Was hätten die Russen denn machen sollen? Sich auf ein "Selbstmordkommando" begeben und den Untergang der Monarchie einzuleiten? Russland hätte in den Jahren nach 1905 keine Chance gehabt, den Krieg zu gewinnen. Es gab schon einen guten Grund, weshalb Petersburg 1909 in der Annexionskrise, die man durch eigene Inkompetenz erzeugt hatte, nachgegeben hatte.
Nicht die Russen, sondern die zarische Regierung, dass ist ein Unterschied.
Natürlich geht niemand freiwillig in einen Krieg, den er wahrscheinlich verliert. Aber wenn jemand die Auswahl zwischen zwei Konflikten hat, wählt er in der Regel den, bei dem er glimpflicher davon kommt.
Bei einem von der Bevölkerung gewollten verlorenen Krieg gegen das Ausland verliert ein Staat vielleicht ein Stück Land, (womit allerdings auch der Verlust einiger innenpolitischer Probleme verbunden sein kann), wenn.
Wenn die Regierung den Krieg aber als patriotische Sache verkauft und sich an die Spitze stellt, wird die Bevölkerung, vorrausgesetzt, dass der Krieg entsprechend populär ist, bei Niederlage nicht die eigene Regierung dafür verantwortlich machen, sondern den eigenen Groll auf den Kriegsgegner projizieren und regierungskritischen Gruppen, die sich während des Krieges abweichend verhalten haben, Verrat vorwerfen.
Viel schlimmer ist es für eine Regierung in der Regel einen inneren Machtkampf zu verlieren, im Besonderen wenn sie kurz zuvor auf die gegnerische Partei noch hat schießen lassen.
Außenpolitische Gegner sind in der Regel nicht daran interessiert eine verfeindete Regierung auf's Schaffott zu schicken, weil sie irgendeinen Partner brauchen, mit dem sie Frieden schließen können und der ihnen für die Einhaltung der Bedingungen garantiert.
Innenpolitische Gegner neigen schonmal dazu das zu tun.
Also kann es für eine Regierung durchaus rational sein einen populären Krieg zu führen, obwohl er wahrscheinlich verloren wird, wenn die alternative wäre wegen einer schwachen Position im Inland und einer nach Krieg schreienden Öffentlichkeit eine Revolution zu riskieren.
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Arbeitsaufgabe: Wie bekommt man die russische Öffentlichkeit anno 1905 oder 1906 dazu nach Krieg zu schreien und dem Zaren die Pistole auf die Brust zu setzen, dass er den Krieg erklären muss?
Du hast sicherlich recht damit, dass Russland als es wegen der Annexionskrise darauf verzichtete Krieg zu führen, schon wusste, warum es das tat.
Aber 1908 lag die Revolution dann auch schon 3 Jahre in der Vergangenheit und die zarische Regierung hatte inzwischen die Kontrolle weitgehend zurückerlangt, die radikalsten Revolutionäre hatten mittlerweile ins Exil gehen müssen, saßen im Gefängnis oder in der Sibirischen Verbannung.
Zwei bis drei Jahre früher, als der Zar nach der Revolution noch Kreide fressen musste um die Situation zu beruhigen, liefen die zum Teil noch frei herum.
Und letztendlich war die Annexion Bosniens und der Herzegowina (für so falsch ich sie aus taktischen Gründen halte) ein sehr begrenzter Schritt, zumal Wien die Verwaltung dieser Territorien ohnehin schon seit 30 Jahren in Österreichisch-Ungarischer Hand lag und der Schritt das Territorium irgendwann offiziell zu annektieren erwartbar war.
Was aber
- Wenn man Wien dazu ermutigt hätte diesen Schritt, bzw. die Annexion eines Teils dieses Gebiets ein paar Jahre vorzuziehen?
- Wenn man darüber hinaus einfach mal in Montenegro und in Serbien einmarschiert wäre, bzw. Wien Rückendeckung für eine solche Aktion gegeben hätte, um in Serbien die Karadordevics zu stürzen, die traditionell wienfreundliche Dynastie Obrenovic (irgendwelche Verwandten des letzten ermordeten Obrenovic-Königs hätte man sicherlich irgendwo auftreiben können) wieder einzusetzen, und Serbien einen Teil des serbischsprachpsachigen Bosnien abzutreten, und ihm auch Montenegro als Adria-Zugang zuzuschlagen, wenn im Gegenzug dafür ein offizielles Vasallenverhältnis gegenüber Wien akzeptiert würde?
- Wenn man Wien ermutigt hätte der Hohen Pforte anzubieten als Kompensation für Bosnien bei einer Wiederherstellung/Festigung der Osmanischen Oberhoheit über das Fürstentum Bulgarien als Klientel-/Vasallenstaat der Pforte und ggf. der Rückgewinnung Ostrumeliens als direkte osmanische Provinz zu helfen um damit sämtichen potentiellen slawischen Juniorpartner Russlands auszuschalten?
Wenn Nachrichten über so etwas mitten in die revolutionär aufgeheizte Situation in St. Petersburg geplatzt wären, in der ohnehin alle Parteien auf Konfrontation gebürstet waren, wie lange hätte sich der Zar, dessen Thron schon gefährlich wackelte da erlauben können den Frieden zu predigen und sich von den Slawophilen und Panslavisten vorwerfen zu lassen, die slawischen Brüder und allen Einfluss auf dem Balkan an die Österreicher und an das osmanische Reich zu verschachern?