Oder sieht das die moderne Geschichtswissenschaft überwiegend anders?
Ich denke, dass zu Grundfrage, wie sich die überwiegende polnische Bevölkerung im 18. Jahrhundert so empfand, kaum valide Aussagen getroffen werden können, weil dieselbe vor allem in den ländlichen Gegenden zu wenig alpahbetisiert war, als dass es flächendeckend schriftliche Zeugnisse gäbe.
Es ist allerdings noch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (z.B. im Hinblick auf die Grenzziehung Polens im Osten und auch andere Teile Osteuropas) bei den damaligen Erhebungen auffällig, dass sich weite Teile der dortigen Bevölkerungen überhaupt keine in unserem Sinne nationale Identität zuschrieben, sondern sich mitunter schlicht als "katholisch/orthodox) im jeweiligen Grenzgebiet oder als "hiesige" bezeichneten.*
Nun mag man einwenden können, dass auf Grund der sprachlichen Ähnlichkeit zu den Ukrainern und Weißrussen, was ja immerhin noch Sprecher slawischer Sprachen sind, der wenig gebildeten Landbevölkerung schwieriger gefallen sein, aber deswegen gab es nicht zwangsläufig weniger Konfliktstoff.
Judson etwa liefert in seinem "Habsburg, Geschichte eines Imperiums, 1949-1820"eine recht plastische Schilderung von den Verhältnissen in Galizien mit seiner ukrainischen Land Bevölkerung und seiner polnischen und jüdischen Stadtbevölkerung und der polnischen Oberschicht auf dem Land, so wie deren notorischen Konflikten mit ihren ukrainischen Bauern.
Das hat aber anscheinend, vor der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht dazu geführt, dass sich ein flächendeckendes ukrainisches Nationalbewusstsein herausgebildet hätte.
Sicher, wie gesagt, war gegenüber den deutschsprachigen Gebieten für die Polen die Sprachbarriere größer, als gegenüber der Ukraine oder den weißrussischen Gebieten, aber auch nicht größer als gegen litauen, wo eine solche flächendeckende Bildung eines Nationalbewusstseins vor der zweiten Hälfte des 19. jahrhunderts nicht wirklich greifbar ist, trotz der inneren Konflikte des Polnisch-Litauischen Staatengebildes und die zunehmende Dominanz des polnischen Elements vor den Teilungen.
Dann wäre wie gesagt die frage, wo es den vor dem 19. Jahrhundert auch herkommen sollte? Der Pole, der in den preußischen Teilungsgebieten lebte und vor den Teilungen dort residierte, lebte, sofern auf dem Land in der Regel als Kleinbauer, Kleinhandwerker, Höriger, etc. seines Gutsbesitzers und der wiederrum war, im Besonderen in Wiekopolskie, was dann ja mehr oder weniger der späteren Provinz Posen und dem Netze-Distrikt entsprecht, in der Regel ein polnischer Adeliger.
Was machte es für diesen Abhängigen, weitgehend entrechteten Polen für einen Unterschied ob der als Bedrückung empfundene Gutsherr jetzt besser deutsch oder polnisch sprach?
War der Gutsherr ethnisch gesehen Polen und hatte nebenbei auch deutschsprachige Hörige, hatte der Polnische Kleibauer/Knecht/was-auch immer, mit diesen, von seinem rechtlichen Status mehr gemein, als mit dem polnischen Adeligen, für den er schaffen musste.
Wozu musste er sich also gegenüber den deutschsprachigen Knechten abgrenzen?
Wenn er nicht auf dem Land, sondern in der Stadt lebte, lebte er, je nachdem in welcher Wojewodschaft zusammen mit Juden, Deutschen, Ukrainern, Litauern, Weißrussen, Letten (episodisch gehörten Kurland und Teile Livlands dem Staatsverband an) etc. und sofern im Westen des alten Polens, in einer auf das deutsche, will heißen, i.d.R. modifizierte Magdeburger Recht festgelegten Stadt.
Der Polnisch-Litauische Staat war dazu konzipiert, dass verschiedene Ethnien nebeneinander einigermaßen gleichberechtigt leben konnten, der Adel auch der litauischen Reichshälfte hatte einen starken Einfluss auf die Reichsangelegenheiten (auch wenn der mit zunehmendem Verlust der "Litauischen" (de facto meist ukrainischen und weißrussischen) Gebiete zunehmend schwand), der offizielle Schriftverkehr innerhalb dieses Staatswesens wirde bis zu den polnischen Teilungen größtenteils nicht auf polnisch, sondern althergebracht auf Latein abgewickelt.
Wenn da jetzt jemand auf dem Land als höriger lebt, nicht weit warumm kommt und sieht, dass der deutsche Knecht neben ihm, egal ob der anders spricht oder nicht, vom Gutsherren, er sei ethnisch Deutscher oder Pole auch nicht besser behandelt wird oder wenn er in einer Stadt zusammen mit einer deutschsprachigen und einer jüdischen Gemeinde nach Magdeburger Recht gelebt hat, woher sollte diese Person ein Abgrenzungsbedürfniss nationaler Art entwickeln?
Und warum genau sollte es für ihn unnatürlicher gewesen sein, sich als Preuße zu bezeichnen, als sich etwa als "Polen-Litauer" zu bezeichnen, was ja die frühere Vergleichsfolie wäre?
Ich würde meinen, wenn eine Person sich damals wirklich mit dem gesamten staatlichen Gebilde identifizierte, war es unter diesen Umständen auch für einen ethnischen Polen nicht abwegig sich "Preußen" zu nennen.
Die polnischsprechenden Menschen waren ein Teil der preußischen Bevölkerung, wie sie vorher einer der polnisch-litauischen Bevölkerung waren.
Lokale Identitäten mögen da noch eine größere Rolle gespielt haben.
Was macht es da jetzt aber für eine Unterschied, ob sich jemans als aus "Posen" oder der Wojewodschaft Wielkopolskie komment oder aus "Westpreußen" oder "Pommerellen/Weichselpommern" kommend identifizierte? Sofern das nicht in den gesamstaatlichen Zusammenhang eingeordnet wird, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung (also auch die Kaschuben, Juden und Deutschsprachigen) darin inkludiert sind, spielt das doch keine Rolle, sondern ist die Bezeichnung der selben Gemeinschaft in einer anderen Sprache, die von einer Teilgruppe dieser Gemeinschaft eben gesprochen wird.
Demgegenüber sind bis ins 20. jahrhundert hinein wie gesagt noch andere Identität virulent, Aussagen, nach denen sich teile der ländlischen Bevölkerungen in den Grenzgebieten auf die Frage nach ihrer Nationalität als "katholisch" bezeichneten, sind verbürgt.
Das 19. jahrhunder wiederrum ist eine komplett andere Kiste, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass sich die alten Patronatsstrukturen auf dem Land auflösten, die Bevölkerung mehr Rechte bekam, Bildung wichtiger wurde und der preußische Staat anfing eine Schul- und Religionspolitik zu machen, die die katholische, polnisch sprechende Bevölkerung benachteiligte.
So lange die Patronatsverhältnisse voll in Kraft waren, musste kein abhängiger Bauer sich selbst vor einem Gericht vertreten, wenn es zu Rechtsstreitigkeiten kam, das war Sache des Patrons, was für den Bauern gut war, wenn es gegen eine auswärtige Person ging und was schlecht für ihn war, wenn es gegen den eigenen Parton gehen sollte.
In dem Moment, wo die Patronatsverhältnisse wegfallen, fällt auch die Vertretung weg und er muss das selbst tun.
Und auf einmal findet sich unser polnsichsprachiger Knecht vor einem deutssprachigen Gericht wieder dessen Palaver er weder inhaltlich, noch rein sprachlich nachvollziehen kann.
Natürlich fühlt der sich diskriminiert, im besonderen, wenn er mit einer deutschsprachigen Person, die sich da sehr wohl verständlich machen kann, im Streit liegt.
Selbes Thema bei der Schulpolitik.
In Dem Moment in dem Deutsch auf einmal als weitgehend alleinige Unterrichtssprache verordnet wird, fallen natürlich sämmtliche polnischsprachigen Schüler, die kein oder nur schlecht deutsch sprechen leistungsmäßig auch hinter die dämlichsten deutschsprachigen Schüler zurück, mit zunehmenden Folgen für den späteren beruflichen Werdegang.
Das sind Entwicklungen, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts virulent werden und dann wirklich auch das Gefühl von Diskriminierung und ein entsprechendes nationales Abgrenzungsbedürfnis schaffen.
Das kann man aber in der Form auf das 18. und beginnende 19. Jahrhundert nicht zurückprojizieren, weil es diese politischen Schritte noch nicht gab, Bildung nicht den Stellenwert hatte und es darüber hinaus noch die obrigkeitlichen Reste der Feudalstrukturen gab, die den unteren Schichten der bevölkerung als Blitzableiter viel sinnvoller erscheinen musste, als ethnische Kategorien.
Wie gesagt, warum sollte ein polnischer Knecht mit dem neben ihm schuftenden deutschen Knecht, obwohl sie sich am Ende vielleicht beide eher als "Schlesier" verstehen, mehr Probleme haben, als mit seinem polnischen Gutsbesitzer und dementsprechend größere Abgenzungsbedürfnisse?
*Derlei Beschreibungen finden sich etwa in:
Lehstaed, Stephan
er vergessene Sieg, Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919/1920 und die Entstehung des modernen Osteuropa
Auch Kapeler schreibt in seinem Einführungswerk über die Geschichte der Ukrainie da vergleichbares.