2.1.2. Versionen der kurdische Geschichte
Bei der folgenden Beschreibung der Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts handelt es sich um keine umfassende Darstellung der kurdischen und schon gar nicht der türkischen Geschichte. 3 Vielmehr wurden bestimmte Entwicklungen herausgegriffen, die für das Verständnis des Konflikts von Bedeutung sind.
Die kurdischen Ursprünge bleiben bis heute in der wissenschaftlichen Literatur umstritten.4 Historisch nachgewiesen ist lediglich, dass Kurdinnen und Kurden schon dort lebten, bevor die Araber von der arabischen Halbinsel aus im 7. Jahrhundert n. Chr. und die ersten Turkstämme aus Mittelasien ab dem 8. Jahrhundert in Richtung der kurdischen Siedlungsgebiete vorrückten.
Hier sollen nicht Fragen der archäologischen oder linguistischen Forschung diskutiert werden, sondern ein Blick auf die unterschiedlichen - politisch motivierten - Konstruktionen der Herkunft und Geschichte der Kurden geworfen werden. Die neuere Nationalismusforschung geht davon aus, dass es sich bei Nationen weder um natürliche noch historisch vorgegebene Größen handelt, sondern um das Ergebnis sozialer Konstruktionen. Als solche unterliegen sie der Veränderung. „Völker“ und „Nationen“ sind durch Assimilation und Vermischung entstanden und wieder verschwunden. Die Wurzeln einer Nation in Urzeiten zu suchen, entspringt dem Wunsch, die Nation zu etwas Unvergänglichem zu machen. Nicht endgültig geklärt ist, woher nationales Bewusstsein (oder die nationale Idee) seine Erneuerungskraft und seine Mobilisierungsfähigkeit bezieht. Aber gesichert ist die Erkenntnis, dass alle Nationen ihre Geschichte im Nachhinein zur Begründung und Legitimation konstruieren, so dass die Nation als das Ergebnis eines „natürlichen“ organisch gewachsenen Prozesses erscheint.
Auch die kurdische Literatur ist voll solcher Konstruktionen. Wenn nicht gar auf eine „jahrtausendelange Kolonialisierung“ verwiesen wird, wird beispielsweise die Eroberung von Ninive durch die Meder im Jahre 612 v. Chr. als Ursprung der Kurden angesehen. Die kurdische Literatur erzählt Mythen 5, die eindeutig als solche zu erkennen sind. Es finden sich aber auch zahlreiche Stellen, in denen der Übergang zwischen Mythos und historischer Wahrheit fließend ist. Ähnliche Behauptungen wie die in dem folgendem Zitat sind oft zu finden: „Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass die Kurden eine sehr alte Geschichte haben und über eine eigenständige, jahrtausendealte Kultur verfügen.“ (Arikan 1994, S. 7) 6
Behrendt hat sich in einer umfangreichen Arbeit mit der Konstruktion und den Mythen des kurdischen Nationalismus auseinander gesetzt. Er kritisiert, dass die Ergebnisse der heutigen Nationalismusforschung „bisher offenbar spurlos an der ‘Kurdologie’ vorübergegangen sind.“ (Behrendt 1993, S. 14) Die kurdische Geschichte werde aus einer nationalisierenden Perspektive konstruiert. 7 Andere Kategorien als Zugehörigkeit zur kurdischen Nation wie Glaube, traditionelle Loyalitäten, Vasallität oder Stammeszugehörigkeit würden als Störfaktoren für die Entwicklung des nationalen Bewusstseins behandelt. „Viel zu häufig werden die Projektionen, die Fehlinformationen und das politisch motivierte Wunschdenken von AutorInnen, die dem kurdischen Nationalismus nahe stehen, fraglos als wissenschaftlich verwertbare Fakten akzeptiert.“ (Behrendt 1993, S. 13) Behrendt will nationalistische Mythenbildung und Geschichtsumschreibungen durch Konfrontation mit beweisbaren Fakten als das offen legen, was sie seien, nämlich bestimmte Weisen, die Welt im Kopf neu zu konstituieren. Kurdinnen und Kurden hätten die Ideologie des Nationalismus sowie die Methode, eine Nation zu konstruieren, aus Europa übernommen. „Man stößt bei der Beschäftigung mit Nationenbildungen in Europa überall auf Schöpfungs-, Abstammungs und Ansippungsmythen, die die Anfänge der Nation in undenkliche Zeiten zurückverlegen; ... auf Gründungs- und Revolutionsmythen, die einen Umsturz rechtfertigen und eine neue Gesellschaftsordnung rechtfertigen sollen.“ (Berding 1996, S. 8) Der deutsche Nationalismus etwa hat merkwürdigste Mythen wie die Abstammung von den Germanen und die These vom „deutschen Urvolk“, von dem ein so akzeptierter Philosoph wie Fichte spricht, hervorgebracht. Der arabische, türkische und der persische Nationalismus wiederum, mit denen der kurdische Nationalismus konkurriert, sind als historisch-soziale Konstrukte stets bemüht, bedeutende historische Ereignisse sowie kulturelle Errungenschaft des Nahen und Mittleren Ostens für sich zu verbuchen.
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Fußnoten:
3 Zur kurdischen Geschichte siehe: Bruinessen (1989) gilt als die Kapazität der europäischen kurdologischen Forschung. Er bereiste bereits Ende der 60er Jahre die kurdischen Gebiete und untersuchte die traditionellen Machtverhältnisse auf lokaler Ebene, dabei interessierte ihn insbesondere das ambivalente Verhältnis zwischen kurdischen Nationalismus und verwandtschaftlichen und religiösen - „primordialen“ - Loyalitäten. Behrendt (1993) untersucht ausführlich die „Vorgeschichte, Entstehungsbedingungen und ersten Manifestationen“ des kurdischen Nationalismus bis 1925. S.a. Franz 1986, Olson 1989, Yaln-Heckmann 1991 u. 1997. Weitere Darstellungen: Al-Dahoodi 1987, Arikan 1994, Chaliand 1984, Ibrahim 1983, Vanly 1988
4 Nach Behrendt (1993, S. 56) kann die kurdische Geschichte erst ab dem 7. Jahrhundert mit der arabischen Geschichtsschreibung zuverlässig dokumentiert werden. Alle Versuche eine frühere historische Existenz der Kurden von den Namen der Völker, die die Region bewohnten - wie „Guti“ oder „Karduchen“ - abzuleiten, müssen mangels eindeutiger historischer Nachweise Spekulationen bleiben.
5 Al-Dahoodi (1987) gibt einen der Ursprungsmythen wieder: „Eines Tages berief König Salomon fünfhundert junge Dschinn zu sich und befahl ihnen, der untergehenden Sonne nachzufliegen und erst dann zurückzukehren, wenn sie im fernen Europa fünfhundert der schönsten Jungfrauen gefunden hätten. Lange suchten und verglichen die Dschinn, ehe sie fünfhundert anmutige Mädchen, sanft wie der Vollmond im Mai, gefunden hatten. Als sie jedoch in den Königspalast zurückkehrten, war Salomon gestorben. Weil aber den Dschinn die Jungfrauen gefielen, heirateten sie die Mädchen und hatten mit ihnen viele schöne Kinder. Und diese hatten wieder Kinder ... und so entstand das Volk der Kurden.“
6 Weitere Beispiele: „Ohne Zweifel gehört das kurdische Volk zu den ältesten Völkern des nahen Ostens.“ (Khalil 1990, S. 13) „Die Kurden sind eines der ältesten Kulturvölker der Erde.“ (Hennerbichler 1988, S. 1) „Die Ursprünge der Kurden reichen sehr weit zurück. ... Bereits zwischen dem 3. und 2. Jahrtausende v. Chr. treten die Vorfahren der Kurden ... in Erscheinung.“ (Arikan 1994, S. 7) Oft wird Kurdistan in Anspielung auf die archäologischen Funde in dieser Region als „Wiege der Menschheit“ bezeichnet.
7 Der Literatur über kurdische Geschichte liegt vielfach implizit die These zugrunde, man könne von einer kurdischen Nationalität im 7. oder 16. Jahrhundert in gleicher Weise sprechen wie in der heutigen Zeit. Behrendt stellt dem die These gegenüber, dass es in der kurdischen Gesellschaft zu dieser Zeit keine „Wahrnehmung der sozialen Welt in nationalen Kategorien“ gegeben habe. Die Wurzeln des kurdischen Nationalismus lägen nicht in den Urzeiten kurdischer Geschichte - etwa bei den Medern, um eine heiß umstrittene These zu erwähnen - , „sondern an der Wende zu unserem Jahrhundert“ (Behrendt 1993, S. 15).