Kernfamilie, jüdisch-christliches Konzept oder älter?

Wenn es um Polygamie geht, dann wäre ja das Judentum raus aus dem Kernfamiliendingens.

Das kann man so sehen, sehe ich aber nicht so:
Kommen wir noch zum Aspekt der Vielweiberei: in manchen Kulturen (vorhellenistisches Judentum, Islam, Mormonen, mit spezieller Erlaubnis Luthers: Kurfürst Friedrich der Weise u.a. Phillip von Hessen) ist es Männern ja erlaubt (unter gewissen Umständen) mehr als eine Frau zu haben. Dennoch würde ich auch hier von Kernfamilien sprechen, eben dass der Mann ggf. mehr als eine Kernfamilie hat.

Die Frage, die man sich auch immer stellen muss, ist, ob in Gesellschaften, in denen Vielweiberei toleriert wird, diese auch normal ist, oder nicht eher ein Elitendingen. Nur weil David und Salomon (so sie denn historisch waren) viele Frauen hatten, hat noch lange nicht jeder Bauer und Handwerker auch diese Möglichkeit.

Mit Erstaunen habe ich gerade gelesen, dass erst im 11. Jahrhundert Polygamie im Judentum verboten wurde.
Wusste ich auch nicht.

Polygamie und Monogamie müssten doch eigentlich verschiedene wirtschaftliche Auswirkungen haben. Polygamie einzelner kann ja nur funktionieren wenn man verglichen mit anderen reich ist
Im Islam ist es so, dass ein Mann jeder seiner Frauen einen eigenen Haushalt finanzieren können muss, die Haushalte müssen gleichwertig sein, keine der Frauen soll benachteiligt werden. (Dem zu widersprechen scheint die Existenz des Serails mit Konkubinen, der in unserer europäischen Vorstellung traditionell eine große Rolle spielt.) Der Harem (< harām, verboten) ist eigentlich nur der Privatbereich des Hauses, der der Familie vorbehalten ist.
 
Was wären denn dann Beispiele für nicht Kernfamiliensysteme?
Beispiele für Gesellschaften oder Gemeinschaften, die in diese Richtung gehen, sind imho das antike Sparta und viele israelische Kibbuzim.

In Sparta lebten die männlichen Spartiaten etwa ab dem Alter von 7 Jahren getrennt von ihrer Familie in der sog. Agoge, wo sie kollektiv erzogen wurden.


In vielen Kibbuzim wurden die Kinder teilweise schon ab der Geburt in sog. Kinderhäusern erzogen:

"In den Kibbuzim war die patriarchalische Kleinfamilie aufgelöst und die Kindererziehung ebenfalls zentralisiert. Die Kinder wurden je nach Kibbuz schon von Geburt an in einem eigenen Kinderhaus mit Gleichaltrigen erzogen, die Geschwister lebten also jeweils in einer anderen Kindergruppe."

Dabei wurden Geschwister normalerweise in unterschiedlichen Kinderhäusern oder Gruppen erzogen. Die Kinder hatten allerdings nach wie vor Kontakt zu ihren Eltern.

In jüngerer Zeit ähneln die Kinderhäuser in den meisten Fällen wohl eher unseren Kindergärten, wie ja auch sonst in den meisten Kibbuzim nicht mehr strikt der sozialistische und kollektivistische Ansatz mit Verbot von Privateigentum etc. verfolgt wird.

Auffällig ist imho, dass es sich in beiden Fällen gerade nicht um Naturvölker, sondern im Gegenteil um hochorganisierte Gesellschaften bzw. Gemeinschaften handelte, in denen die kollektive Kindererziehung wie auch die gesamte Gemeinschaft stark ideologisch bzw. weltanschaulich geprägt war. Insofern sprechen diese Beispiele aus meiner Sicht eher dagegen, das kollektive Kindererziehung früher die Norm war.
 
Die Frage, die man sich auch immer stellen muss, ist, ob in Gesellschaften, in denen Vielweiberei toleriert wird, diese auch normal ist, oder nicht eher ein Elitendingen. Nur weil David und Salomon (so sie denn historisch waren) viele Frauen hatten, hat noch lange nicht jeder Bauer und Handwerker auch diese Möglichkeit.
Naja Vielweiberrei deutet ja darauf hin dass die Frauen nicht in der Lage sind, selber ihren Unterhalt zu bestreiten oder als Besitz betrachtet werden. Wenn in der Bibel steht, man muss die Witwe seines Bruders heiraten, dann geht es um Versorgung und Statussicherung der Bruderfamilie. Das klingt dann nach Gesellschaftsregeln.
 
In Sparta lebten die männlichen Spartiaten etwa ab dem Alter von 7 Jahren getrennt von ihrer Familie in der sog. Agoge, wo sie kollektiv erzogen wurden.
Wobei man sich vor Augen führen sollte, dass die Spartiaten eher sowas wie ein Kriegsadel sind. Den Laden geschmissen und die Mehrheit der Gesellschaft haben die Heloten gebildet, nur redet da keiner drüber. Also ein hochelitäres und ideologisches Konstrukt.
Es gibt vermutlich wenige Gesellschaften die den natürlichen Instinkt sein Kind selber aufzuziehen entgegenarbeiten. Die Frage ist wer sonst noch so da ist, um mitzumachen. Und da ist wohl unsere derzeitige moderne Version von Eltern, die sehr auf sich alleine gestellt sind, relativ neu.
 
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Im Islam ist es so, dass ein Mann jeder seiner Frauen einen eigenen Haushalt finanzieren können muss, die Haushalte müssen gleichwertig sein, keine der Frauen soll benachteiligt werden. (Dem zu widersprechen scheint die Existenz des Serails mit Konkubinen, der in unserer europäischen Vorstellung traditionell eine große Rolle spielt.) Der Harem (< harām, verboten) ist eigentlich nur der Privatbereich des Hauses, der der Familie vorbehalten ist.
Konkubinen sind ja keine Ehefrauen sondern Sklavinnen. Wobei auch der große Harem eines Herrschers keine Art Privatbordell war. Da lebten neben Frauen und Konkubinen noch viele sonstige weibliche Verwandte, die man mit versorgen musste und eine ganze Menge Bedienstete, die den Haushalt am Laufen hielten.
 
Kernfamilie mit einem Elternpaar und ihren Nachkommen mag global vorkommen, aber es gibt und gab natürlich viele unterschiedliche Familienformen, und im 19. und 20. Jahrhundert gab es allein in bäuerlichen, im bütgerlichen im Handwerker- oder im Arbeitermilieu sehr unterschiedliche Familienformen, Großfamilie, Kleinfamilie, man hat mit Dienstboten, Lehrlingen, Gesellen, Schlafburschen zahlreiche Personen, die im gleichen Haushalt leben nach zeitgenössischer Vorstellung zur "Familie" gehören.

Kinder und Kegel-da sind uneheliche Kinder mit gemeint. In manchen Gewerben war Adoption häufiger, bzw. es kam vor, dass Cousins aufgenommen wurden, wenn wenn ein männlicher Stammhalter fehlte.

In Scharfrichterfamilien kam das häufiger vor, damit das Amt in der Familie blieb.

Bauernfamilien das waren in vielen Regionen bis weit ins 20. Jahrhundert Großfamilien mit 3 Generationen in einem Haushalt.
Dazu gehörte auch Gesinde, in Handwerkerfamilien war es bis ins 20. Jahrhundert üblich, dass Meister und Meisterin, ein Geselle, evtl. noch ein Lehrling in einem Haushalt lebten. Eigene Kinder wiederum gingen häufig sehr früh schon "in Stellung", als Dienstboten. In, Handwerkerfamilien lebten vielfach Menschen in einem Haushalt, die nicht blutsverwandt miteinander waren. Kinderarbeit war im 18. 19. Jahrhundert alltäglich, so dass aus der Kernfamilie vielfach eigene Kinder sehr früh in Dienst gingen und in einem fremden Haushalt wohnten. und die Familie aus Meister, Meisterin und Gesellen bestand. Die Konfirmaton war üblicherweise der Beginn des Eintritts in das Arbeitsleben.

In Arbeiterfamilien im 19. 20. Jahrhundert lebten neben der Kernfamilie im Haushalt meist noch Untermieter und "Schlafburschen"


Ich würde bei der Ausgangsfrage mich nicht fragen, ob die Kernfamilie ein christlich-jüdisches Konzept ist oder älter eher fragen, ob sie ein Konzept der bürgerlichen Familie der Industriellen Revolution ist oder doch älter.
 
Ich würde bei der Ausgangsfrage mich nicht fragen, ob die Kernfamilie ein christlich-jüdisches Konzept ist oder älter eher fragen, ob sie ein Konzept der bürgerlichen Familie der Industriellen Revolution ist oder doch älter.
Ich denke, man muss hier wirklich erst mal die Fragestellung bzw. Hypothese konkretisieren.

Imho ist das Ausgangsposting da nicht ganz eindeutig. Es ist einmal von der Kernfamilie die Rede und wenn wir das im Sinne von Kleinfamilie, also Vater, Mutter und Kinder unter einem Dach, Großeltern und andere Verwandte irgendwo anders definieren, dann ist das als Normalfall sicher relativ neu und auch nicht universell.

Nur stellte der OP als Alternative dazu eben nicht die Großfamilie dar, sondern eine kollektive Kinderbetreuung.

Das habe ich in dem Sinne verstanden, dass es generell keine Familienstrukturen im engeren Sinne mehr gibt und die Eltern nicht mehr die wichtigsten Bezugspersonen für die Kinder sind, sondern dass die Kinder eben von der Gemeinschaft oder eventuell darauf spezialisierten Personen betreut, versorgt und erzogen werden.

Eine nur zeitweilige Kinderbetreuung durch Personen außerhalb der Kernfamilie, z. B. wenn die Väter bei der Jagd und die Mütter beim Sammeln sind, ist dafür imho nicht ausreichend, denn wir haben in unserer Gesellschaft ja auch zeitweilige kollektive Kinderbetreuung durch Tagesmütter, Kitas, Kindergärten, Schulen etc., ohne dass wir deshalb das Konzept der Familie oder auch nur der Kleinfamilie dadurch aufgelöst sehen.

Insofern sollte Piet seine Bekannten eventuell erst mal fragen, was genau die unter einer Kernfamilie verstehen und wie die Gesellschaft ihrer Meinung nach vor der Erfindung der Kernfamilie genauer ausgesehen haben soll. Dann könnte man darüber diskutieren.
 
Hallo Piet,
ich bin neu hier, möchte aber etwas zu Deiner Frage beisteuern, nämlich grundsätzliche Überlegungen, die Friedrich Engels in seinem Werk "Über den Ursprung der Familie" (im Anschluss an Lewis Henry Morgan) angestellt hat:
Die Männer hatten ein Interesse zu wissen, dass die Kinder bzw. welche Kinder von ihnen stammten, weil sie ihre Gene und später Eigentum an sie vererben wollten. Die Frauen hatten ein Interesse, nicht allen Männern des Stammes dauernd zur Verfügung stehen zu müssen, wie es im anfänglichen Stadium der "Vielweiberei" bzw. Polygamie vermutlich der Fall gewesen war. Aus diesen Interessen sowie aus einer für beide Partner vorteilhaften Arbeitsteilung ergibt sich eine Präferenz für die "Kernfamilie" und Tendenz zur Monogamie. (Letztere Überlegung stammt von mir).
Im Judaismus und vor allem in der christlichen Tradition wurde die Einehe dann institutionalisiert, mit Werten aufgeladen und mit verbindlichen Normen / Regeln stabilisiert (z.B. mit Strafen für Ehebrecherinnen). Diese Entwicklung wurde gefördert durch den Mythos der (geschlechtlichen) Liebe zwischen Mann und Frau als zentrales Motiv der dauernden Partnerschaft und Einehe. Die antiken Ehen und Kernfamilien, besonders die im alten Griechenland, hatten aber mit "Liebe" nicht viel zu tun.
Die mit Bedeutungen und Wertsetzungen aufgeladene "Liebe" und die davon geprägte Konzeption der "bürgerlichen Ehe" sind zweifellos kulturelle Errungenschaften, die vor allem in Europa zur Entfaltung kamen und von dort aus (durch Missionierung, Kolonialismus und Imperialismus) weltweit verbreitet wurden. Natürlich kann man diese "Errungenschaft" kritisieren und dekonstruieren, wie es heute oftmals und gerne gemacht wird ...
 
Hallo Leopold,

Was ist aber wenn man über die weibliche Linie vererbt, oder es Gemeinschaftseigentum einer Gruppe gibt? Dann funktieren diese Gedanken gar nicht mehr richtig.
Das ist doch unser Problem, dass wir schwer über derzeitige Strukturen hinwegdenken können und dann immer wieder diese auf andere Zeiten projezieren, Das Beispiel, dass in der Steinzeit, die Weibchen in einr Höhle rumsitzen und warten bis Alphamännnchen mit Fleisch kommt, ist ja so ein Paradebeispiel. Menschen aus dieser Zeit hätten sehr über unsere Vorstellungen gelacht. Wie Patriachat funktioniert ist schon klar.
Die Frage ist, was gibt oder gab es ausserhalb davon?
 
Hallo gruengruen,

ja, das stimmt. Das hat Engels auch versucht zu bedenken. Im Stadium der "Barbarei" – durchaus nicht negativ verstanden – habe eine matrilineare Ordnung geherrscht. Alles sei viel freier gewesen, so eine Art Vorstufe des Kommunismus, wie er ihn für erstrebenswert hielt.
Stand ca. 1880, mit viel Spekulationen. Jedenfalls kann man allgemein sagen, dass die menschliche Sexualität, Triebe und Natur in sehr verschiedene kulturelle Formen gegossen werden kann (bildhaft gesprochen), nicht zuletzt auch durch Religionen, die diesen Formen erst einen besonderen Sinn und Wert geben.
In der anthropologischen / ethnologischen Forschung gibt es ja zahllose Verwandtschaftssysteme jeweils mit verschiedenen Tabus, wen man heiraten darf oder muss und wen nicht ...
 
Das ist aber nicht wirklich eine christliche Neuerung. Bereits den Römern galt die "Univira", eine Frau, die als Witwe nicht erneut heiratete (also zeitlebens nur einen Mann hatte), als Ideal.
Umgekehrt lassen auch die meisten christlichen Kirchen Scheidungen und Wiederverheiratungen zu.
 
Das ist aber nicht wirklich eine christliche Neuerung.
Finde ich auch plausibler. Vielleicht hat die Kirche versucht zu retten was zu retten war, als die Versorgung durch die Sippe oder andere Gruppen wieder überlebenswichtig war. In Rom haben sich staatliche Institutionen auf diese Weise die Loyalität ihrer Bürger gesichert. Diese Witwen waren ja wieder auf ihre Grossfamilien angewiesen. Als Einzelner konnte man so auch auf die Gemeinschaft in Kulten, Gemeinden oder auf staatliche Almosen hoffen.
Ich sehe das als eine Entwicklung zu stärkerer Individualisierung, wie sie Soziologen(z.B. Ulrich Beck) auch im historischen Zusammenhang postulieren: Herauslösung aus traditionellen Versorgungszusammenhängen und als Folge individuelle Institionenabhängigkeit.
 
Auffällig ist imho, dass es sich in beiden Fällen gerade nicht um Naturvölker, sondern im Gegenteil um hochorganisierte Gesellschaften bzw. Gemeinschaften handelte, in denen die kollektive Kindererziehung wie auch die gesamte Gemeinschaft stark ideologisch bzw. weltanschaulich geprägt war. Insofern sprechen diese Beispiele aus meiner Sicht eher dagegen, das kollektive Kindererziehung früher die Norm war.
Hallo,

Ich bitte um Entschuldigung sollte folgendes als Off-Topic gelten.

Ich finde gerade dieses Thema höchst interessant, von einem politischen Standpunkt her.

Es wird suggeriert, dass gemeinsame Kindererziehung Sache Naturvölker wäre, dabei denke ich, dass es gerade hochorganisierte Gesellschaften sein sollten die sich der politischen Kraft dessen bewusst wurden.

Dies meine ich weniger im Sinne von

'die gesamte Gemeinschaft erzieht die Kinder und diese wachsen mit einem möglichst breiten Spektrum an Wissen auf'

sondern vielmehr als

'Der Staat/Die Mächte/etc. verstehen es, die Erziehung der jüngeren Generationen zu 'verstaatlichen' um diese zu dogmatisieren/die Zukunft des status quo zu gewährleisten'.

Ich meine, gerade Sparta war ein Paradebeispiel dafur, zudem auch das Klassensystem beibehalten werden musste.

Wie wurden denn helenistische Kinder erzogen?


Gruß und besten Dank für die außerordentlich Interessanten Threads!
 
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