Doch genau das war der Fall. Siehe John C. G. Röhl - Kaiser, Hof und Staat- Kapitel 8 (Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus)
Unter den ostelbischen Großgrundbesitzern war Antisemitismus tatsächlich weit verbreitet, etliche konservative Politiker haben vor dem Weltkrieg mit Antisemitismus Wahlkampf gemacht, und sie haben damit teilweise beachtliche Wahlerfolge verbuchen können.
Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Elard von Oldenburg-Janischau und Max Liebermann von Sonnenberg, der vor dem Krieg beachtliche Wahlerfolge in Nordhessen verbuchen konnte und der ein antisemitisches Blatt "Die Deutsche Volkszeitung herausgab, dem er von 1885 bis 1887 als Chefredakteur vorstand. Liebermann von Sonnenberg zog 1890 in den Reichstag ein, und er konnte seinen Sitz bis 1911 behaupten. In seinem Reichstagswahlkreis Kassel 3, der aus den Landkreisen Ziegenhain, Homberg/Efze und Melsungen bestand (Im Prinzip der heutige Schwalm-Eder Kreis in Nordhessen) konnte Liebermann von Sonnenberg stets satte Wahlergebnisse einfahren.
Liebermann von Sonnenberg erregte auch durch eine Petition Aufsehen. Er forderte darin u. a.:
--Einschränkung der Einwanderung von Juden aus Österreich-Ungarn und dem Zarenreich
- Ausschluss von Juden von allen "obrigkeitlichen Stellungen" insbesondere vom Richteramt
- Verbot der Beschäftigung von Juden an Volksschulen und enge Begrenzung der Einstellung von Juden an übrigen Schulen
- Wiedereinführung einer amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung.
Liebermanns Petition wurde von mehr als 250.000 Menschen unterzeichnet.
Im Zusammenhang mit ostelbischen Großagrariern muss vor allem auch der Bund der Landwirte erwähnt werden, eine Lobby-Organisation, die mit einer recht aggressiven antisemitischen Agitation versuchte Stimmung gegen Juden zu machen.
Adolf Stoecker propagierte eine christliche Theokratie und einen Ständestaat, seine Vorstellungen richteten sich gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution, gegen Liberalismus und Sozialismus. Stoeckers Christlich Soziale Partei verband traditionelle konservative Vorstellungen mit eher neuartigen Ideen. Man könnte durchaus sagen, dass Antisemitismus sozusagen der Kitt war, der die teils widersprüchlichen Forderungen miteinander verband.
Stoeckers Programm lässt sich zusammenfassen:
-Ablehnung der Aufklärung, Ablehnung der Französischen Revolution samt ihren Errungenschaften.
-Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, Ablehnung des freien und geheimen Wahlrechts.
-Ablehnung der Trennung von Kirche und Staat
-Forderung eines christlichen Ständestaates
-Sozialfürsorge als paternalistische Maßnahme der Unternehmer und der kaiserlichen Regierung
- Positive Einstellung gegenüber Chauvinismus, Militarismus und einer imperialistischen Politik.
Neu war an Stoeckers Bewegung, dass es sich um eine
-populistische Bewegung handelte, die auf das neue Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe einging und diese auch außerparlamentarisch unterstützte.
- Auffallend war auch die stark antikapitalistische Phraseologie
-Antisemitismus als Kitt, der die recht diffusen Vorstellungen verband:
Großkapital und sozialistische Linke, Liberalismus und Sozialismus- sie alle waren "verjudet". "Juden und Judenfreunde" sie standen für alle Spielarten des Sozialismus, Linksliberalismus, Materialismus und Atheismus
- Sie waren Spielarten, Ausdrucksformen und Hervorbringung eines "Internationalen Judentums", das verschwörerisch die Unterwanderung und Vernichtung der deutschen Gesellschaft betreibe.
Stoecker war auch Erstunterzeichner der sogenannten "Antisemitismus-Petition", in der Juden als "kollektive Gefahr für das deutsche Volkstum" bezeichnet wurden und Forderungen erhoben wurden wie sie auch Liebermann von Sonnenberg erhoben hatte:
-Aussonderung der Juden aus Beamten- und Richterstellen
-Stopp der Einwanderung aus der Donaumonarchie und dem Zarenreich
-Aussonderung der Juden als Lehrer
- Wiedereinführung einer amtlichen Judenstatistik.
Stoecker vertrat diese Vorstellungen auch als Vertreter der Christlich Sozialen 1882 auf einem Antisemiten-Kongress in Dresden.
Stoeckers politische Erfolge hielten sich in Grenzen. Er galt vielen als Hetzer und Radau-Antisemit, der sich zwar gelegentlich von Rassen-Antisemitismus distanzierte, der aber auch noch die wüstesten Antisemiten wie Hermann Ahlwardt verteidigte und sich mit ihnen solidarisierte.
Stoecker kann man durchaus als Vater oder einen der Väter des politischen Antisemitismus bezeichnen-er selbst sah sich jedenfalls so, und er war einer der Ersten, der den Antisemitismus zum Credo einer populistischen Partei erhob. Stoecker griff einerseits antijudaistische Vorurteile auf und erweiterte sie durch rassistische, völkische und ökonomische Vorwürfe. Stoecker brüstete sich damit, dass er als Erster die "Judenfrage" aus dem literarischen Gebiet in die Volksversammlungen und damit in die politische Praxis eingeführt habe. Der im Wilhelminischen Deutschland verbreitete Antisemitismus war Stoecker bei weitem nicht radikal genug.
Stoecker hat Antisemitismus gefördert, er hat ihn mit rassistischen, völkischen und ökonomischen Vorurteilen erweitert, und er hat ihn durch seine Stellung als Hofprediger anschlussfähig und hoffähig gemacht, und er hat ihn innerhalb des Protestantismus befördert.
Die Völkische Rechte und die Nazis haben ihn als Bruder im Geiste und bedeutenden Vorläufer Hitlers geehrt. Der Historiker Walter Frank schrieb eine Biographie Stoeckers, und er brachte es damit bis zum Stab Rudolf Heß.
Nach dem Krieg gab es bereits früh Versuche der britischen Militärregierung, die nach einem "berüchtigten Judenhetzer" benannten Straßen in Westfalen umzubenennen. Das wurde von CDU und FDP verhindert, und der CDU-Politiker Ernst Bach verstieg sich zu der These, Stoecker sei ein "potentieller Retter vor dem Nationalsozialismus" gewesen. Aus dem Evangelischen Namenskalender, in den Stoecker 1969 aufgenommen wurde, entfernte man ihn erst 2013/14 auf Antrag der Evangelischen Synode in Mitteldeutschland.
Wenn man sich mit Stoeckers Ideenwelten auseinandersetzt, fällt auf, dass er zwar Themen des traditionellen Antijudaismus aufgreift, dass aber im Großen und Ganzen gerade
nicht theologisch argumentiert.
Es ist nicht die Verleugnung Christi
-nicht die Weigerung zu konvertieren
nicht die Angst, dass Juden Christen zum Abfall verführen (könnten),
die ihn vor allem zu seinem Judenhass motiviert, sondern die Ablehnung der Errungenschaften der Aufklärung und der Französischen Revolution
Die Vorstellung, dass Juden Fremdkörper im deutschen Volk und diesem feindselig gegenüber eingestellt sind.
Dass sie den Sozialismus, Liberalismus, Materialismus und Atheismus erfunden haben
- Dass es so etwas wie eine Verschwörung von Juden und Judenfreunden gibt, ein "Internationales (Finanz)-Judentum
- Auffallend ist bei Stoecker jedenfalls seine stark anti-kapitalistische Agitation.
Auffallend auch, dass Stoecker sich gerade nicht auf Luther bezieht, obwohl doch ein Bezug auf Luthers Pamphlet von 1543 naheliegend gewesen wäre.
Luthers Juden-Pamphlet wurde zwar , vor allem nach 1933 immer wieder nachgedruckt. Es war aber vor 1933 überhaupt nur in Gesammelten Werken Luthers enthalten. @Shinigamis Skepsis, wie weit man "Wider die Juden und ihre Lügen" bei einem Leserkreis bekannt voraussetzen kann- ist nicht unberechtigt. Es galten zumindest seine früheren Schriften als theologisch weitaus bedeutender.
In dem schlimmsten Propagandafilm der Nazis: In Jud Süß will ein alter Kriegskamerad Herzog Karl Alexander wider auf den rechten Weg führen und erbittet eine Audienz. In diesem Gespräch argumentiert er mit einem (angeblichen?) Lutherzitat: "Wisse denn du Christ, dass du keinen schlimmeren Feind hast, als einen rechten Juden". Der Landschaftskonsulent Sturm, dessen Tochter "Jud Süß" geschändet hat, beruft sich auf ein "altes Reichsgesetz", (sozusagen die Proto-Nürnberger Gesetze"), das "Rassenschande" mit dem Tod bedroht.
Es gab aber auch eine andere Luther-Rezeption. Heinrich Heine etwa sieht in Deutschland ein Wintermärchen" Luther als bedeutenden Reformator, der ein "großes Halt" gesprochen. Es gab Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert Autoren, die gegen den rassischen Antisemitismus argumentierten und dabei sich gerade auf Luther und seine Forderungen von 1523 bezogen, in denen Luther die Missionsversuche kritisiert, in denen er darauf verweist, dass Jesus, Maria und die Apostel Juden waren, dass Ritualmordgeschichten "Narrenwerk" seien, und die Politik vieler Landesfürsten Juden gar keine andere Wahl lasse, als den "Wucher". Vielen Juden galt Luther zu Beginn der Reformation als Hoffnungsträger. (Diese Hoffnungen waren freilich unbegründet. Wer Luther und seine Äußerungen aufmerksam gelesen hatte und wer seine privaten, auf Vertreibung hinzielenden Aktivitäten kannte-der konnte von diesem Mann nichts, aber auch gar nichts Positives in Bezug auf Juden erwarten.
Sich den Nazis angedient haben so manche, nicht nur "die Lutherischen", auch "die Konservativen", "die Akademiker", "die Armee". Auch die Katholische Kirche kann man, selbst bei größtem Wohlwollen, kaum als Fels des Widerstands gegen den NS bezeichnen. In der Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, in der Ablehnung der Errungenschaften der Aufklärung und Französischen Revolution, in der Ablehnung der Emanzipation, in der Ablehnung von Liberalismus, Sozialismus und Atheismus gab es beachtliche Schnittmengen von Konservativen, Kirchenleuten beider Konfession und Faschisten und Nationalsozialisten.
Was es aber nicht gab, das war Akzeptanz und Zustimmung für Mordbefehle. Die Novemberpogrome 1938 waren nicht zuletzt inszeniert worden, um die Reaktion der öffentlichen Meinung zu testen. Diese Reaktion war vielfach Entsetzen.