Russland 1914: Historische Voraussetzung und der Eintritt in den WW1

Im Beitrag #270, den Du offenbar übersehen hast, wird Buchanans (UK-Botschafter in Moskau) Kurz-Bericht seiner Begegnung mit Sasonov am Nachmittag des 3. April 1914 in Auszügen vorgestellt, nachdem Buchanan vormittags den Zaren getroffen hatte:

Herr Sazonoff, den ich heute Nachmittag traf, sagte mir, dass die Äußerungen des Kaisers über Deutschland und die Meerenge auf geheimen militärischen Informationen beruhten, die richtig oder falsch sein könnten. Es bestehe jedoch kein Zweifel daran, dass Deutschland ein moralisches Protektorat über die Türkei anstrebe, und wenn es ihm gelinge, werde es dieses eines Tages in ein wirksames Protektorat umwandeln.)
Das war also der Stand Anfang April 1914 in Moskau. Wo ist da die aktuelle oder plausibel in Kürze aller Erfahrung nach erwartbare militärische Bedrohung.?

Diese Äußerung April 1914 fasst zusammen worum es geht. Nämlich dass das DR künftig die Politik des OR bestimmen könnte. Von dieser hängt in verhängnisvoller Weise die Prosperität Russlands ab, da sich der devisenbringende Weizen durch das Nadelöhr der Meerengen quetschen muss.


Deine Bemerkung scheint mir eine genauere Kommentierung meinerseits wert zu sein.

Sasonov hat gegenüber dem GB-Botschafter Buchanan Anfang April 1914 eine Argument erfunden mangels echter oder plausibler anderer, jenes, dass Deutschland ein moralisches Protektorat über die Türkei anstrebe. Kennt man 'moralische Protektorate' etwa aus der Geschichte und Geschichtswissenschaft? Zumindest mir ist ein 'moralisches Protektorat' in Politik und Geschichte noch nie begegnet, noch als geläufiges Phänomen in der - sagen wir mal - neueren/neuen Geschichte bekannt.

Ebenso wenig sind mir wissenschaftliche Arbeiten/Untersuchungen begegnet, welches das von Sasonov erfundene Gesetz einer linearen oder dialektischen Geschichtsentwicklung von einem moralischen zu einem 'wirksamen' Protektorat heraus gearbeitet und bestätigt haben.

Sasonovs Äußerung gegenüber Buchanan zeigt lediglich Placebo-Argumente, keinerlei Fakten, und Sasonovs (damals) vorhandene, schon etwas generalisierende Bedrohungsperzeption gegenüber dem Dt. Kaiserreich. Dass die 'Profis' vor Ort, in Konstantinopel, in der Türkei, genauso zur Bedrohungsperzeption fähig waren, zu Pseudo-Argumenten, zu Prognosen und Vorhersagen und (Fehl-)Einschätzungen, was die nahe, nähere und mittelbare Zukunft womöglich - in einer Art Extrapolation gegenwärtiger Ereignisse und Entwicklungen - bringen kann oder könnte, ist divers zahllose male belegt, spricht beispielsweise aus fast jeder Seite der einschlägigen Editionen. Allerdings gibt es beim Leben vor Ort eben deutlich eher zumindest die Möglichkeit, Prognosen und Perzeptionen mit dem konkreten Erleben und Erfahren und Erkennen zu vergleichen und ggf. zu korrigieren.

Siehe als typisches Beispiel die problemgeführte Prognose des russischen Militärattachés, Generalmajor Leontiev, in Instanbul zur Liman-Sanders-Mission vor Eintreffen und Arbeitsaufnahme der Militärmission, abgegeben Anfang November 1913 auf Basis inoffizieller, unvollständiger Infos und begleitenden Gerüchten.

Spätere problematisierende Überlieferungen/Prognosen von Leontiev zur Liman-Sanders-Mission oder überhaupt Äußerungen dazu, zumal ab Mitte Januar 1914 sind nicht greifbar, soweit mir bislang bekannt.
Und das gilt halt, soweit mir inzwischen seit 2015 bekannt geworden, für so ziemlich alle anderen 'Verdächtigen' vor Ort ebenso, wie beispielsweise beim russ. Botschafter Giers usw.

Das ist durchaus der Rede wert und wohl eine ziemlich valide, auch ziemlich 'sprechende' Tatsache, welche eher umgekehrt ein gewisses Licht auf die offenbar mehr abstrakte, mediale und internationale Vorstellungswelt beispielsweise in Moskauer Administrations- und Entscheiderkreisen wirft und auf die bzw. gewisse, sie repräsentierenden Personen.

Dass also Sasonovs Behauptungen oder 'Argumente' als Aufhänger vermeintlich reale Möglichkeiten der Zukunft im Fahrwasser der Liman-Sanders-Mission abbilden sollen........
 
Ich zitiere hier ein paar Wort aus den Aufzeichnungen von Bethmann-Hollweg vom 18.11.13 nach dem Gespräch mit Kokowzow

„[…] Seit Jahrzehnten seien deutsche Militärs die Instruktoren der türkischen Armee gewesen, darunter Generale von der Bedeutung eines Hobe Pascha und eines von der Goltz. Es würde ein völlige Umkehr unserer langjährigen Politik gegenüber der Türkei befolgten Politik bedeutet haben, wenn wir den Wunsch der Türkein nach Erneuerung und Ausgestaltung der alten Einrichtung abgewiesen hätten. In Vertretung unserer großen wirtschaftlichen Interessen in der Türkei, und insonderheit in der kleinasiatischen Türkei, mußten wir den größten Wert darauf legen, daß die Türkei in dem Bestande, der ihr nach dem Krieg verblieben sei, intakt erhalten werde. Eine Konsolodierung sei aber nur möglich, wenn die Armee gut organisiert würde. […]

Der Gedanke, daß Rußland an unsere Militärmission Anstoß nehmen würde, sei mir nie gekommen und sei mir auch jetzt völlig unverständlich. […].

Die gesamt türkische Flotte stehe unter der Leitung eines englischen Admirals in Konstantinopel, die Gendarmerie unter der Leitung eines französischen Generals. Mir sei nicht bekannt, daß Rußland hiergegen Einspruch erhebe. In Griechenland beherrsche England die Marine und Frankreich die und Armee. In der armenischen Reformfrage arbeiten wir Hand in Hand mit Rußland. Wir würden uns in unser eigen Fleich und Blut schneiden, wenn wir in der Militärmission eine Haltung einnehmen würden, die unseren eignen Interessen diametral entgegengesetzt sei, und die türkische Verstimmung zu unseren Schaden und lediglich zum Nutzen irgend einer anderen Großmacht nur steigern würde.

Herr Kokowzow hört mit aufmerksam zu und erklärte, daß ihm meine Ausführung in jeder Weise verständlich sei. Er bedaure nur, daß die Angelegenheit nicht mit Herrn Sasonow besprochen worden sei, dann wäre sie sofort abgetan gewesen.“ […]

Die deutsche Position wird hier eigentlich recht deutlich gemacht. Klar wird, das man auf der deutschen Seite die Dimension für die Russen nicht erkannt. Aber es geht auch im den Erhalt des türkischen Staates und um wirtschaftliche Vorteile.

Ich denke, die Deutschen wurden seiner Zeit von Russland und Frankreich, weniger von England, als bedrohlich wahrgenommen; also mussten es ihre Ziele auch sein. Den Deutschen wurde allzu schnell schon mal häufiger alle möglichen Schlechtigkeiten unterstellt.

GP Band 38, S212 ff
 
Bobroff, Roads (2006), S. 87, schreibt am Ende seines eher wenig fundierten, kurzen Abschnittes der Liman-Missions-Krise:

As the dust from this crisis settled, concern grew over turkish naval expansion. The combination of these problems gave Sasonov more leverage to advocate his Black Sea policies, which now encountered less resistance. The crisis war not so much a turning point in Russian policy as an intensification of policies already under consideration or under way.
(deepl übersetzt: Als sich der Staub dieser Krise gelegt hatte, wuchs die Besorgnis über den Ausbau der türkischen Flotte. Die Kombination dieser Probleme gab Sasonow mehr Einfluss, um seine Schwarzmeerpolitik zu vertreten, die nun auf weniger Widerstand stieß. Die Krise war nicht so sehr ein Wendepunkt in der russischen Politik, sondern vielmehr eine Intensivierung der bereits in Erwägung gezogenen oder in Angriff genommenen Maßnahmen.)

Das Unterstrichene trifft eindeutig zu. Bereits Mitte/Ende 1913 vor der Liman-Mission nahm man in Moskau die Marine-Aufrüstung der Türkei sehr deutlich und als Herausforderung bis Bedrohung zur Kenntnis, führte zu Memos usw. in den Leitungsebenen von russ. Marine + Militär sowie Politik, hier vor allem Sasonov.

@Turgot , wir hatten ja schon mal angerissen, dass die Verhandlungswünsche der russ. Entscheider über eine Marinekonvention mit GB ab März 1914 gerne, vor allem zu Beginn, von einem Anfangsimpuls in Form eines Hinweises auf die möglichen Bedrohung durch 'Deutschland' in Form seines Wirkens in der Türkei, in Konstantinopel begleitet wurden; dieser Hinweis schien deutlich offenbar doch mehr instrumentelle Funktion zu haben, als auf wirkliche, konkrete Entwicklungen und Ereignisse, sowie unmittelbar bis mittelbar sicher erwartbare Entwicklungen zurück zu gehen.

Der Rückgriff auf 'Deutschland' gegenüber den britischen Gesprächspartnern, wir hatten das gestreift, lag wohl nahe, da die türkischen Kriegsschiffe/Dreadnoughts allesamt in GB geplant und gebaut wurden - und die dafür notwendigen Marine-Offiziere und Marine-Mannschaften ebenfalls von der britischen Marine-Mission unter Konteradmiral Limpus ausgebildet wurden.

Die anderen Argumente von russ. Politikseite gegenüber den GB-Vertretern waren, wie schon gesehen, der Wink mit dem Zaunpfahl Persien und der nachhaltige Druck/Wunsch, mit GB analog zur Frankreich engere Bindungen, hier via Marine analog zu Frankreich-GB und Russland-Frankreich, zu erreichen.
 
Unter dem Datum des 19.Dezember 1913 hatte der russische Botschafter in Paris an seinem Chef Sasonow geschrieben.

"[...]Aus diesem Anlasse kann ich nicht umhin, ihnen ein recht eigenartiges Gespräch mitzuteilen, das ich mit H. Paléologue hatte. Seine Worten zufolge hat ihm der sich augenblicklich in Paris aufhaltende H.Bompard (der französische Botschafter in Konstantinopel, Anmerkung von mir) seine persönliche Meinung mitgeteilt, wir müssten, falls wir nicht auf friedliche Weise zu unserem Ziele gelangen sollten uns vom Sultan einen Ferman zur Durchfahrt unserer Panzerschiffe unserer Schwarzmeerflotte durch die Meerengen erbitten, dieses Panzerschiff in dem Bosporus einlaufen lassen und dann erklären, es würde nur nach einer Änderung des Vertrages des General Limans und seiner Offiziere abdampfen.

Auf meine Frage, ob ich diese Frage weitergeben könne, antwortete Paléologue , es stehe dem seiner Meinung nach nichts entgegen, jedoch handle es sich natürlich um eine rein persönliche Ansicht H.Bompards und die Initiative zu einer derartigen Maßnahme dürfte keinesfalls Frankreich zugeschrieben werden.

Als ich ihm sagte, der Sultan würde uns wohl kaum den besagten Ferman geben, sagte mit H. Paléologue das russische Panzerschiff könne ja auch ohne Ferman in dem Bosporus einlaufen; die türkischen Batterien würden natürlich nicht entschließen, das Feuer auf das Schiff zu eröffnen.

Ich wage nicht zu beurteilen, wie weit die Erwägungen des französischen Botschafters in Konstantinopel durchdacht sind. [...]."

Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis, Band 4
 
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