Die Wahlen vom 07.Mai 1989 waren manipulierte und gefälschte Wahlen. Manipulation war immer am Werke, denn wer eine Einheitsliste vorgelegt bekommt, kann nicht zwischen Kandidaten wählen. Wenn die Liste im Vorfeld der Wahlen als Vorschlag der denkbar beste, die sozialistische Sache empfhohlen wird, dann ist eine Entscheidung dagegen im Grunde als ein Votum gegen den Sozialismus qualifiziert. Wenn in den Medien die offene Abstimmung propagiert wird, wenn Wähler öffentlich erklären, sie würden keine Wahlkabine benutzen, dann werden viele ihr Wahlverhalten danach einrichten. Wer dennoch die Wahlkabine benutzt, macht sich verdächtig. Er ist registrierbar. Ebenso ist jedes Nichterscheinen zur Wahl als Gegenerschaft oder als Protest auszumachen.
Mir schwebte dabei als möglicher Tatort für Unkorrektheiten das Wahllokal vor. Ich warnte davor, bei der öffentlichen Auszählung irgendwelche faulen Tricks zu veranstalten. Wir hatten Kenntnis davon, nicht zuletzt durch Berichte der Staaatssicherheit, dass die Opposition den Wahlvorständen diesmal besodners scharf auf die Finger sehen würde.
Ohne mein Wissen und folglich ohne meinen Auftrag waren allerdings schon Tage zuvor bei den Bürgermeistern der Stadtbezirke Abgesandte des Magistrats bis hinauf zu einen Stellvertreter des Oberbürgermeisters erschienen, um anhand aller bis dahin vorliegenden Erkenntnisse über die Wählerstimmung eine "Voraussage" über den Wahlausgang zu erhalten.
Teilweise hatten die Emissäre in den Bezirksämtern ihre Vorstellungen über die Prognose über Ja-, Gegen- und ungültigen Stimmen schon schriftlich fixiert und mitgebracht. Angesichts der bekannten Verquickung von Partei und Staatsmacht wurden die als Vorschau etikettierten Absprachen von Bezirksbürgermeistern wie eine Weisung der Zentrale für das Wahlergebnis gewertet.
Nicht im Wahllokal, sondern den Augen der Öffentlichkeit entzogen, auf der zweiten Ebene, in den Bürgermeistereien, wo die Ergebnissse der Stimmbezirke summiert wurden, waren die "Frisiersalons".. wo gemäß den Richtwerten teilweise um groteskte Zehntelprozente geschönt wurde. Diesmal gelang es nicht mehr, nach der Wahl zur Tagesordnung überzugehen. Die Prüfer der Opposition hatten gut gearbeitet. Sie waren in einer Vielzahl von Wahllokalen. Sie verglichen die Basisresultate mit den Zählergebnissen der anderen Ebenen und stellten erhebliche Diskrepanzen fest.
(Quelle: Günter Schabowski, Der Absturz)
Grüße
Amicus