Unsinnige Lehrerfragen z.B. "Gründung des Kaiserreichs - Anfang des deutschen Übels?"

Cliomara

Aktives Mitglied
Hallo,

schon die Fragestellung ruft bei mir Unmut hervor. Was macht denn das "deutsche Übel" aus?

Schon andere Teilnehmer haben angemerkt, dass die Reichsgründung nicht automatisch zu zwei Weltkriegen und zum Nationalsozialismus führen musste.

Solche Kontinuitäten, die an die Diskussion vom deutschen Sonderweg erinnern, halte ich für gefährlich. Im Rückblick erscheinen dann Entwicklungen zwangsläufig und alternativlos.

Beste Grüße

Cliomara
 
Nachtrag: Der Unmut bezieht sich nicht auf den threadsteller, sondern auf Lehrer, die Themen so unsinnig formulieren.
 
Nachtrag: Der Unmut bezieht sich nicht auf den threadsteller, sondern auf Lehrer, die Themen so unsinnig formulieren.

Nun, wie ich zu Deiner Begrüßung schon schrieb, solche und ähnlich Anfragen gibt es hier leider zu Hauf.

Lehrer sollen heute Schüler zu denkenden Menschen erziehen, die eben nicht einfach Faktenwissen abspulen, sondern Geschichte rekonstruieren, dekonstruieren und bewerten; die Schüler sollen also kritisch mit Geschichtsdeutungen umgehen, auch mit denen ihrer Lehrer und ihrer Lehrbücher. Dazu sind polarisierende Ausgangshypothesen ganz hilfreich.
 
Hallo El Quijote,

gegen die Auseinandersetzung mit provokanten Thesen ist ja nichts einzuwenden. Zum Beispiel: "Bildete die Reichsgründung 1871 den Auftakt zu einer Entwicklung, die von Historikern als deutscher Sonderweg beschrieben wird?"

Oder man knüpft an einen Zeitungsartikel aus der Times vom Juni 1876 an, in dem sinngemäß steht, dass nun eine neue Macht in der Mitte Europas aufgetaucht sei, die sich zum Guten oder zum Bösen entwickeln könne und entwickelt daraus eine dem Unterrichtsstoff angemessene Fragestellung.

Ich hatte auch mal so ein Erlebnis als Studentin an einer Verwaltungsfachhochschule: Da wurde vor mehr als zwanzig Jahren eine "große Hausarbeit" verlangt. Die Themen erstreckten sich auf alle Fächer vom Zivilrecht bis hin zur Organisationslehre. Es hatte sich eingebürgert, dass man vorher die Professoren um Vorschläge bitten konnte; das Thema erfuhr man nicht. Ich sprach den Professor an, der auch Verfassungsgeschichte unterrichtete und er sagte mir zu, ein Thema in den Aufgabenpool einzubringen.

Der Vorschlag lautete schließlich: "Schildern Sie die Entwicklung der deutschen Kommunalverfassung seit 1789".

1789 ist für die deutsche Gemeindeverfassung kein einschneidendes Datum, und eine deutsche Kommunalverfassung gab es da sowieso nicht. Ein Vergleich zwischen der preußischen Städteordnung von 1808 und der revidierten Städteordnung von 1831 - das hätte man in vier Wochen leisten können.

Also wählte ich ein anderes Thema.


Viele Grüße

Cliomara
 
gegen die Auseinandersetzung mit provokanten Thesen ist ja nichts einzuwenden. Zum Beispiel: "Bildete die Reichsgründung 1871 den Auftakt zu einer Entwicklung, die von Historikern als deutscher Sonderweg beschrieben wird?"

Das ist doch nichts anderes als die hier formulierte Themenstellung, nur viel_ l a n g w e i l i g e r formuliert. Man kann schließlich nicht voraussetzen, dass Schüler Ahnung von der Sonderwegsthese hätten.
 
Mir fällt beim lesen der obigen beiträge nur "geschichtskonstruktion" ein.

wozu dient denn geschichte? - ganz einfach ausgedrückt: um aktuelle zustände zu legitimisieren und kontinuitäten zu sich selbst rausgepickten (rosinen)ereignissen zu legen.

abgesehen von dieser großangelegten gesellschaftlich gesteuerten geschichtsinterpretation(zb.geschichtskonstruktion bei den nazis) hat jeder mensch auch seine konstruktion, auch lehrer, die oft nicht auf dem philosophisch vorsichtigem weg interpretieren wie historische wissenschaftler. ist ja auch gar nicht ihre aufgabe, ihre aufgabe und wahrscheinlich auch motivation ist zu lehren und nicht zu forschen, da sind nun mal journalistische formulierungen ein mittel um schülerinteresse zu fangen.

also verzeihen wir den lehrern und den ihnen anhängenden schülern ihre fragen...
 
Naja, also ich erwarte von einem Lehrer, das er in einer Frage definierte Begriffe verwendet.
" deutsches Übel" ist aber nicht definiert.
 
Naja, also ich erwarte von einem Lehrer, das er in einer Frage definierte Begriffe verwendet.
"deutsches Übel" ist aber nicht definiert.

Das war vier Monate lang kein Problem, da offensichtlich jeder verstanden hat, was mit dieser griffigen Formel gemeint war.
Ich möchte auch schlicht auf den "Stille-Post-Effekt" aufmerksam machen: Das, was Schüler uns hier präsentieren ist nicht unbedingt O-Ton des Pädagogen.
 
Als Dozentin weiß ich, dass die Fragestellung dem Stoff angepasst sein muss. Aber im Unterricht in der gymnasialen Oberstufe geht es nicht um Knalleffekte wie beim "deutschen Übel", sondern um die Vorbereitung auf das Studium. Es geht um seriöses Arbeiten. Das bedeutet für mich mehr als eine Recherche bei Wikipedia. Nach dem Studienabschluss kann man sich ja bei Guido Knopp bewerben und es dann knallen lassen.
 
wozu dient denn geschichte? - ganz einfach ausgedrückt: um aktuelle zustände zu legitimisieren und kontinuitäten zu sich selbst rausgepickten (rosinen)ereignissen zu legen.

Das ist aber eine sehr magere Definition, mit der du die didaktische Funktion des Geschichtsunterrichts beschreibst. Vor allem soll er dazu dienen, die Vergangenheit zu erforschen um die Gegenwart besser zu verstehen und ein eigenständiges und kritisches historischen Denken zu fördern.
 
Der Geschichtsunterricht soll eben nicht zu Historikern ausbilden oder speziell auf das Geschichtsstudium vorbereiten, wiewohl Wissenschaftspropädeutik natürlich schon explizit erwünscht ist. Genauso wenig wie der Mathematikunterricht die Schüler zu Mathematikern oder Deutschunterricht zu Germanisten ausbilden soll. Und solang der Knalleffekt nicht um seiner selbst Willen, sondern pädagogisch-didaktisch begründet ist, dann ist er vollkommen in Ordnung. Denn der Geschichtsunterricht wendet sich ja nicht nur an die zwei Schüler, die sich für Geschichte interessieren, sondern auch an die 28 anderen.
Wenn also der Knalleffekt es schafft, einen Schüler für ein Problem zu interessieren, dann hat er seinen Zweck besser erfüllt, als das gleiche Thema, dröge formuliert.
 
Die gymnasiale Oberstufe soll für ein Studium befähigen. Schließlich wird eine allgemeine Hochschulreife im Falle des Erfolgs verliehen. Und da geht es in jedem Fach nicht nur um das Wissen, sondern eher um die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen und kritisch zu reflektieren. Es spricht nichts dagegen, hier einen interessanten Aufmacher im Unterricht zu wählen. Aber bei Präsentationsthemen ist dann Schluss mit lustig.

Als Lehrbeauftragte an einer Universität darf ich mich ab und zu mit Studienanfängern auseinandersetzen. Von daher kann ich sagen, dass so undifferenzierte Themenstellungen wie die des threadstellers durchaus vorkommen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Das Gymnasium soll in jedem Fach zur Studienreife führen. Deshalb sollte auch in jedem Fach auf eine klare Ausdrucksweise Wert gelegt werden.

Ein Lehrender, der nur mit billigen Effekten Aufmerksamkeit erreicht, hat seinen Beruf verfehlt. Lebendigen Unterricht kann man auch seriös gestalten.
 
Das ist aber eine sehr magere Definition, mit der du die didaktische Funktion des Geschichtsunterrichts beschreibst. Vor allem soll er dazu dienen, die Vergangenheit zu erforschen um die Gegenwart besser zu verstehen und ein eigenständiges und kritisches historischen Denken zu fördern.

...das, dies eine sehr magere definition ist, habe ich doch auch in meinem statement deutlich gemacht und bezog sich speziell nur auf eine perspektive, nämlich auf die geschichtskonstruktive variante "ob 1871 der anfang des übels war"

... wenn du wählst und versuchst, geschichtsbedeutung aus der perspektive des schulunterrichts zu definieren, dann gebe ich dir mit deiner einschätzung recht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Cliomara, ich würde so eine Frage so verstehen, wie du es tust und gleich anfangen, dagegen zu argumentieren (oder eben dafür). Das haben historische Fragestellungen so an sich.
Ich find die Frage eigentlich gar nicht dumm... solange ihr da wirklich drüber diskutieren könnt, denn dann hat so eine Frage Sinn. Du könntest doch einfach das sagen, was du hier geschrieben hast, das macht bestimmt beim Lehrer einen guten Eindruck. Also wenn ich so eine Frage stelle, würde ich genau sowas erwarten.
Deine Aufregung und soforttiges kritisieren und Nachdenken ist Ziel der Geschichtsunterrichts, als angehende Lehrerin würde ich mich über solche Schüler freuen und mit so einer Frage auch genau das bezwecken. Es geht überhaupt nicht darum, irgendwas reißerisches zu behaupten. Es zielt halt wirklich auf Studierfähigkeit ab. Vielleicht willst du nicht direkt Geschichte studieren, aber wenn, dann wirst du genau solche Fragen öfter vorfinden. Ein bisschen Provokation gehört dazu. ;)
 
Das Gymnasium soll in jedem Fach zur Studienreife führen. Deshalb sollte auch in jedem Fach auf eine klare Ausdrucksweise Wert gelegt werden.

Ein Lehrender, der nur mit billigen Effekten Aufmerksamkeit erreicht, hat seinen Beruf verfehlt. Lebendigen Unterricht kann man auch seriös gestalten.

@Cliomara

Natürlich müssen Fragestellungen bzw. Aufgabenstellungen seriös sein - keine Frage.

Wir hatten hier mal einen Thread eines Schülers, der die Aufgabe hatte: "Führen Sie ein Interview mit Napoleon über den italienischen Feldzug"

http://www.geschichtsforum.de/f16/k-nnte-napoleon-auf-folgende-fragen-geantwortet-haben-32786/

Ich finde das anregender als die übliche Fragestellung: "Erläutern Sie...".

O.k. für ein Oberseminar mit Studis in Geschichte ginge das nicht, aber hier geht es ja auch um Schüler.

M.
 
Ich kann die Auffassung, dass es sich um einen "billigen Knalleffekt" handele nicht teilen. Die Frage ist doch, ob die Formulierung pädagogisch-didaktisch angemessen ist. Und wenn sie den Schüler anregt, sich mit der Geschichte des Deutschen Reichs von 1871 bis 1945 zu beschäftigen und dabei verschiedene Geschichtstheorien, wie etwa die vom deutschen Sonderweg kritisch zu beleuchten, zu beurteilen und zu bewerten, dann ist die Formulierung angemessen.
 
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