Präventivschlag 1887

ass die russische Schlappe von niemandem "genutzt" wurde, hatte mich stets erstaunt, denn die Wirkung der modernen Artillerie und der angepassten Festungsbauweise (Port Artur) wurde allerseits mit Interesse beobachtet und ausgewertet.

Die russische Schlappe wurde von Großbritannien genutzt; denn nun waren die Russen "bündnisreif".
Das weder Österreich-Ungarn noch Deutschland diese "Möglichkeit" genutzt haben, das ist in der Tat "erstaunlich". Beispielsweise hätte Deutschland in der Marokkokrise Teil 1 gegen Frankreich marschieren können; Russland hätte nichts tun können.
 
Habe ich vor längerer Zeit mal gelesen, würde es aber nicht unbedingt unter die Bücher zum 1. Weltkrieg rechen, aus denen man besonders viel über die politischen Konstellationen rund um den Krieg herum und die Vorgeschichte lernen könnte.

Hat vielleicht ein paar interessante Schlaglicher auf einige Dinge, die innerhalb des Krieges passiert sind, z.B. zur Praxis der Kriegsfinanzierung durch Steuern und Anleihen, aber insgesamt würde ich dass als eines der weniger interessanten Bücher zum Weltkrieg einordnen.

Niall Ferguson sein Werk ist von Interesse was die Vorgeschichte des Weltkrieges angeht. Es ist vor allem deshalb umstritten, das Ferguson mit seinem Landsmann Grey hart ins Gericht geht und das ist etwas, was gegen die geltende "Political Correctness" ist.

Empfehlenswert zum Weltkrieg und auch seiner Vorgeschichte sind beispielsweise:

Christopher Clark, Die Schlafwandler,
John Keegan, Der Erste Weltkrieg,
Rainer F. Schmidt, Kaiserdämmerung,
Stefan Schmidt, Die französische Außenpolitik in der Julikrise
Dülffler, Kröger, Wippich, Vermiedene Kriege,
Canis, Der Weg in dem Abgrund
Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg
Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg. Ist nicht mehr ganz taufrisch, aber trotzdem sehr gut. Beispielsweise wird die "Notenoffensive" des US Präsiden Wilson hervorragend dargestellt. Viele Werke meine heute darauf verzichten zu müssen, dabei zeigt es sehr gut auf, wie die Deutschen im Zuge der "Waffenstillstandverhandlungen über den Tisch gezogen wurden."
Afflerbach, Der Dreibund. Eine umfassende Darstellung des Dreibundes von der Gründung bis hin zum italienischen Eintritt in dem Krieg auf Seiten der Gegner seiner Verbündeten,
Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung,
Kennan, Die schicksalhafte Allianz, Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges

Grundsätzlich und unentbehrlich die Akteneditionen der Briten (Die Amtlichen Britischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges), Die entsprechenden Akten Österreich-Ungarns und Deutschlands usw. usw.

Dies ist nur eine sehr kleine Auswahl.
 
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Niall Ferguson sein Werk ist von Interesse was die Vorgeschichte des Weltkrieges angeht. Es ist vor allem deshalb umstritten, das Ferguson mit seinem Landsmann Grey hart ins Gericht geht und das ist etwas, was gegen die geltende "Political Correctness" ist.
Ich kann nur sagen, was ich von dem Buch mitgenommen habe und das ist in erster Linie, dass es ein Buch ist, dass sich mehr mit dem Krieg selbst, als seiner Vorgeschichte befasst und es steht, was die Vorgeschichte angeht, so weit ich mich erinnere nichts drinn, was man nicht auch in anderen Publikationen finden würde.

Warum irgendjemand ein Buch als "umstritten" tituliert interessiert mich eigentlich erstmal nicht, es sei denn es wäre wegen haarsträubender fachlicher Mängel. Ich habe das auch nirgendwo als Argument angeführt, bzw. darauf abgestellt.
Es ist halt vor allem erstmal kein Buch mit starkem Fokus auf die Vorgeschichte und Interesse an gerade dieser hat @Stefan_Schaaf in #35 ja zum Ausdruck gebracht.
 
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis:

1. Die Mythen des Militarismus
2. Imperien, Bündnisse und das Vorkriegs-Appeasement
3. Großbritanniens Krieg der Illusionen
4. Waffen und Soldaten
5. Öffentlich Finanzen und nationale Sicherheit
6. Die letzten Tage der Menschheit

Kapitel 6 endet auf Seite 215 von 399, wissenschaftlicher Anmerkungsapparat außen vorgelassen. Der größere Teil des Buchs ist also Vorgeschichte.
 
Das Inhaltsverzeichnis meiner Ausgabe beeinhaltet auch:

7. Augusttage, Mythos Kriegsbegeisterung.
8. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, der vergeudete Vorteil.
9. Strategie, Taktik und Verluste
10. "Maximales Blutbad zu minimalen Kosten", Kriegsfinanzierung
11. Der Todesinstinkt: Warum Soldaten kämpfen
12. Kapitulation und Gefangennahme.

Die bei dir erwähnten Kapitel "1. Die Mythen des Militarismus, 4. Waffen und Soldaten 5. Öffentliche Finanzen und nationale Sicherheit zielen jetzt nicht unbedingt darauf ab, im Detail die Verstrickungen der Großmächte untereinander und die verschiedenen Querelen Europas im Vorlauf des Krieges zu diskutieren.

Drücken wir es mal so aus: Es ist kein Buch mit deutlichem Fokus auf die europäische Diplomatie und Großmachtspolitik vor Kriegsbeginn, sondern der Fokus liegt schon recht stark auf dem Krieg selbst.
 
Die bei dir erwähnten Kapitel "1. Die Mythen des Militarismus, 4. Waffen und Soldaten 5. Öffentliche Finanzen und nationale Sicherheit zielen jetzt nicht unbedingt darauf ab, im Detail die Verstrickungen der Großmächte untereinander und die verschiedenen Querelen Europas im Vorlauf des Krieges zu diskutieren.

Die dort vorgestellten Fakten gehören durchaus zur Vorgeschichte; die besteht ja nicht nur aus der Diplomatiegescgichte.
Aber, wir werden uns wohl nicht einig werden.
 
Die russische Schlappe wurde von Großbritannien genutzt; denn nun waren die Russen "bündnisreif".
Das weder Österreich-Ungarn noch Deutschland diese "Möglichkeit" genutzt haben, das ist in der Tat "erstaunlich". Beispielsweise hätte Deutschland in der Marokkokrise Teil 1 gegen Frankreich marschieren können; Russland hätte nichts tun können.
Wollte ich womöglich auch mal beides erörtern, aber wohl eher in separaten Themen.

DIe letztlich gescheiterten Bündnsiverhandlungen (Vertrag von Björkö) und

die Möglichkeit eines Schlages gegen Frankreich 1905 im Zuge der 1. Marrokokrise, als von Schlieffen die Zeit als günstig erachtet wurde, seinen "Angriffsplan gegen Frankreich" umzusetzen.

Ist eher fraglich, ob man für eine solche Aktion überhaupt die Rückendeckung im Inneren gehabt hätte. Bei Russland 1887 schien das gegeben zu sein, die Forderung nach einem Präventivschlag kam aus verschiedenen Reihen, selbst von Sozialdemokraten. Ich vermute, weil es gegen die russiche Autokratie gegangen wäre. Ähnliche Überlegungen finden ja auch 1914 statt, dass man Russland als Aggressor darstellen muss, ohne damit jetzt die Schuldfrage o.Ä. streifen zu wollen.

Ob man bei einem sicherlich als nicht adäquatem Überhitzen der Marokkokrise wirklich die nötige Unterstützung gehabt hätte für einen Krieg gegen Frankreich und wahrscheinlich auch England, halte ich für fraglich.

Zudem habe ich gelesen, dass das Kaiserreich zu diesem Zeitpunkt keineswegs auf einen Krieg vorbereitet war.
 
Habe Ferguson selbst nicht gelesen, aber war einer seiner Kernthesen nicht, dass England in den "falschen Krieg" gezogen sei, es also keine Notwendigkeit gab, im großen Krieg zu intervenieren, erst Recht nicht, wegen Belgien?

Fand diese Vorstellung immer etwas naiv. Sicherlich, der Krieg hat das Empire geschwächt. Aber seine Argumentation ist ja explizit, dass das deutsche Reich letzlich eine frühe Form der EU geschaffen hätte, unter dt. Führung. Insofern hätte es also auch nie die britische Stellung bedrohen können.

Halte ich für äußerst fraglich, ob das man so für die damaligen Verhältnisse schon so sehen kann.

Ob das dt. Reich dann noch später die Konfrontation mit England gesucht hätte oder nicht, spielt keine Rolle. SIe hätten es jedenfalls gekonnt, wenn sie die Ressorucen und Werftkapazitäten des um einen Großteil des europäischen Russlands bereicherten Kontinents zur Verfügung gehabt hätten. Das man sich aus damaliger Sicht erst Recht nicht als Großbritannien in einer solch inferioren Rolle sehen wollte, ist doch ganz klar.
 
Ist eher fraglich, ob man für eine solche Aktion überhaupt die Rückendeckung im Inneren gehabt hätte. Bei Russland 1887 schien das gegeben zu sein, die Forderung nach einem Präventivschlag kam aus verschiedenen Reihen, selbst von Sozialdemokraten. Ich vermute, weil es gegen die russiche Autokratie gegangen wäre. Ähnliche Überlegungen finden ja auch 1914 statt, dass man Russland als Aggressor darstellen muss, ohne damit jetzt die Schuldfrage o.Ä. streifen zu wollen.

Ob man bei einem sicherlich als nicht adäquatem Überhitzen der Marokkokrise wirklich die nötige Unterstützung gehabt hätte für einen Krieg gegen Frankreich und wahrscheinlich auch England, halte ich für fraglich.

Warum nur gegen Frankreich/Großbritannien?

Man hätte ja 1905 auch das geschwächte und Revolutionsgeschüttelte Russland ins Visier nehmen, können.

Im Grunde genommen hätte man anno 1905 oder in den derauf folgenden Jahren Österreich-Ungarn einen Blanco-Scheck ausstellen können grenzenlos alles auf dem Balkan zu tun, was Wien genehm war, mit der Implikation dem gebeutelten Russland nicht auf die Füße zu treten, sondern es in die Lage zu setzen, den Krieg erklären zu müssen, wenn es nicht als schwächlich darstehen und damit ihren Inneren Feinde noch mehr Angriffsfläche zu bieten gedachte.

Die zarische Regierung war nach der Revolution angeschlagen und hätte sich kaum eine Demonstration weiterer Schwäche durch Kuschen vor Österreichleisten können. Hätte Russland daraufhin Österreich den Krieg erklärt, hätte man ggf. einen Casus Belli gehabt. Die Stärke der SPD, vor allem im Reichstag (Kriegskredite) als potentieller Vetoplayer wäre 1905 und folgend nicht so stark gewesen, wie nach den Wahlen von 1912.
In 1912 hatte sie 110 Sitze gewonnen, bei der vorausgegangenen Wahl in 1907 hatte sie allerdings ein deutlich schwächeres Ergebnis gehabt und nur 43 Sitze erringen können, so dass sie kein entscheidendes Hindernis für Kriegsfinanzierung gewesen wäre.

Nachdem anders als 1875 oder 1887 Russland mittlerweile mit Frankreich verbündet war, hätte man in diesem Fall auch keine Rücksicht mehr darauf nehmen müssen Russland im Fall eines Friedens nicht allzusehr weh zu tun um es nicht ins feindliche Lager zu treiben, denn da war es ja schon.
 
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Warum nur gegen Frankreich/Großbritannien?

Man hätte ja 1905 auch das geschwächte und Revolutionsgeschüttelte Russland ins Visier nehmen, können.

Im Grunde genommen hätte man anno 1905 oder in den derauf folgenden Jahren Österreich-Ungarn einen Blanco-Scheck ausstellen grenzenlos alles auf dem Balkan zu tun, was Wien genehm war, mit der Implikation dem gebeutelten Russland nicht auf die Füße zu treten, sondern in die Lage zu setzen, den Krieg erklären zu müssen, wenn sie nicht als schwächlich darstehen und damit ihren Inneren Feinde noch mehr Angriffsfläche zu bieten.

Die zarische Regierung war nach der Revolution angeschlagen und hätte sich kaum eine Demonstration weiterer Schwäche durch Kuschen vor Österreichleisten können. Hätte Russland daraufhin Österreich den Krieg erklärt, hätte man ggf. einen Casus Belli gehabt. Die Stärke der SPD, vor allem im Reichstag (Kriegskredite) als potentieller Vetoplayer wäre 1905 und folgend nicht so stark gewesen, wie nach den Wahlen von 1912.
In 1912 hatte sie 110 Sitze gewonnen, bei der vorausgegangenen Wahl in 1907 hatte sie allerdings ein deutlich schwächeres Ergebnis gehabt und nur 43 Sitze erringen können, so dass sie kein entscheidendes Hindernis für Kriegsfinanzierung gewesen wäre.

Nachdem anders als 1875 oder 1887 Russland mittlerweile mit Frankreich verbündet war, hätte man in diesem Fall auch keine Rücksicht mehr darauf nehmen müssen Russland im Fall eines Friedens nicht allzusehr weh zu tun um es nicht ins feindliche Lager zu treiben, denn da war es ja schon.
Da hast du Recht. Wobei ich bis jetzt nur den Gedanken, Frankreich angesichts der Schwäche Russlands anzugreifen, tatsächlich gefunden habe.

Mit Russland war man ja zu diesem Zeitpunkt eher auf Versöhnung aus. Hätte das dann nicht auch seltsam gewirkt?

Zudem, hätte man Russland offensiv angegangen, hätte man ja auch noch starke Verbände zur Verteidigung im Westen lassen müssen.

Dein Gedanken, Russland zum Krieg auf den Balkan zu treiben, mag die Lage da besser gestalten. Allerdings, hätte man darauf wirklich setzen können, unter der Prämisse, dass man eine Gelegenheit nicht verstreichen lassen wollte?

Bei der bosnischen Annexionskrise haben die Russen ja auch nochmal einen Rückzieher gemacht, weil noch geschwächt.
 
Wollte ich womöglich auch mal beides erörtern, aber wohl eher in separaten Themen.

Ist ohne Frage auch sehr interessant.

als von Schlieffen die Zeit als günstig erachtet wurde, seinen "Angriffsplan gegen Frankreich" umzusetzen.

Schlieffens Schwiegersohn, Generalmajor Hahnke, hat generell gemeint, dass Schlieffens Überzeugung, ein neuer deutsch-französischer Krieg werde gewiss kommen, nicht gleichbedeutend mit Absicht gewesen sei, Frankreich anzugreifen. Deutschland nahm er immer nur als den angegriffenen Teil an. Selbst auch 1905 rechnete Schlieffen eher mit einer Kriegserklärung Frankreichs.
Andererseits ist von Hahnke auch überliefert, das Schlieffen die "französische Frage" erledigt haben wollte, bevor England offen zu den Feinden übergetreten sei. Das würde im Prinzip die Bejahung eines Präventivkrieges implizieren.
Ein Blick in die Große Politik hilft weiter. Am 19.04. notierte der Vortragende Rat im AA Lichnowsky, der Schlieffen im Auftrage Bülows aufgesucht hatte, das Russland wohl kaum in der Lage sei, sich wirkungsvoll an einem deutsch-französischen Kriege zu beteiligen. Wenn also die Notwendigkeit eines Krieges mit Frankreich sich für uns ergeben sollte, so wäre der gegenwärtige Augenblick wohl zweifellos günstig. (Nachzulesen in Band 19/1 der Großen Politik, Dokument 6031).
Schlieffen hatte Wilhelm II. das Maiheft der englischen Zeitschrift "The Nineteeth Century" übersendet, weil darin ein Aufsatz enthalten war, in der Abschluss eines Bündnisses gefordert und die Möglichkeit angedeutet wurde, das Deutschland einen Präventivkrieg gegen Frankreich einleiten könnte. Wilhelm II. schrieb darunter ein großen und unmissverständliches NEIN.
 
Habe Ferguson selbst nicht gelesen, aber war einer seiner Kernthesen nicht, dass England in den "falschen Krieg" gezogen sei, es also keine Notwendigkeit gab, im großen Krieg zu intervenieren, erst Recht nicht, wegen Belgien?

Fand diese Vorstellung immer etwas naiv.

Naja, man kann die britische Politik vor dem Krieg schon dahingehend für fraglich halten, das sie darauf hinauslief die Entente immer mehr zu festigen, obwohl es in Sachen europäisches Machtgleichgewicht möglicherweise sinnvoller gewesen wäre sich wieder darauf zurück zu ziehen und eine mehr neutrale Position einzunehmen.

1905 und folgend musste sich Großbritannien mit Frankreich zusammenschließen, weil Frankreichs Bündnispartner Russland wegen des Krieges gegen Japan und der Revolution erstmal ausgefallen war, und Frankreich für Deutschland auf dem Präsentierteller gelegen hätte, wenn man es von britscher Seite nicht unterstützt hätte und dass deutsche Verhalten in der 1. Marokkrise konnte man in London schon auch für ein Vorfühlen halten, wie GB ggf. auf einen Krieg Deutschlands gegen Frankreich reagieren würde.

Zu Beginn der 1910er Jahre hatte sich Russland allerdings erhohlt und nun begann die neue Konstellation Berlin unter Druck zu setzen, weil damit ein eindeutiges Übergewicht der Entente gegeben war.
Wenn London hier die Konsequenz gezogen hätte sich aus der Entente zurück zu ziehen und wie früher zwischen den Blöcken vermittelnde Partei und ausgleichendes Pendel zwischen den Machtblöcken zu sein, hätte das möglicherweise durchaus dazu beitragen können den ganzen Schlamassel zu vermeiden.

Denn der Zweibund und die franco-russische Allianz hielten sich ungefähr die Wage. Zwar war Deutschland diejenige der beteiligten Mächte, die am stärksten boomte andererseits war das mit Deutschland verbündete Österreich-Ungarn deutlich die schwächste der 4 Kontinentalen Großmächte, so dass Deutschlands Überlegenheit gegenüber Frankreich durch die Russische gegenüber Österreich-Ungarn kompensiert wurde.


Von dieser Warte her könnte man durchaus sagen, dass der 1. Weltkrieg für Großbritannien ein "falscher Krieg" war.
Nicht wegen der unmittelbar dem Krieg vorrangegangenen Entscheidungen, sondern wegen einer fragwürdigen Bündnis-/ Blockpolitik in den 4-5 Jahren vorher, die man als krisenverschärfend betrachten könnte, was den Gesamtzustand Europas betrifft.
 
Die zarische Regierung war nach der Revolution angeschlagen und hätte sich kaum eine Demonstration weiterer Schwäche durch Kuschen vor Österreichleisten können. Hätte Russland daraufhin Österreich den Krieg erklärt, hätte man ggf. einen Casus Belli gehabt.

Was hätten die Russen denn machen sollen? Sich auf ein "Selbstmordkommando" begeben und den Untergang der Monarchie einzuleiten? Russland hätte in den Jahren nach 1905 keine Chance gehabt, den Krieg zu gewinnen. Es gab schon einen guten Grund, weshalb Petersburg 1909 in der Annexionskrise, die man durch eigene Inkompetenz erzeugt hatte, nachgegeben hatte.
 
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Naja, man kann die britische Politik vor dem Krieg schon dahingehend für fraglich halten, das sie darauf hinauslief die Entente immer mehr zu festigen, obwohl es in Sachen europäisches Machtgleichgewicht möglicherweise sinnvoller gewesen wäre sich wieder darauf zurück zu ziehen und eine mehr neutrale Position einzunehmen.

1905 und folgend musste sich Großbritannien mit Frankreich zusammenschließen, weil Frankreichs Bündnispartner Russland wegen des Krieges gegen Japan und der Revolution erstmal ausgefallen war, und Frankreich für Deutschland auf dem Präsentierteller gelegen hätte, wenn man es von britscher Seite nicht unterstützt hätte und dass deutsche Verhalten in der 1. Marokkrise konnte man in London schon auch für ein Vorfühlen halten, wie GB ggf. auf einen Krieg Deutschlands gegen Frankreich reagieren würde.

Zu Beginn der 1910er Jahre hatte sich Russland allerdings erhohlt und nun begann die neue Konstellation Berlin unter Druck zu setzen, weil damit ein eindeutiges Übergewicht der Entente gegeben war.
Wenn London hier die Konsequenz gezogen hätte sich aus der Entente zurück zu ziehen und wie früher zwischen den Blöcken vermittelnde Partei und ausgleichendes Pendel zwischen den Machtblöcken zu sein, hätte das möglicherweise durchaus dazu beitragen können den ganzen Schlamassel zu vermeiden.

Denn der Zweibund und die franco-russische Allianz hielten sich ungefähr die Wage. Zwar war Deutschland diejenige der beteiligten Mächte, die am stärksten boomte andererseits war das mit Deutschland verbündete Österreich-Ungarn deutlich die schwächste der 4 Kontinentalen Großmächte, so dass Deutschlands Überlegenheit gegenüber Frankreich durch die Russische gegenüber Österreich-Ungarn kompensiert wurde.


Von dieser Warte her könnte man durchaus sagen, dass der 1. Weltkrieg für Großbritannien ein "falscher Krieg" war.
Nicht wegen der unmittelbar dem Krieg vorrangegangenen Entscheidungen, sondern wegen einer fragwürdigen Bündnis-/ Blockpolitik in den 4-5 Jahren vorher, die man als krisenverschärfend betrachten könnte, was den Gesamtzustand Europas betrifft.
Dem würde ich nicht widersprechen.

Allerdings meint Ferguson wohl auch, dass selbst bei Kriegsbeginn die Notwendigkeit nicht gegeben war. Zumindest entnahm ich das damals dem Artikel oder Interview.
 
Zu Beginn der 1910er Jahre hatte sich Russland allerdings erhohlt und nun begann die neue Konstellation Berlin unter Druck zu setzen, weil damit ein eindeutiges Übergewicht der Entente gegeben war.
Wenn London hier die Konsequenz gezogen hätte sich aus der Entente zurück zu ziehen und wie früher zwischen den Blöcken vermittelnde Partei und ausgleichendes Pendel zwischen den Machtblöcken zu sein, hätte das möglicherweise durchaus dazu beitragen können den ganzen Schlamassel zu vermeiden.

Ja, ab diesem Zeitpunkt tickte die Uhr. Es war nur noch eine Frage der Zeit und des Anlasses.

Eine andere Politik Londons hätte einen Regierungswechsel erforderlich gemacht. Solange Grey und seine antideutsche Gruppe im Foreign Office herrschten, ebenso in den wichtigsten Botschaften, stand die Möglichkeit einer Mittlerposition der Briten in unerreichbarer Ferne.
 
Zudem noch angemerkt, hätte 1905 nicht noch der ungelöste Salptetermangel, wofür wohl 1914 gerade noch eine Lösung gefunden wurde, mittelfristig zu Problemen geführt, hätte man gegen Frankreich losgeschlagen und dann wohl auch mindestens das Problem einer britischen Blockade gehabt hätte? Außerdem wollte von Schlieffen ja auch noch die Neutralität der Niederlande verletzen, um Lüttich zu umgehen. Der Gedanke der Luftröhre kam ja erst von von Moltke.
 
Die kriegswirtscaftlichen Vorbereitungen Deutschlands im Jahre 1905 waren sicher nicht befriedigend. Ob die Lage Frankreichs besser war?

Schon 1904 wurden etwas über 50% aller industriellen Rohstoffe importiert. 1905 hatte sich das Reichsmarineamt bei 400 Firmen erkundigt, für wie lange sie mit Rohstoffen versorgt seien. Antwort: Mal eben für 3 Monate.
 
Was hätten die Russen denn machen sollen? Sich auf ein "Selbstmordkommando" begeben und den Untergang der Monarchie einzuleiten? Russland hätte in den Jahren nach 1905 keine Chance gehabt, den Krieg zu gewinnen. Es gab schon einen guten Grund, weshalb Petersburg 1909 in der Annexionskrise, die man durch eigene Inkompetenz erzeugt hatte, nachgegeben hatte.

Nicht die Russen, sondern die zarische Regierung, dass ist ein Unterschied.

Natürlich geht niemand freiwillig in einen Krieg, den er wahrscheinlich verliert. Aber wenn jemand die Auswahl zwischen zwei Konflikten hat, wählt er in der Regel den, bei dem er glimpflicher davon kommt.
Bei einem von der Bevölkerung gewollten verlorenen Krieg gegen das Ausland verliert ein Staat vielleicht ein Stück Land, (womit allerdings auch der Verlust einiger innenpolitischer Probleme verbunden sein kann), wenn.
Wenn die Regierung den Krieg aber als patriotische Sache verkauft und sich an die Spitze stellt, wird die Bevölkerung, vorrausgesetzt, dass der Krieg entsprechend populär ist, bei Niederlage nicht die eigene Regierung dafür verantwortlich machen, sondern den eigenen Groll auf den Kriegsgegner projizieren und regierungskritischen Gruppen, die sich während des Krieges abweichend verhalten haben, Verrat vorwerfen.

Viel schlimmer ist es für eine Regierung in der Regel einen inneren Machtkampf zu verlieren, im Besonderen wenn sie kurz zuvor auf die gegnerische Partei noch hat schießen lassen.
Außenpolitische Gegner sind in der Regel nicht daran interessiert eine verfeindete Regierung auf's Schaffott zu schicken, weil sie irgendeinen Partner brauchen, mit dem sie Frieden schließen können und der ihnen für die Einhaltung der Bedingungen garantiert.
Innenpolitische Gegner neigen schonmal dazu das zu tun.

Also kann es für eine Regierung durchaus rational sein einen populären Krieg zu führen, obwohl er wahrscheinlich verloren wird, wenn die alternative wäre wegen einer schwachen Position im Inland und einer nach Krieg schreienden Öffentlichkeit eine Revolution zu riskieren.
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Arbeitsaufgabe: Wie bekommt man die russische Öffentlichkeit anno 1905 oder 1906 dazu nach Krieg zu schreien und dem Zaren die Pistole auf die Brust zu setzen, dass er den Krieg erklären muss?

Du hast sicherlich recht damit, dass Russland als es wegen der Annexionskrise darauf verzichtete Krieg zu führen, schon wusste, warum es das tat.

Aber 1908 lag die Revolution dann auch schon 3 Jahre in der Vergangenheit und die zarische Regierung hatte inzwischen die Kontrolle weitgehend zurückerlangt, die radikalsten Revolutionäre hatten mittlerweile ins Exil gehen müssen, saßen im Gefängnis oder in der Sibirischen Verbannung.
Zwei bis drei Jahre früher, als der Zar nach der Revolution noch Kreide fressen musste um die Situation zu beruhigen, liefen die zum Teil noch frei herum.
Und letztendlich war die Annexion Bosniens und der Herzegowina (für so falsch ich sie aus taktischen Gründen halte) ein sehr begrenzter Schritt, zumal Wien die Verwaltung dieser Territorien ohnehin schon seit 30 Jahren in Österreichisch-Ungarischer Hand lag und der Schritt das Territorium irgendwann offiziell zu annektieren erwartbar war.

Was aber

- Wenn man Wien dazu ermutigt hätte diesen Schritt, bzw. die Annexion eines Teils dieses Gebiets ein paar Jahre vorzuziehen?
- Wenn man darüber hinaus einfach mal in Montenegro und in Serbien einmarschiert wäre, bzw. Wien Rückendeckung für eine solche Aktion gegeben hätte, um in Serbien die Karadordevics zu stürzen, die traditionell wienfreundliche Dynastie Obrenovic (irgendwelche Verwandten des letzten ermordeten Obrenovic-Königs hätte man sicherlich irgendwo auftreiben können) wieder einzusetzen, und Serbien einen Teil des serbischsprachpsachigen Bosnien abzutreten, und ihm auch Montenegro als Adria-Zugang zuzuschlagen, wenn im Gegenzug dafür ein offizielles Vasallenverhältnis gegenüber Wien akzeptiert würde?
- Wenn man Wien ermutigt hätte der Hohen Pforte anzubieten als Kompensation für Bosnien bei einer Wiederherstellung/Festigung der Osmanischen Oberhoheit über das Fürstentum Bulgarien als Klientel-/Vasallenstaat der Pforte und ggf. der Rückgewinnung Ostrumeliens als direkte osmanische Provinz zu helfen um damit sämtichen potentiellen slawischen Juniorpartner Russlands auszuschalten?

Wenn Nachrichten über so etwas mitten in die revolutionär aufgeheizte Situation in St. Petersburg geplatzt wären, in der ohnehin alle Parteien auf Konfrontation gebürstet waren, wie lange hätte sich der Zar, dessen Thron schon gefährlich wackelte da erlauben können den Frieden zu predigen und sich von den Slawophilen und Panslavisten vorwerfen zu lassen, die slawischen Brüder und allen Einfluss auf dem Balkan an die Österreicher und an das osmanische Reich zu verschachern?
 
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Nicht die Russen, sondern die zarische Regierung, dass ist ein Unterschied.

Die deutschfeindliche Stimmung ist nicht nur auf den Zaren und seine Regierung zu reduzieren.


Und letztendlich war die Annexion Bosniens und der Herzegowina (für so falsch ich sie aus taktischen Gründen halte) ein sehr begrenzter Schritt, zumal Wien die Verwaltung dieser Territorien ohnehin schon seit 30 Jahren in Österreichisch-Ungarischer Hand lag und der Schritt das Territorium irgendwann offiziell zu annektieren erwartbar war.

Eben. Es bestand also eigentlich fast gar kein Grund diese Krise so hochzukochen; vor allem weil Iswolski diese Krise letzten Endes durch eigene Inkompetenz herbeigeführt hatte.

Wenn man Wien dazu ermutigt hätte diesen Schritt, bzw. die Annexion eines Teils dieses Gebiets ein paar Jahre vorzuziehen?

Ein paar Jahre? Nun, während die Russen sich Asien austobten, hatte Wien an der russische Grenze und vor allem auf dem Balkan die Füße stillgehalten. 1897 haben sich Russen und Österreicher darauf geeinigt, den Staus Quo auf dem Balkan aufrecht zu erhalten. Ein Abkommen, welches den Russen sehr angenehm war, konnte man sich doch so auf das östliche Asien konzentrieren und hatte so den Rücken frei. Als dann in Asie die hochfliegenden Ambitionen krachend gescheitert waren, kam die Rückwendung nach Europa, konkreter auf dem Balkan. Ab sofort war dort wieder mit Unruhe zu rechnen.
Das Österreich-Ungarn die ganzen Jahre diese Chance nicht benutzt hatte, das haben die Russen und natürlich erst recht nicht die Serben in keinster Weise zu würdigen gewusst.

Wenn man darüber hinaus einfach mal in Montenegro und in Serbien einmarschiert wäre, bzw. Wien Rückendeckung für eine solche Aktion gegeben hätte, um in Serbien die Karadordevics zu stürzen, die traditionell wienfreundliche Dynastie Obrenovic (irgendwelche Verwandten des letzten ermordeten Obrenovic-Königs hätte man sicherlich irgendwo auftreiben können) wieder einzusetzen, und Serbien einen Teil des serbischsprachpsachigen Bosnien abzutreten, und ihm auch Montenegro als Adria-Zugang zuzuschlagen, wenn im Gegenzug dafür ein offizielles Vasallenverhältnis gegenüber Wien akzeptiert würde?

Ein interessanter Gedankengang. Nur glaube ich nicht, das sich die Monarchie dazu verstanden hätte, Serbien eigenes Territorium abzutreten. Österreich hatte die "Gelegenheit" den Balkan, zumindest Serbien und Montenegro so umzugestalten, wie es den eigenen Interessen entsprochen hätte.
Wenn Nachrichten über so etwas mitten in die revolutionär aufgeheizte Situation in St. Petersburg geplatzt wären, in der ohnehin alle Parteien auf Konfrontation gebürstet waren, wie lange hätte sich der Zar, dessen Thron schon gefährlich wackelte da erlauben können den Frieden zu predigen und sich von den Slawophilen und Panslavisten vorwerfen zu lassen, die slawischen Brüder und allen Einfluss auf dem Balkan an die Österreicher und an das osmanische Reich zu verschachern?

Das wäre für den Zarismus fatal gewesen!
 
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