Es ging Russland meiner Meinung nach nicht so sehr um materielle Gewinne. Die ganze Situation war aus Sicht Petersburgs, genauer der Falken, nicht mehr erträglich.
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1908 hatte Iswolski, nicht gerade sehr umsichtig geschweige denn professionell, versucht die Lage an den Meerengen zu russischen Gunsten zu korrigieren. Zu diesem Zwecke hatte er sich mit Berchtold auf dessen Landsitz in Buchlau getroffen. Die Herren wurden sich einig. Österreich würde Russland in der Frage der Meerengen unterstützen und dafür könne es Bosnien und die Herzegowina endgültig annektieren.
Was Iswolski sträflich versäumte, war die eigenen Partner Paris und London ins Boot zu holen. Grey jedenfalls lehnte ab. Iswolski wollte jetzt nicht mehr zu seiner Zusage stehen geschweige denn von ihr etwas wissen, nämlich das Österreich-Ungarn Bosnien-Herzogewina nunmehr auch dejure in Besitz nehmen konnte. Die Folge war eine schwere diplomatische Krise
Die Niederlage in dieser Krise saß in Russland sehr tief und kostete Iswolski letztlich den Job. Die Sängerbrücke musste feststellen, dass diplomatisch sich an dem Status Quo der Meerengen nicht verändern ließe. Das ist m.E. nach falsch, denn Grey wäre über kurz oder lang dazu bereit gewesen. Und mit Wien war man sich ja schon einig geworden.
Aus Sicht der Russen durfte, wenn es Ihnen von selbst nicht möglich war, niemand anderes die Meerengen kontrollieren. Als dann Ende 1913 die deutsche Militärmission unter Liman von Sanders bekannt wurde, läuteten die Glocken bei Sasnow Sturm. Er sah die Gefahr, dass die Deutschen den Russen den Weg ins Mittelmeer versperren wollen. ......
Dazu ein paar Gedanken ..
Izvolsky hatte mit Österreich einen Deal vereinbart der ihm die zweifelhafte Aussicht auf großen Ruhm versprach, und hatte erwartet, dass dieser Deal erst dann publik gemacht wird, wenn er Gelegenheit hatte sich der Unterstützung durch Paris und London zu versichern.
Macht sich der Izvolsky also zunächst auf nach Paris, wo er am 4. Oktober eintrifft und einen Brief von Aehrenthal vorfindet, der die Annektion binnen drei Tagen ankündigt.
Das war sicher bitter, und bitterer noch, er erfährt weder in London noch in Paris Unterstützung für seinen Teil des Deals.
Und mehr als die, nun obsolete, Unterstützung für seine Pläne am Bosporus hatten die Österreicher ja nicht zugesagt.
Die noch junge Presse Russlands tobt in unverantwortlicher Weise, jedoch wirksam, und auch der Stolypin, der dem Zaren deutlich nahelegt, dass der Izvolsky nicht mehr tragbar sei.
Es gibt aber auch noch das OR, in dem ja die Meerengen liegen. Und dessen neue Regierung ist an Bosnien-Herzegowina herzlich wenig interessiert, jedoch an der Kontrolle seiner Meerengen.
Im Januar 1909 einigen sich Ö-U und das OR welches die Annektion anerkennt. Was für ein diplomatisches Wendemanöver!
Und vielleicht noch schlimmer: der deutsche Einfluss am Bosporus steigt.
Ein außenpolitisches Desaster, eine Demütigung für Russland, und ein Veitstanz um das für Russland objektiv gänzlich unbedeutende Bosnien-Herzegowina.
Die Stimmung ist ausreichend hitzig, dass die Aspekte der Kriegsfähigkeit im März 1909 im Ministerrat unter dem Vorsitz des Zaren besprochen werden. Der Kriegsminister Roediger hat den Mut klar darzustellen, dass es den russischen Streitkräfte an so ziemlich Allem fehlt um zu kämpfen.
Ach ne, Herr Kriegsminister Roediger, wie kommt es, dass unter ihrer Führung so schlechte Zustände herrschen?
Das ist ja dann die ebenso unvermeidliche wie peinliche, wie auch ungerechte, Frage.
Noch im gleichen Monat wird der korrupte Suchomlinov der Nachfolger Roedigers. ....
Der russische Kriegsminister Suchomlinow meinte ja auch, das Russland gerüstet und für dem Krieg fertig sei.
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Und als diesem gut fünf Jahre später die gleiche Frage gestellt wird, antwortet er nicht ehrlich.
Vielleicht ein spätes Gift der Bosnien-Krise.
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… ich habe gerade Lieven – The End of Tsarist Russia - gelesen und lehne mich daran an ab S. 211 .