Konfession, Antisemitismus und NS

Streicher hat zeitlebens mit dem Protestantismus oder mit Luther nichts am Hut gehabt. Als er 1946 in Nürnberg vor Gericht stand, benutzte er allerdings Luther für seine durchsichtigen Ausflüchte:
Das stimmt so nicht – Zitat:

Das NSDAP-Blatt Der Stürmer vereinnahmte ab 1923 oft ausgewählte isolierte Zitate aus dem NT und von christlichen Autoren, darunter Luther, für seine antisemitische Hetze. 1928 stellte das Blatt Luthers späte Judentexte als „viel zu wenig bekannt“ dar. Durch persönliche Erlebnisse mit Juden habe er nach dem Kampf gegen Rom die Aufgabe erkannt, die Deutschen von der „jüdischen Pest“ zu befreien.[122] Ähnlich behauptete Mathilde Ludendorff vom Tannenbergbund 1928 in einer Artikelserie, Luther habe nach 1523 die „jüdischen Geheimziele“ studiert und sie 1543 enthüllt, um eine „zweite Reformation“ gegen die Juden zu beginnen. Diese hätte den Deutschen 400 Jahre Leid ersparen können, doch die evangelische Kirche habe Luthers Texte „dem Volke unterschlagen“.[123] Der Verlag von Ludendorffs Volkswarte gab Luthers Judenschriften heraus. Daraufhin gab auch die Innere Mission Dresden 1931 alle Judenschriften Luthers in Auszügen heraus. Dabei ließ Editor Georg Buchwald alle Passagen Luthers zur Deutung des AT aus der Schrift Von den Juden und ihren Lügen weg. Diese Sonderausgaben wurden bis 1933 öfter aufgelegt.

Auch interessant: https://www.spiegel.de/video/julius-streicher-video-99012463.html
 
@hatl ich komme mit der Formulierung "protestantisch unterfüttert" in diesem Kontext nicht klar
1883 wird Adolf Stoecker zum 2. Hofprediger ernannt. Der künftige Kaiser ist 24 Jahre alt und der Kirchgang, das rituelle Treten vor die Hofpredigt, regelmäßig.
In diesem Jahr verkündet der Stoecker öffentlich „Wenn wir gesunden wollen, wenn wir unsere Volkstümlichkeit festhalten wollen, müssen wir den giftigen Tropfen der Juden aus unserem Blut loswerden.“ 1) Zeigen sich die Eltern des jungen Mannes, der 5 Jahre später Kaiser sein wird, noch angewidert von den Hetzreden des hohen Amts, so wird der Spross ganz anderer Gesinnung sein.
Stoecker wird weiter predigen und der Willy zuhören.
Jetzt wär es eine interessante Frage wie das dann weiterging. 1890 endet die Hofpredigerei des Stoecker. Der Mann hatte vorher bereits eine antisemitische Sammlungsbewegung in Form einer politischen Partei geschaffen und war damit Pionier im Kaiserreich. Und alsbald schießen radikalere „antisemitische Gruppierungen“ „wie giftige Pilze aus dem Boden“. S.187

Ich weiß nicht wie das unmittelbar nach Stoecker weiterging.


1) Zitiert von Volker Ullrich – Die Nervöse Großmacht, S. 386/387.
 
-Luther argumentiert theologisch, nicht biologistisch
Dazu ein kleine Korrektur – und zwar mit einem Zitat von dir (Fettschreibung durch mich):

Nicht dass sie Christus ans Kreuz gebracht hatten, nicht dass sie ihn nicht als Messias anerkannten, nicht dass sie theologisch im Fehler verharrten war das Vergehen der Juden, sondern ihr Blut, ihre Zugehörigkeit zu einer parasitären, minderwertigen aber höchst gefährlichen Rasse. Kein Jude, kein Baby oder Greis konnte dem entgehen, sie waren wie Ratten oder Läuse zu vernichten.

Das mit dem Blut ist eindeutig „biologistisch“ und damit rassistisch– die Nazis haben später genauso argumentiert. Wer jetzt noch meint, Antisemitismus sei etwas anderes als Antijudaismus Luthers, dem ist nicht mehr zu helfen.
 
Das mit dem Blut ist eindeutig „biologistisch“ und damit rassistisch– die Nazis haben später genauso argumentiert. Wer jetzt noch meint, Antisemitismus sei etwas anderes als Antijudaismus Luthers, dem ist nicht mehr zu helfen.
Du übersiehst, dass Scorpio in dem zitierten Beitrag den lutherischen Antijudaismus und den modernen Rassenantisemitsmus eines Chamberlain etc. einander gegenüberstellt. Das Zitat ist auf den modernen Rassenantisemitismus bezogen, nicht auf Luther.
 
Inwiefern war was Stoecker da von sich gab aber dezidiert "protestantisch" unterfüttert? Auf welchen protestantischen Glaubenssatz, welches protestantischen Theologen berief er sich da?

Oder leitet sich deiner Meinung nach die "protestantische Unterfütterung", bereits dadurch her, dass ein Würdenträger der lutherischen Landeskirche diesen verhetzenden Stuss von sich gab?
In letzterem Fall wäre das allerdings ziemlich beliebig, dann könnte man, dass mehr oder weniger jeder Berufsgruppe oder Glaubensrichtung, sozialen Gruppe oder war auch immer ohne weiteres zuschreiben.

Der Mann hatte vorher bereits eine antisemitische Sammlungsbewegung in Form einer politischen Partei geschaffen und war damit Pionier im Kaiserreich.
Wäre allerdings hinzuzufügen, dass der politisch organisierte Antisemitismus im Kaiserreich ein Nieschenphänomen blieb.
Die "Antisemiten" erreichten bei den Reichtsagswahlen vor dem 1. Weltkrieg keine 4% Zustimmung, ihr bestes Ergebis war 3,9% bei der Wahl 1907, 1912 verloren sie einen Prozentpunkt und kamen nur noch auf 2,9%.
Seinen territorialen Schwerpunkt hatte der politisch organisierte Antisemitismus vor allem in Nordhessen und im Siegerland.
In den östlichen Territorien, im nördlichen Niedersachsen und in Schleswig-Holstein, wo die Nazis später einen beträchtlichen Teil ihrer Hochburgen hatten, konnten sie kaum Zustimmung mobilisieren.

Stoecker hatte mit seinen antisemitischen Positionen wohl auch dezidiert Einfluss auf das "Tivoli-Programm" der Deutschkonservativen Partei, aber auch die kam 1912 gerade noch auf 8,5% und hatten seit der Reichstagswahl von 1893 (13,5%) bei jeder folgenden Wahl Stimmverluste hinnehmen müssen.

Ich bin mir bei den Freikonservativen im Kaiserreich nicht sicher, ob die jemals ein dezidiert antisemitisches Programm hatten, mir ist spontan jedenfalls keins geläufig, auch die Nationalliberalen, wird man nicht als programmatisch antisemitisch eingestellt bezeichnen können, auch wenn es dort sicherlich Persönlichkeiten gab, die in die Richtung gingen.
Vorbehaltlich der Frage wie es mit den Freikonservativen stand und diese ausklammernd, kamen die programmatisch antisemitisch eingestellten und in Teilen Durch Stoecker beeinflussten Parteien der "Antisemiten" und "Deutschkonservativen", bei den Reichstagswahlen 1912 auf gerade einmal 10,4%, Tendenz eher rückläufig. Die "Antisemiten" hatten den Höchstwert ihrer Zustimmung 1907, hier wird man keinen endgültigen Trend durch die Wahl von 1912 fassen können, die Deutschkonservativen hatten hingegen seit 1893 bei jeder folgenden Wahl leichte Verluste hinnehmen müssen.
Insofern, auch wenn es im Kaiserreich einigen Antisemitismus, das bekannte Phänomen der Ritualmordbeschuldigung etc. gab, waren Parteien die dezidiert antisemitische Ansichten programmatisch ansprachen eher ein Nieschenphänomen mit regionalen Schwerpunkten.
Die "Antisemiten", die das zu ihrem Kernanliegen machten, blieben eine zu vernachlässigende Splittergruppe ohne reale politische Bedeutung und bei den Deutschkonservativen, die sich auf Stoecker einließen wird man hinterfragen müssen, ob sie ihre Zustimmungswerte wegen des Antisemitismus oder trotz des Antisemitismus einfuhren.

Das angesprochene von Stoecker beeinflusste Tivoli-Programm stammt von 1892.
Bei der Reichstagswahl 1893 konnte die Deutschkonservativen ihr Wahlergebnis von 12,4% bei der vorangegangenen Wahl auf 13,5% um 1,1% verbessern. Ob das nun auf den Einfluss Stoeckers und des Tivoli-Programms zurückzuführen ist, sei dahingestellt, möglicherweise handelte es sich auch nur um die Rückwanderung von Wechselwählern, denn die Deutschkonservativen hatten bei der Reichstagswahl von 1890 fast 3 Prozentpunkte verloren.
Langfristig half das Tivoli-Programm den Deutschkonservativen jedenfalls nicht, sie büßten wie gesagt, bei jeder auf 1893 folgenden Reichstagswahl bis 1912 leicht an Zustimmung ein.

Auch bei den Ritualmordbeschuldigungen im Kaiserreich ist auffällig, dass diese in den 1890er Jahren noch einmal einen Schwerpunkt erlebten, danach aber kaum noch auftraten.
Es hat 1900 wohl noch einen Fall in Oderberg gegeben und 1910 einen in Neuss:

Ritualmordlegende – Wikipedia

Danach allerdings scheint das aufgehört zu haben.

Wenn ich dazu einee Einschätzung abgeben sollte, würde ich meinen, dass der Antisemitismus im Kaiserreich in den 1890er Jahren eine Konjunktur erlebte, seit der Jehrhundertwende allerdings spührbar auf dem Rückzug war.

Schaut man sich die fortgesetzten Stimmverluste der Deutschkonservativen und den Zuwachs der "Antisemiten" bis 1907, allerdings eben auf sehr bescheidenem Niveau an, würde ich sagen, dass sich daraus ableiten lässt, dass sich in der ersten Dekade ds 20. Jahrhunderts der Antisemitismus auf politischer Ebene erstmals tatsächlich von den althergebrachten antijüdischen Sentiments ablöste, allerdings mit sehr bscheidenem politischem Erfolg.

Ein wirklich starker, fassbarer politischer Antisemitismus, im Sinne eines Massenphänomens, entsteht, auch wenn die vraltete Wahlkreiseinteilung im Kaiserreich dafür sorgte, dass die Deutschkonservativen etwas überproportional vertreten waren, eigentlich erst in der Weimarer Republik, da sehe ich zunächst mal keine durchgängige Kontinuität zu Stoecker oder anderen antisemitischen Predigern der 1880er und 1890er Jahre, im besonderen, wenn wir hier über Massenphänomene reden.
Der Antisemitismus nach dem 1. Weltkrieg allerdings speiste sich ja sehr stark aus Phänomenen, die mit dem 1. Weltkrieg selbst "Dolchstoßlegende", der Vorstellung die Juden hätten sich vor dem Kriegsdienst gedrückt, der Infaltion von 1923 und ihren Folgen und dem fortgesetzten überproportionalen Erfolg der Bildungsaufsteiger jüdischer Herkunft (auch wenn der im Kaiserreich bereits eingestezt hatte) zu tun hatten und auf die Stoecker und Andere noch nicht abstellen konnten.
 
Zuletzt bearbeitet:
dass ein Würdenträger der lutherischen Landeskirche diesen verhetzenden Stuss von sich gab?

Entschuldigung. Das ist der Hofprediger und nicht irgendein Würdenträger. Wäre man davon ausgegangen es sei Stuss was er erzählte, so hätte er wahrscheinlich an dieser höchsten weltlichen Stelle nicht gepredigt.

Wäre allerdings hinzuzufügen, dass der politisch organisierte Antisemitismus im Kaiserreich ein Nieschenphänomen blieb.

Das mag man vielleicht so sehen, doch diese Nische (hätte ich übrigens auch mit 'ie' geschrieben ;)) ist von der dünnen Oberschicht, den Trägern von Macht Einfluss, hervorragend stark besiedelt.


Ich erlaube mir mal einen Smalltalk.

Es ja sehr schwierig einzelne Einflüsse zu gewichten. Ich stell mir das z.B. als ein dichtes Wurzelwerk vor welches ineinander verwoben ist. Und während man sich damit beschäftigt das Bild dazu zu malen wird auch mal eine und andere Wurzeln dicker oder dünner. Beim @Dion ist die Wurzel Luther jedenfalls besonders dick im Bild, meine wabert in der Dicke so umeinander ist aber mittlerweile schlanker geworden. Und Deine Wurzel ist eine recht scheue Kreatur, die sich im Dickicht zu verbergen sucht.

Es haben sich die Nazis zwar nicht des Luthers bedient, doch haben die Lutherischen die Nazis bedient und an die Macht gebracht.
Und da sind wir wieder am Anfang und drehen neue Kreise in unserem Kreissaal (@Traklson, ich hoffe die Rechtschreibung ist einwandfrei :rolleyes:)
Vielleicht kommt dabei noch ein Kind heraus.

Grüße hatl
 
Entschuldigung. Das ist der Hofprediger und nicht irgendein Würdenträger.
Inwiefern ist das jetzt relevant, ob Stoecker Hofprediger oder sonstiger Würdenträger war? Ich würde meinen, dass das nur dann von Relevanz wäre, wenn sich Kaiser und Hofgesellschaft später als besondere Brutstätte des Antisemitismus erwiesen hätte.
Nun wird man bei KWII sicherlich einiges an antisemitischen Episoden und Ausfällen finden finden, aber dass er irgendwann mal versucht hätte eine dezidiert antisemitische Politik auf die Schiene zu setzen, wäre mir nicht bekannt.
Ansonsten würde ich meinen, dass das Amt des Hofpredigers gerade keine besonders gute Basis ist um eine dezidiert protestantsiche Unterfütterung zu begründen, denn in Hofämter wurde berufen, wer einen guten Draht zur Monarchie oder einflussreiche Förderer hatte, nicht unbedingt, wer die Lehrmeinung einer Institution besonders gut vertrat.


Ansonsten, auch wenn er als Hofpredigeer oder Ex-Hofprediger andernorts agitierte, zeigt die geringe Resonanz der Parteien mit dezidiert antisemitischem Programm oder entsprechenden Versatzstücken doch recht gut, dass er das mit einem sehr begrenzten Erfolg tat und auch andere, die ihm dabei vorangingen oder nacheiferten allenfalls regionale Erfolge vorweisen konnten.

Das mag man vielleicht so sehen, doch diese Nische (hätte ich übrigens auch mit 'ie' geschrieben ;)) ist von der dünnen Oberschicht, den Trägern von Macht Einfluss, hervorragend stark besiedelt.
Im Kaiserreich mag das noch der Fall gewesen sein, im besonderen, wenn wir zur Gruppe derer, die dem nahestanden die Deutschkonservativen als Vertretung der wirtschaftlich zunehmend abgehängten, politisch/gesellschaftlich aber überproportional mächtigen ostelbischen Großagrarier, vor allem in Ostpreußen und Pommern hinzuzählen.

Nur die politische Macht dieser Schichten, war in dem Augenblick passé, als das Kaiserreich mit seinen Schutzzäunen (Preußische Sperrminorität im Bundesrat, Preußisches Zensuswahlrecht, veraltete Wahlkreiseinteilung die den Konservativen überproportional half) zusammenbrach.

Das die Hochkonservativen Gutsbesitzer politisch abwirtschafteten, zeigen schon die Stimmverluste der Deutschkonservativen bei den Reichstagswahlen seit den 1890er Jahren.

Ökonomisch waren die meisten von ihnen bereits um die Jahrhundertwende herum in Schwierigkeiten, weil durch die Eisenbahn und die Dampfschiffahrt günstiges Getreide aus den USA und Russland als Konkurrent auf dem deutschen Markt auftrat und das ostelbische Getreide zunehmend verdrängte (weniger effektive Anbaumethoden als in den USA, höhere Lohnkosten als in Russland).
Das blieb natürlich auch sozial nicht ohne folgen, immerhin konnten die zunehmend überschuldeten Monostrukturen der ostelbischen Landwirtschaft, die Probeleme hatten die eigenen Betriebe zu organisieren, der Bevölkerung in zunehmend geringerem Maß Arbeitsplätze und ein vernünftiges Auskommen, geschweigedenn eine dem übrigen Reich entsprechende Entwicklung der Löhne und Lebeensbedingungen bieten.
Das hatte ökonomische und demographische Folgen, in Form zunehmender Binnenwanderung aus dem Osten in die industriellen Ballungsgebiete.
Das musste auf die Dauer auch soziale Folgen haben und das Ansehen der althergebrachten Eliten beschädigen.

Gerade wenn man über Kontinuitäten in diesem Sinne reden möchte, könnte man hier einwenden, dass der Übergang von den alten wilhelminischen Eliten durch die Wählerschaft im Osten zu den Nazis, gerade keine Form kontinuierlicher Entwicklung war, sondern ein radikaler Bruch, immerhin setzten die Nazis sich hier gerade gegen die alten Elitenparteien der Gutsbesitzer durch, die in diesen Provinzen vormals das Sagen hatten.


Es ja sehr schwierig einzelne Einflüsse zu gewichten. Ich stell mir das z.B. als ein dichtes Wurzelwerk vor welches ineinander verwoben ist. Und während man sich damit beschäftigt das Bild dazu zu malen wird auch mal eine und andere Wurzeln dicker oder dünner. Beim @Dion ist die Wurzel Luther jedenfalls besonders dick im Bild, meine wabert in der Dicke so umeinander ist aber mittlerweile schlanker geworden. Und Deine Wurzel ist eine recht scheue Kreatur, die sich im Dickicht zu verbergen sucht.

Die Frage ist die Wurzel von was?

Ich habe mich in meinen Einlassungen ja speziell zu Luther und den Nazis geäußert. Und da sehe ich nach wie vor keine Wurzel.
Was nicht bedeutet, dass ich keine Spielarten des Antisemitismus sehe, die in irgendeiner Form auf Luther wurzeln, denn gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert (und das zeigt sich an den Ritualmordbeschuldigungen in den 1890er Jahren), gab es ja durchaus Spielarten Judenfeindlichkeit, in denen sich rassistische und religiöse Kriterien miteinander verquickten, so dass sich letztendlich kaum scharf benennen lässt, ob diese Vorstellungen nun mehr antijudaistisch oder mehr antisemitisch waren.
Dort wird man im Geegensatz zum Antisemitismus der Nazis nicht sagen können, dass es sich um ausdifferenzierte Modelle handelte, die sich klar auf pseudobiologische Kriterien festgelegt hatten.
Und dann müsste man sich darüber hinaus auch mit den Folgen von Luthers Wirken außerhalb dessen beschäftigen, was man später als Deutschland verstand, womit ich im Besonderen des Erbe Luthers in den Ostsee-Provinzen des Zarenreichs und bei der deutsch-baltischen Oberschicht in Lettland und Estland meine.
Gerade vor dem Hintergrund der zunehmeend judenfeindlichen Stimmung im Zarenreich im ausgehenden 19. und beginnden 20. Jahrhundert wäre hier interessant zu wissen, in welchem Verhältnis eigentlich der lutheerische Protestantismus in Russland dazu stand, zumal es ja auch in St. Petersburg einige protestantische Funktionseliten gab, die sich sehr stark aus dem Baltikum rekrutierten.
Weiß ich zugegebenermaßen zu wenig drüber, würde ich aber als Möglichkeit auf dem Zettel behalten wollen.

Was ideologische Verbindungen von Luther zu Hitler angeht, sage ich nach wie vor, dass ich da nichts wirklich greifbares sehe.

Es haben sich die Nazis zwar nicht des Luthers bedient, doch haben die Lutherischen die Nazis bedient und an die Macht gebracht.

Dann sind wir allerdings an einem Punkt, an dem es beliebig wird und man genau so gut formulieren könnte, dass die Bauern und Handwerker und überhaupt das Kleinbürgertum Hitler an die Macht gebracht hätte, was wenn man sich die Annalyse der Wählerschaft Hitlers, die Falter geliefert hat, anschaut, wohl sachlich richtig ist.

Deswegen käme aber niemand auf die Idee zu behaupten, dass es eine wie auch immer geartete Korrelation zwischen landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder kleinbürgerlichem Millieu und nationalsozialistischer Gesinnung gäbe, obwohl man hier sicherlich argumentieren könnte, dass die Rasseideologie der Nazis gerade Bauern und Viehzüchter möglicherweise deswegen angesprochen haben könnte, weil sie das in ihrer beeruflichen Lebenswirklichkeit irgendwo verorten konnten und ihnen eine Übertragung des Modells auf den Menschen daher (irrtümlicher Weise) besonders plausibel erscheinen konnte.

Trotzdem kommt (mit Recht, weil das reduktionistisch wäre) kein Mensch darauf das zu postulieren.

Das bestimmte Gruppen anfälliger für den Nationalsozialismus waren als andere ist ja unbestritten. Aber daraus leitet sich nicht her, dass sie dies aus einer bestimmten religiösen Perspektive oder Gruppenzugehörigkeit waren, zumal sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen ja überschneiden konnte.
Wenn man in diesem Sinne argumentieren wollte, käme man zu keiner sinnvollen Lösung.

Beachtet man, dass sowohl Protestanten, als auch Bauern überproportional Hitler wählten, müsste man jetzt die Frage stellen, hat der preußische Osten Hitler gewählt, weil die Leute dort Protestanten waren oder weil sie Bauern waren?
Dagegen dass es an der beruflichen Orientierung lag, spricht, dass die katholischen Bauern in Bayern und im Rheinland in der Regel nicht Hitleer gewählt haben, dagegen dass es am Protestantismus lag, spricht dass die lutherischen Arbeitermillieus in Berlin und im Ruhrgebiet in der Regel nicht Hitler wählten.

Nimmt man nicht nur selektiv eine Gruppe heraus, die überproportional die Nazis wählte, sondern alle Gruppen, die das nachweislich taten, wird es mit widerspruchsfreien Erklärungen schwierig.
Zieht man die Kriterien zusammen und konstatiet, dass Hitler vor allem gewählt wurde, wo die Strukturen ländlich geprägt und die Bevölkerung lutherisch war, fällt es mit jedem hinzukommenden Merkmal (und von regionalen Besonderheiten ahben wir noch nicht gesprochen) schwerer bestimmende Einzelfaktoren zu benennen und diese dann noch um 400 Jahre zurückdatieren zu wollen, geht offen gesagt über alles hinaus, was ich persönlich nachvollziehbar finde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dazu ein kleine Korrektur – und zwar mit einem Zitat von dir (Fettschreibung durch mich):



Das mit dem Blut ist eindeutig „biologistisch“ und damit rassistisch– die Nazis haben später genauso argumentiert. Wer jetzt noch meint, Antisemitismus sei etwas anderes als Antijudaismus Luthers, dem ist nicht mehr zu helfen.

Man könnte auch sagen, wer behauptet, mittelalterlicher Antijudaismus und Endlösungs-Antisemitismus sei das Gleiche, nicht nur das Gleiche-nein Dasselbe, und der Endlösungs-Antisemitismus geht unmittelbar zurück auf Luthers Pamphlet von 1543

dem ist nicht mehr zu helfen.

Gut, man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass einzig und allein die Feindseligkeit gegen Juden entscheidend ist und wenn diese Feindseligkeit bis zu Pogromen und Forderungen nach Vertreibung, Entrechtung, Enteignung von Juden, bis zur Vernichtung von Synagogen und heiligen Schriften- dann zählt allein das Endergebnis: Tot ist tot, und eine brennende Synagoge ist eine brennende Synagoge-

Antijudaismus, Antisemitismus, Anti-Zionismus- letztlich gleicht sich das Resultat: Feindseligkeit gegen Juden, Hass auf Juden.

Es sind aber die Quellen, aus denen sich die Feindseligkeit, der Hass speist, durchaus unterschiedliche, es gibt unterschiedliche "Lösungs- und Endlösungs-Vorschläge, und auch in der Intensität und Radikalität dieser Vorschläge gibt es erhebliche Unterschiede.

Wie bereits mehrfach gesagt: Luthers Äußerungen über Juden sind äußerst widersprüchlich, vieles von dem, was er vor 1543 geschrieben hat, ist fast das Gegenteil von dem, zu was er sich in seinem Pamphlet von 1543 versteigt.

Diese Forderungen (Zerstörung von Synagogen, Vernichtung der heiligen Schriften, Zwangsarbeit und Entrechtung sind eigentlich so absurd und barbarisch, dass sie weder politisch, ökonomisch, nicht ethisch-moralisch und nicht mal pyrotechnisch umzusetzen waren zu Luthers Lebzeiten.

Ein Mensch kann sich ändern, entscheidend ist sein Bekenntnis, ein Jude, der sich taufen lässt, ist nicht länger ein Jude. Der Antijudaismus basiert auf religiös-theologischen Motiven. Luther fürchtet, jüdische Proselyten verführen Christen zum Abfall. Sie verstoßen gegen das kanonische Zinsverbot, sie anerkennen Jesus nicht als Messias, obwohl doch Jesus, Maria und die Apostel Juden waren, und obwohl doch jetzt Martin Luther Superstar das Evangelium predigt und nicht mehr die Leute des Papstes, bei denen auch Luther nicht konvertiert wäre- treten sie nicht zum Christentum über, obwohl Luther doch so freundlich zu ihnen war. Sie verleugnen Christus, sind verstockt. Das ist der Vorwurf. Diesem Vorwurf aber kann ein Jude ganz leicht entgehen, indem er sich taufen lässt. Das beseitigt zwar nicht die Kleinigkeit, dass der Jude nicht wie die Lilien auf dem Felde leben kann, dass er einen Beruf ausüben muss, dass er irgend wo bleiben (dürfen) muss. Ein Jude, der konvertiert ist aber kein Jude mehr.

Diese ganze Argumentationsschiene war aber doch völlig unbedeutend in Hitlers Vorstellungswelt. Dass die Juden Jesus an Kreuz gebracht, dass sie ihn nicht als Messias anerkannten, dass sie nicht konvertieren wollen, ist doch völlig belanglos in Hitlers Vorstellungswelt. Der sah sich nicht als Löser eines theologisch-sozialen Problems.
Die Lösung der Judenfrage war eine der Schädlingsbekämpfung. Das war kein theologisches, auch kein soziales Problem, sondern ein epidemiologisches. Die Juden waren auszumerzen wie Ratten, Bakterien und Flöhe, und Hitler sah sich nicht als ein neuer Martin Luther, sondern eher als eine Art Robert Koch, der die Menschheit von einem Virus, einem Bazillus, einem Krebsgeschwür befreit.
 
Inwiefern ist das jetzt relevant, ob Stoecker Hofprediger oder sonstiger Würdenträger war? Ich würde meinen, dass das nur dann von Relevanz wäre, wenn sich Kaiser und Hofgesellschaft später als besondere Brutstätte des Antisemitismus erwiesen hätte.
Doch genau das war der Fall. Siehe John C. G. Röhl - Kaiser, Hof und Staat- Kapitel 8 (Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus)
 
Diese Forderungen (Zerstörung von Synagogen, Vernichtung der heiligen Schriften, Zwangsarbeit und Entrechtung sind eigentlich so absurd und barbarisch, dass sie weder politisch, ökonomisch, nicht ethisch-moralisch und nicht mal pyrotechnisch umzusetzen waren zu Luthers Lebzeiten.
Nein, diese Forderungen waren nicht absurd – die vielen Pogrome im Laufe der Jahrhunderte legen ein Zeugnis davon ab, was alles schon damals möglich war.

Christen haben fast 2000 Jahre gegen Juden gewütet, bis sich jemand fand, der Luthers Worte ernst nahm und sie in die Tat umsetzte, was dieser gesagt. Weil es möglich war, hat man noch mehr getan, aber die Saat dafür hat Luther gesät. Und weil er es war, haben viele mitgemacht.

Luther mokiert sich in seinem Machwerk „Von Juden und ihren Lügen“ an mehreren Stellen, dass Juden sich etwas auf ihr Blut einbilden, weil sie von Abraham abstammen, und deswegen auf Christen und Heiden von oben herabsehen. Und dann zitiert er Jesus, der laut Johannes 8:42-44 zu den Juden sagt, sie lügen, weil sie Nachkommen Satans seien, der ein Mörder und Lügner von Anfang sei – wäre Gott ihr Vater, würden sie ihm, der ja von Gott sei, auch glauben.

Da kann man schon sehen, dass auch Luther sie wegen ihres Blutes verdammt, so nach dem Motto; Sie können gar nicht anders als lügen, denn sie stammen ja vom Satan ab. Mehr noch, er berief sich auf Jesus selbst - wie auch die Kirche sich vor ihm und nach ihm darauf berufen hatte.

Und das mit dem Blut, also der Abstammung, ist Rassismus oder Antisemitismus wie ihn auch Nazis praktizierten. Die Nazis haben nicht alles vom Luther übernommen, aber das, was sie von ihm übernommen haben, war schlimm genug.
 
Luther hat auch „wider des vom Teufel gestifteten Papsttum“, wenn ich den Titel der entsprechenden Schrift mal so praraphrasieren darf, gewettert. Deswegen ist aber niemand auf die Idee gekommen, die gesamte römische Kurie über die Klinge springen zu lassen.
 
Doch genau das war der Fall. Siehe John C. G. Röhl - Kaiser, Hof und Staat- Kapitel 8 (Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus)

Unter den ostelbischen Großgrundbesitzern war Antisemitismus tatsächlich weit verbreitet, etliche konservative Politiker haben vor dem Weltkrieg mit Antisemitismus Wahlkampf gemacht, und sie haben damit teilweise beachtliche Wahlerfolge verbuchen können.

Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Elard von Oldenburg-Janischau und Max Liebermann von Sonnenberg, der vor dem Krieg beachtliche Wahlerfolge in Nordhessen verbuchen konnte und der ein antisemitisches Blatt "Die Deutsche Volkszeitung herausgab, dem er von 1885 bis 1887 als Chefredakteur vorstand. Liebermann von Sonnenberg zog 1890 in den Reichstag ein, und er konnte seinen Sitz bis 1911 behaupten. In seinem Reichstagswahlkreis Kassel 3, der aus den Landkreisen Ziegenhain, Homberg/Efze und Melsungen bestand (Im Prinzip der heutige Schwalm-Eder Kreis in Nordhessen) konnte Liebermann von Sonnenberg stets satte Wahlergebnisse einfahren.

Liebermann von Sonnenberg erregte auch durch eine Petition Aufsehen. Er forderte darin u. a.:

--Einschränkung der Einwanderung von Juden aus Österreich-Ungarn und dem Zarenreich
- Ausschluss von Juden von allen "obrigkeitlichen Stellungen" insbesondere vom Richteramt
- Verbot der Beschäftigung von Juden an Volksschulen und enge Begrenzung der Einstellung von Juden an übrigen Schulen
- Wiedereinführung einer amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung.

Liebermanns Petition wurde von mehr als 250.000 Menschen unterzeichnet.

Im Zusammenhang mit ostelbischen Großagrariern muss vor allem auch der Bund der Landwirte erwähnt werden, eine Lobby-Organisation, die mit einer recht aggressiven antisemitischen Agitation versuchte Stimmung gegen Juden zu machen.

Adolf Stoecker propagierte eine christliche Theokratie und einen Ständestaat, seine Vorstellungen richteten sich gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution, gegen Liberalismus und Sozialismus. Stoeckers Christlich Soziale Partei verband traditionelle konservative Vorstellungen mit eher neuartigen Ideen. Man könnte durchaus sagen, dass Antisemitismus sozusagen der Kitt war, der die teils widersprüchlichen Forderungen miteinander verband.

Stoeckers Programm lässt sich zusammenfassen:

-Ablehnung der Aufklärung, Ablehnung der Französischen Revolution samt ihren Errungenschaften.
-Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, Ablehnung des freien und geheimen Wahlrechts.
-Ablehnung der Trennung von Kirche und Staat
-Forderung eines christlichen Ständestaates
-Sozialfürsorge als paternalistische Maßnahme der Unternehmer und der kaiserlichen Regierung
- Positive Einstellung gegenüber Chauvinismus, Militarismus und einer imperialistischen Politik.

Neu war an Stoeckers Bewegung, dass es sich um eine

-populistische Bewegung handelte, die auf das neue Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe einging und diese auch außerparlamentarisch unterstützte.

- Auffallend war auch die stark antikapitalistische Phraseologie

-Antisemitismus als Kitt, der die recht diffusen Vorstellungen verband:
Großkapital und sozialistische Linke, Liberalismus und Sozialismus- sie alle waren "verjudet". "Juden und Judenfreunde" sie standen für alle Spielarten des Sozialismus, Linksliberalismus, Materialismus und Atheismus
- Sie waren Spielarten, Ausdrucksformen und Hervorbringung eines "Internationalen Judentums", das verschwörerisch die Unterwanderung und Vernichtung der deutschen Gesellschaft betreibe.

Stoecker war auch Erstunterzeichner der sogenannten "Antisemitismus-Petition", in der Juden als "kollektive Gefahr für das deutsche Volkstum" bezeichnet wurden und Forderungen erhoben wurden wie sie auch Liebermann von Sonnenberg erhoben hatte:
-Aussonderung der Juden aus Beamten- und Richterstellen
-Stopp der Einwanderung aus der Donaumonarchie und dem Zarenreich
-Aussonderung der Juden als Lehrer
- Wiedereinführung einer amtlichen Judenstatistik.

Stoecker vertrat diese Vorstellungen auch als Vertreter der Christlich Sozialen 1882 auf einem Antisemiten-Kongress in Dresden.

Stoeckers politische Erfolge hielten sich in Grenzen. Er galt vielen als Hetzer und Radau-Antisemit, der sich zwar gelegentlich von Rassen-Antisemitismus distanzierte, der aber auch noch die wüstesten Antisemiten wie Hermann Ahlwardt verteidigte und sich mit ihnen solidarisierte.

Stoecker kann man durchaus als Vater oder einen der Väter des politischen Antisemitismus bezeichnen-er selbst sah sich jedenfalls so, und er war einer der Ersten, der den Antisemitismus zum Credo einer populistischen Partei erhob. Stoecker griff einerseits antijudaistische Vorurteile auf und erweiterte sie durch rassistische, völkische und ökonomische Vorwürfe. Stoecker brüstete sich damit, dass er als Erster die "Judenfrage" aus dem literarischen Gebiet in die Volksversammlungen und damit in die politische Praxis eingeführt habe. Der im Wilhelminischen Deutschland verbreitete Antisemitismus war Stoecker bei weitem nicht radikal genug.
Stoecker hat Antisemitismus gefördert, er hat ihn mit rassistischen, völkischen und ökonomischen Vorurteilen erweitert, und er hat ihn durch seine Stellung als Hofprediger anschlussfähig und hoffähig gemacht, und er hat ihn innerhalb des Protestantismus befördert.

Die Völkische Rechte und die Nazis haben ihn als Bruder im Geiste und bedeutenden Vorläufer Hitlers geehrt. Der Historiker Walter Frank schrieb eine Biographie Stoeckers, und er brachte es damit bis zum Stab Rudolf Heß.

Nach dem Krieg gab es bereits früh Versuche der britischen Militärregierung, die nach einem "berüchtigten Judenhetzer" benannten Straßen in Westfalen umzubenennen. Das wurde von CDU und FDP verhindert, und der CDU-Politiker Ernst Bach verstieg sich zu der These, Stoecker sei ein "potentieller Retter vor dem Nationalsozialismus" gewesen. Aus dem Evangelischen Namenskalender, in den Stoecker 1969 aufgenommen wurde, entfernte man ihn erst 2013/14 auf Antrag der Evangelischen Synode in Mitteldeutschland.


Wenn man sich mit Stoeckers Ideenwelten auseinandersetzt, fällt auf, dass er zwar Themen des traditionellen Antijudaismus aufgreift, dass aber im Großen und Ganzen gerade nicht theologisch argumentiert.
Es ist nicht die Verleugnung Christi
-nicht die Weigerung zu konvertieren
nicht die Angst, dass Juden Christen zum Abfall verführen (könnten),

die ihn vor allem zu seinem Judenhass motiviert, sondern die Ablehnung der Errungenschaften der Aufklärung und der Französischen Revolution
Die Vorstellung, dass Juden Fremdkörper im deutschen Volk und diesem feindselig gegenüber eingestellt sind.
Dass sie den Sozialismus, Liberalismus, Materialismus und Atheismus erfunden haben
- Dass es so etwas wie eine Verschwörung von Juden und Judenfreunden gibt, ein "Internationales (Finanz)-Judentum
- Auffallend ist bei Stoecker jedenfalls seine stark anti-kapitalistische Agitation.

Auffallend auch, dass Stoecker sich gerade nicht auf Luther bezieht, obwohl doch ein Bezug auf Luthers Pamphlet von 1543 naheliegend gewesen wäre.


Luthers Juden-Pamphlet wurde zwar , vor allem nach 1933 immer wieder nachgedruckt. Es war aber vor 1933 überhaupt nur in Gesammelten Werken Luthers enthalten. @Shinigamis Skepsis, wie weit man "Wider die Juden und ihre Lügen" bei einem Leserkreis bekannt voraussetzen kann- ist nicht unberechtigt. Es galten zumindest seine früheren Schriften als theologisch weitaus bedeutender.

In dem schlimmsten Propagandafilm der Nazis: In Jud Süß will ein alter Kriegskamerad Herzog Karl Alexander wider auf den rechten Weg führen und erbittet eine Audienz. In diesem Gespräch argumentiert er mit einem (angeblichen?) Lutherzitat: "Wisse denn du Christ, dass du keinen schlimmeren Feind hast, als einen rechten Juden". Der Landschaftskonsulent Sturm, dessen Tochter "Jud Süß" geschändet hat, beruft sich auf ein "altes Reichsgesetz", (sozusagen die Proto-Nürnberger Gesetze"), das "Rassenschande" mit dem Tod bedroht.

Es gab aber auch eine andere Luther-Rezeption. Heinrich Heine etwa sieht in Deutschland ein Wintermärchen" Luther als bedeutenden Reformator, der ein "großes Halt" gesprochen. Es gab Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert Autoren, die gegen den rassischen Antisemitismus argumentierten und dabei sich gerade auf Luther und seine Forderungen von 1523 bezogen, in denen Luther die Missionsversuche kritisiert, in denen er darauf verweist, dass Jesus, Maria und die Apostel Juden waren, dass Ritualmordgeschichten "Narrenwerk" seien, und die Politik vieler Landesfürsten Juden gar keine andere Wahl lasse, als den "Wucher". Vielen Juden galt Luther zu Beginn der Reformation als Hoffnungsträger. (Diese Hoffnungen waren freilich unbegründet. Wer Luther und seine Äußerungen aufmerksam gelesen hatte und wer seine privaten, auf Vertreibung hinzielenden Aktivitäten kannte-der konnte von diesem Mann nichts, aber auch gar nichts Positives in Bezug auf Juden erwarten.

Sich den Nazis angedient haben so manche, nicht nur "die Lutherischen", auch "die Konservativen", "die Akademiker", "die Armee". Auch die Katholische Kirche kann man, selbst bei größtem Wohlwollen, kaum als Fels des Widerstands gegen den NS bezeichnen. In der Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, in der Ablehnung der Errungenschaften der Aufklärung und Französischen Revolution, in der Ablehnung der Emanzipation, in der Ablehnung von Liberalismus, Sozialismus und Atheismus gab es beachtliche Schnittmengen von Konservativen, Kirchenleuten beider Konfession und Faschisten und Nationalsozialisten.

Was es aber nicht gab, das war Akzeptanz und Zustimmung für Mordbefehle. Die Novemberpogrome 1938 waren nicht zuletzt inszeniert worden, um die Reaktion der öffentlichen Meinung zu testen. Diese Reaktion war vielfach Entsetzen.
 
Nein, diese Forderungen waren nicht absurd – die vielen Pogrome im Laufe der Jahrhunderte legen ein Zeugnis davon ab, was alles schon damals möglich war.

Christen haben fast 2000 Jahre gegen Juden gewütet, bis sich jemand fand, der Luthers Worte ernst nahm und sie in die Tat umsetzte, was dieser gesagt. Weil es möglich war, hat man noch mehr getan, aber die Saat dafür hat Luther gesät. Und weil er es war, haben viele mitgemacht.

Luther mokiert sich in seinem Machwerk „Von Juden und ihren Lügen“ an mehreren Stellen, dass Juden sich etwas auf ihr Blut einbilden, weil sie von Abraham abstammen, und deswegen auf Christen und Heiden von oben herabsehen. Und dann zitiert er Jesus, der laut Johannes 8:42-44 zu den Juden sagt, sie lügen, weil sie Nachkommen Satans seien, der ein Mörder und Lügner von Anfang sei – wäre Gott ihr Vater, würden sie ihm, der ja von Gott sei, auch glauben.

Da kann man schon sehen, dass auch Luther sie wegen ihres Blutes verdammt, so nach dem Motto; Sie können gar nicht anders als lügen, denn sie stammen ja vom Satan ab. Mehr noch, er berief sich auf Jesus selbst - wie auch die Kirche sich vor ihm und nach ihm darauf berufen hatte.

Und das mit dem Blut, also der Abstammung, ist Rassismus oder Antisemitismus wie ihn auch Nazis praktizierten. Die Nazis haben nicht alles vom Luther übernommen, aber das, was sie von ihm übernommen haben, war schlimm genug.



Zu Luthers Lebzeiten waren diese Forderungen jedenfalls nicht praktisch in die Tat umzusetzen. Es lebten zwar nördlich der Alpen nur etwa 50.000 Juden in Europa, und es hab noch wenige Synagogen.

Es war aber schon allein pyrotechnisch nicht praktikabel, alle Synagogen niederzubrennen. In einer mittelalterlichen Stadt hätte die Brandstiftung einer Synagoge einen Flächenbrand ausgelöst. Es ließ sich überhaupt nicht das Übergreifen von Bränden auf benachbarte Gebäude kontrollieren.

Das war ja noch 1938 ein riesiges Problem. Der "Blech-Gustel" war ein 150%iger Nazi. Aber selbst der war nicht so blöd, dass er sein eigenes Haus anzündet- und das wäre passiert, wenn er an die Synagoge Feuer gelegt hätte.

Noch 1938 war das pyrotechnisch kaum zu kontrollieren, und damals existierten bereits modern ausgerüstete Feuerwehren mit Löschwagen, Schläuchen und Hydranten. Auch 1938 ließen sich Flächenbrände und das Übergreifen von Bränden nur verhindern, weil die Feuerwehren benachbarte Gebäude- allerdings nicht die brennenden Synagogen-löschten.


Es ließ sich so etwas wie der Holocaust auch bürokratisch nicht im 16. Jahrhundert organisieren. Es fehlte an zentralen Administrationen und Herrschaften um überregionale Projekte verwirklichen zu können.

Es waren Luthers Forderungen aber nicht zuletzt auch in ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn. Juden waren in das Wirtschaftsleben eingebunden. Das kanonische Zinsverbot war Quatsch! Es wurden die Klein- und Kleinstkredite dringend gebraucht. Es herrschte, zumal auf dem platten Land, Mangel an zirkulierendem Geld, es waren die Bauern dringend auf die Klein- und Kleinstkredite mit extrem langer Laufzeit angewiesen. Diese konnten sie nur von Juden erhalten.

Es hat sich kein einziger Reichsfürst Luthers Forderungen zu eigen gemacht. Juden waren längst schon zu Ausbeutungsobjekten der Obrigkeiten geworden. Die Kuh kann man aber nicht melken, wenn man sie wegjagt oder tötet.

-Pogrome waren in der Regel nicht von der Obrigkeit befohlen. Karl der Große hat Juden als Kammerknechte unter Schutz gestellt, und diese Praxis blieb über Jahrhunderte erhalten. Es haben über Jahrhunderte Juden in deutschen Ländern gelebt.

Noch mal! Ein Jude, der konvertierte, war kein Jude mehr. Der mittelalterliche Antijudaismus war im Grunde nicht auf die Ermordung und Entrechtung, sondern auf die Konversion und Assimilation der Jude ausgerichtet. Ein Mensch kann sich ändern, entscheidend ist sein Bekenntnis und nicht sein Blut.

Aus Äußerungen Luthers geht hervor, dass er den meisten jüdischen Konvertiten nicht recht traute, dass er vermutete, dass die Konversion vielfach nicht ernst gemeint war. In vielen Gegenden kursierte das Sprichwort "dreimal getauft-aber immer noch ein Jud.

In Spanien wurden die (zwangs)-konvertierten Juden, Maranos und Moriscos noch generationenlang von der Spanischen Inquisition überwacht. In spanischen Quellen ist immer wieder von "schlechtem Blut" die Rede. Die Juden bleiben "im Irrtum" weil sie eben "verstockt" sind. Luther argumentiert aber nicht nach genetischen, biologistischen Argumenten- davon konnte er, bevor überhaupt Gregor Mendel, Charles Darwin, Leuvenhoog, Linné oder Lombroso ihre Forschungen veröffentlichten auch keine Ahnung haben, sondern theologische.

Konvertiten erkannten Jesus an als Messias, Konvertiten "gaben ihren Irrtum auf", und bei allen Vorbehalten und Vorurteilen gegen Konvertiten- den Söhnen und Enkeln von Konvertiten gelang aber doch in der Regel die Integration und die Assimilation an die christliche Mehrheitsgesellschaft. Durch ihr Bekenntnis zum Christentum räumten sie die theologischen Vorwürfe aus. Sie waren keine Juden mehr, und wenn es auch Vorurteile gegen Konvertiten gab, den Söhnen und Enkeln der Konvertiten konnte und durfte kein Christ mehr das frühere Bekenntnis des Vaters oder Großvaters vorwerfen.

Luther hatte nur minimale Kontakte zu Juden, einen, der nicht zuletzt aufgrund seiner Predigten konvertiert war, hat er aber eine Stelle beschafft.

Theologisch gab es keine Begründung, Juden, die zum Christentum konvertierten und deren Lebenswandel dafür sprach, dass sie das aus freien Stücken getan hatten, die Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu verweigern. Ein Mensch kann sich ändern, entscheidend ist sein Bekenntnis, nicht sein "Blut". Indem ein Jude konvertiert, räumt er die theologischen "Argumente", die gegen sein Jüdischsein sprechen aus dem Weg. Die Konversion konnte und durfte einem Juden nicht verweigert werden- Er war dann kein Jude mehr, und wenn es auch vielerorts Vorbehalte gegen Konvertiten gab, der Generation der Söhne und Enkel hat in der Regel auch keiner mehr das frühere Bekenntnis vorgeworfen oder vorwerfen können.

In zahlreichen europäischen Staaten gab es zahlreiche Biographien, die in Nazi-Terminologie "jüdisch versippt waren". Es gab im 3. Reich ja auch immer wieder SS-Leute, die herausfanden, dass sie jüdische oder jüdisch versippte Vorfahren hatten.

Juden-Konversionen waren im 20. Jahrhundert relativ selten, bei den "Juden-Christen" schafften es sogar die beiden Kirchen, sich zu zaghaften Protesten aufzuraffen.
 
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wie man es nimmt, denn wie Du sagst:


Röhl S.208 schreibt dazu: "Die Bedeutung der Stoecker-Bewegung für die politische und kulturelle Entwicklung Deutschlands kann kaum überschätzt werden."

Ich würde Röhl durchaus zustimmen wollen, dass Stoeckers Einfluss keinesfalls zu unterschätzen ist, vor allem nicht ideologisch, aber Stoecker repräsentierte in der Politik des Kaiserreichs doch immerhin nur eine Splittergruppe, und er hatte zuletzt auch bei seinen reaktionären Kampfgenossen seine Satisfaktionsfähigkeit eingebüßt. Er musste 1896 die Deutsch Konservative Partei verlassen, weil sein Freund Hammerstein aufgeglogen war wegen Scheckfälschungen, Unterschlagungen und "sittlich-moralischen Verfehlungen" aufgelogen, die sehr stark in Gegensatz standen zu dem nach außen zur Schau getragenen christlichen Lebenswandel. Hammerstein hatte sich abgesetzt, wurde aber schließlich verhaftet und fasste 3 Jahre Zuchthaus. Stoecker hatte von all dem gewusst und Hammerstein großzügig gedeckt.
Nicht zuletzt stieß Stoecker aber auch bei Reaktionären, die ihm inhaltlich zustimmten auf Kritik wegen der Art seiner Agitation. Stoecker hatte sich den Ruf erworben, ein Hetzer zu sein, dessen Reden häufig wüste Tumulte zur Folge hatten. Er passte sich dann aber an ein gediegeneres Publikum an, fraß eifrig Kreide, verstrickte sich aber immer wieder auch in offensichtliche Lügen wie im Zuge der Debatte um die Interpellation des Abgeordneten Albert Hänel.
Interpellation Hänel – Wikipedia
 
"Auch wenn nur wenige Abgeordnete die Forderungen der Antisemitenpetition offen unterstützen wollten, äußerten sich Vertreter der Konservativen und des Zentrums in antisemitischer Weise."
(zitiert aus Scorpios Link zur Interpellation Hänel)

Dass es auch im Zentrum zu antisemitischen Äußerungen kam, passt nicht damit zusammen, dass der kaiserzeitliche Antisemitismus eine originär protestantische Ideologie gewesen sei.
Es fügt sich aber in das Bild, dass Hitler in den katholischen Metropolen Wien und München zum Antisemiten wurde.
 
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Nein, diese Forderungen waren nicht absurd – die vielen Pogrome im Laufe der Jahrhunderte legen ein Zeugnis davon ab, was alles schon damals möglich war.

Ich will weiß Gott nicht Pogrome oder die Brandstiftung von Synagogen herunterspielen. In Worms, Speyer und anderen Städten des Reiches sind Hunderte von Juden ums Leben gekommen, das sind mehr, als bei manchen Hexenverfolgungen mit grauenhaften Verläufen ums Leben kamen. Im Verlauf des Kosakenaufstands von Bogdan Szmelnicki im 17. Jahrhundert gehen Schätzungen von mehr als 50.000 Juden aus, die dabei getötet wurden, andere Schätzungen gehen von bis zu 100.000 Opfern aus, dazu kommen noch weit mehr Vertreibungen.

Pogrome waren jedoch relativ selten, im Verhältnis zu Vertreibungen. Vertreibungen wirkten sich insgesamt härter aus, als Pogrome. Die waren furchtbar genug, mit grauenhaften Opferzahlen für vormoderne Verhältnisse. Es waren aber Pogrome weitaus seltener, in der frühen Neuzeit verlieren sich zumindest in Westeuropa die Spuren. Wenn ich mich nicht täusche ereigneten sich 1613 (?) im Rahmen des sogenannten Fettmilch-Aufstands in Frankfurt. Vielleicht kann man die Hepp-Hepp Krawalle in den 1830ern noch dazuzählen.

Bei Pogromen handelt es sich ja meistens um mehr oder weniger spontane Ausschreitungen und Krawalle. In der Regel waren aber Pogrome nicht befohlen, es handelte sich in den meisten Fällen um spontane, nicht organisierte Ausschreitungen. In Worms oder Speyer verlor der Bischof Prestige, weil er die Juden nicht schützen konnte. In der Regel werden dabei auch häufig Sach- und Personenwerte in Mitleidenschaft gezogen.

Pogrome und Ausschreitungen sind für das Wirtschaftsleben Gift, ja sie können sogar enorm gefährlich werden, wenn sich eine Volksgruppe von blindem Hass gehen lässt.

Schwäbisch Wörth war eine Freie Reichsstadt. Die Stadt war protestantisch es gab aber eine kleine katholische Gemeinde. Bei einer Prozession ließen sich die Donauwörther aber zu Ausschreitungen hinreißen, worauf der Kaiser die Reichsacht erklärte. Die zu überwachen beauftragte er Herzog Maximilian von Bayern und Donauwörth war eine Freie Reichsstadt gewesen.
 
Nein, diese Forderungen waren nicht absurd – die vielen Pogrome im Laufe der Jahrhunderte legen ein Zeugnis davon ab, was alles schon damals möglich war.

Christen haben fast 2000 Jahre gegen Juden gewütet, bis sich jemand fand, der Luthers Worte ernst nahm und sie in die Tat umsetzte, was dieser gesagt. Weil es möglich war, hat man noch mehr getan, aber die Saat dafür hat Luther gesät. Und weil er es war, haben viele mitgemacht.
1066
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Granada

1095
Massaker in Rouen
1096
https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_1096_in_Speyer
https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_1096_in_Worms
https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_1096_in_Mainz
1147
(vereinzelte) Morde und etliche Zwangstaufen in Frankreich, im Rheinland, in Franken
1189
Pogrome in England (Lincoln, Norwich, Lynn, Dunstable, York)
1196
Worms, Wien
1221
Erfurt
1235
Fulda.
1285
München

ab 1348
ausgehend von Südfrankreich und nach Norden "wandernd" die so genannten Pestpogrome
https://de.wikipedia.org/wiki/Judenverfolgungen_zur_Zeit_des_Schwarzen_Todes

1391
Spanien (die "christlichen" Anteile der iberischen Halbinsel) zahlreiche Pogrome vernichteten die Hälfte der jüdischen Bevölkerung

1483-1546 Martin Luther

1571
Berlin - siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Lippold_Ben_Chluchim

1648
Volksaufstand in der Ukraine, komplette jüdische Bevölkerung ermordet

1768
rechtsufrige Ukraine Hajdamaken-Aufstand inklusive Pogrom

1819
Würzburg Beginn der
https://de.wikipedia.org/wiki/Hep-Hep-Krawalle im deutschen Bund, Österreich, Dänemark, Polen
1881
Neustettin

namensgebend freilich sind die russischen Pogrome des 19. Jhs:
https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom#Ukraine_im_zaristischen_Russland
beginnend 1821 in Odessa

Den Begriff "Pogrom" kannte man erst ab dem 19. Jh., speziell als Pogrome gegen Juden ab 1881
https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom#Begriff_„Pogrom“

...sehr spannend wird nun der Nachweis, was man davon, also welche Pogrome (!), dem argen Luther anlasten kann...
 
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