoles juntos en bien trabajosa muerte, y estos y todos los demas que murian eran enterrados en el lugar donde tenian los caballos, porque no fuesen halladas por los yndios las sepulturas y desenterrados los muertos para comer, porque esta malvada gente es tan canibal, o a lo menos lo era en este tiempo, que por comer de vn español, cabaran todo vn campo donde presumieran que estava enterrado, solo por auerles dado en la ymaginaçion que comiendo ellos carne despañoles auian de ser valientes y animosos guerreros."
Übersetzung:
"Von den Spaniern starben jeden Tag einige und die Indianer trafen mit dem Rohr, welches sie dem Machin de Oñate gemacht hatten. Und an dem Tag, an dem sie die letzte Belagerung aufhoben, starben elf Spanier einen mühevollen Tod und diese und alle anderen, die starben wurden an dem Ort beerdigt, wo sie die Pferde [stehen] hatten, damit die Gräber nicht von den Indios gefunden und die Toten zur Verspeisung ausgegraben würden. Es war zu dieser Zeit, als diese, um einen Spanier zu verspeisen, ein ganzes Feld umgegraben hätten, auf dem sie sein Grab vermuteten, und dies nur, weil sie die Vorstellung hatten, dass sie durch das Essen spanischen Fleisches kühne und mutige Krieger werden müssten."
Das wichtige an dieser Quelle ist mir nicht die Haltung der Indios zum Kannibalismus, sondern die Haltung der Europäer.