Unterschiedliche Deutung der kretisch-minoischen Kultur

Ich stimme Dir schon zu, heutige Bauwerke haben meist eine vergleichsweise kurze Lebensdauer, gerade irgendwelche avantgardistischen Bauten von Stararchitekten müssen oft schon nach ein paar Jahren saniert werden. Aber: Auch wenn ein modernes Gebäude mitunter nach ein paar Jahrzehnten bereits unbenützbar wird, verschwindet es damit nicht spurlos. Sogar wenn es zusammenstürzt, bleibt zumindest das Fundament erhalten, es sei denn, es wird bewusst abgetragen.
Ebenso verschwinden auch Gebäude aus früheren Jahrtausenden nur selten spurlos. Sogar wenn sie komplett aus vergänglichen Materialien wie Holz errichtet waren, hinterlassen sie meist trotzdem Spuren im Boden.
 
Zu Ravenik#41 und El Quijote#42: Was blieb aus dem antiken Rom? Der Tourist sieht die Engelsburg, das Grabmal des Kaisers Hadrian. Hadrians Sommerresidenz Tivoli bei Rom enttäuscht: Bodenplatten, einige flache Becken, kleine wieder aufgerichtete Säulen. Neros Palast Casa Aurea wurde noch vor der Fertigstellung abgerissen, gleich nach Neros Sturz. An der Stelle von Neros Kolossalstatue wurde für Gladiatorenkämpfe das Kolosseum gebaut. Finden also Ausgräber ein Bauwerk, sollten sie nicht gleich einen Wohnpalast vermuten, wie es Evans tat. Installationen und Grabmäler sind es, welche die Zeiten überdauern.
 
Es bleibt doch ein wenig mehr aus dem antiken Rom als das wenige, das du aufzählst. Und es um einiges mehr vorhanden, als der Normal-Tourist zu sehen bekommt. Ob die Villa Hadriana enttäuschend ist, ist wohl eine sehr subjektive Sache. Und auch dort ist viel mehr erhalten, als Bodenplatten, Becken und aufgerichtete Säulen.

Kennst du die römische Insula am Kapitolshügel? Ein wunderbares Beispiel dafür, dass es nicht nur Gräber und Installationen sind, die die Zeiten überdauern!
 
Eckert, sieh' Dir mal die Ausgrabungsstelle einer römischen Stadt oder auch eines Landguts, die/das nicht später überbaut wurde, an, z. B. Carnuntum in Niederösterreich. Dort findet man genügend Überreste rein profaner Bauten.
 
An tela #47 und Ravenik #48: Die Aussage ist "Die großen Zeugen der Vergangenheit sind Tempel, Denkmäler und Grabliegen. Wohnsitze der Mächtigen, komfortabel gebaut, sind da bereits zu Staub zerfallen". Ich muß Burgen/ Festungen ausklammern. Ihr Schicksal hängt davon ab, ob ein Sieger sie selber in Besitz genommen, später hat schleifen lassen oder der Besiegte sie wieder aufgebaut hat.
Der Hinweis auf Reste einer Wohnbesiedlung (die Miethäuser am Capitol und Carnuntum in Niederösterreich) stehen der Aussage nicht im Wege. Ich bin jedoch gern bereit, sie abzuschwächen durch "im allgemeinen" oder "insbesondere" mit Dank für die Hinweise. Beispiel Indien: Sicher gibt es dort noch die Paläste früherer Moguln. Aber was die Blicke der Touristen auf sich zieht sind die Tempel in Südindien wie auch Tadsch Mahal, das indische Grabmal.
 
Nein, die Aussage war die folgende:

Zu Ravenik#44 und El Quijote#45: Was blieb aus dem antiken Rom? Der Tourist sieht die Engelsburg, das Grabmal des Kaisers Hadrian. Hadrians Sommerresidenz Tivoli bei Rom enttäuscht [...] Installationen und Grabmäler sind es, welche die Zeiten überdauern.

Und es hat mehr überdauert, als der Tourist sieht. Das ist kein Maßstab. Vor allem sind auch Touristen nicht gleich. Die einen schauen nur nach den Highlights, die anderen interessiert jeder alte Stein, der irgendwo in der Gegend rumliegt.

Und die letzte Aussage ist eben schlichtweg falsch, wie eine Unmenge an archäologischen Befunden klar und deutlich erkennbar zeigen!
 
@ Eckert:
Es geht doch nicht darum, was wie beeindruckend erhalten ist, sondern was überhaupt erhalten ist. Von den Römern hat man neben beeindruckenden Resten von Tempeln und Grabsteinen auch jede Menge Überreste von Wohngebäuden gefunden. Das zeigt, dass eben nicht nur Gebäude für Götter und Tote gebaut wurden, sondern auch für Menschen.
Wenn Du hingegen alle Gebäude, die in Pylos oder auf Kreta gefunden wurden, dem Götter- und Totenkult zuordnest, dann sagst Du damit implizit, dass die Menschen, sogar die Oberschicht, für sich selbst nur Hütten aus vergänglichen Materialien gebaut hätten - wobei aber sogar von solchen Gebäuden im Boden Spuren erhalten bleiben. Die Könige und Adligen von Kreta und Pylos müssten also obdachlos gewesen sein, damit die Archäologen wirklich nichts an Behausungen für Menschen finden können.
 
An Ravenik #51: Danke für den Hinweis! obwohl wiederholt vorgetragen, von mir bisher nicht schlüssig beantwortet. Eine starke Frage, wo sind die Wohnsitze der Reichen? Gesetzt die Paläste zur kretisch-minoischen Zeit wären die Gedenkstätten der Reichen und das beliebte Ausflugsziel der Bevölkerung. Dort Gedenkfeiern, Feste mit Wagenrennen, Tanzvorführungen und kostenlosem Essen. Dafür freigebige Sponsoren, die sich gegenseitig überbieten. Waren die Sponsoren Kriegsherren? Im allgemeinen sitzt der Reichtum eher bei den Handelsherren und Kapitänen der Handelsschiffe. Wo wohnen diese? Neben ihrem Warenlager am Hafen.
Dazu wären Häfen zu untersuchen, die seit 1500 v.Chr. nicht zu stark überbaut wurden. Einige in der Ägäis stehen heute durch Senkung des Landes gegenüber dem Meeresspiegel unter Wasser. Besonders wichtig ist die Grabungsstätte Akrotiri auf Santorin. Dort werden unter dem Bimsstein (ähnlich Pompei) Hafenanlagen aus dieser Zeit freigelegt. Nochmals danke für die gute Frage!
 
Eine ganze reihe von Vemutungen in dieser Antwort:
Gesetzt...
im allgemeinen...
Auch das reiche Handelsherren neben ihrem Warenlager wohnen, ist fraglich.

Aber wenn du bei einem minoischen Hafen ein Haus findest, dass du einem reichen Handelsherren zuweisen willst, dann bin ich auf die entsprechende Argumentation sehr gespannt, woran du diese Zuweisung dann festmachst!
 
An tela, 50#: Das ist ein guter Ansatz, nämlich ein Prüfstein für die ganze hier vorgetragene Deutung der Paläste als Stätten von Ahnenverehrung / Totenkult. Dort in der Grabungsstätte Akrotiri auf der Insel Santorin dürfen daher die Gerätschaften und Wandmalereien nicht auftauchen, die in den Palästen gefunden wurden. Das sind Trankspender aus Marmor oder Kristall in Form eines Stierkopfes, die Ausflußöffnung zwischen den Zähnen. Auch die obligate Tonwanne mit Spiralmuster muß fehlen.
Die Funde stimmen optimistisch: Statt Stierdarstellungen Wandmalereien, die zwei Gazellen darstellen. Dazu das große Wandbild "Schiffsprozession". Auf diesem sind Schiffe dargestellt, eines sogar bei der Havarie an der Hafenmauer. Wie gesagt: Guter Denkansatz, danke!
 
Nachtrag zu #49: Wieso wird überhaupt mit der Ahnenverehrung in den Palästen so ein Kult getrieben? Die Antwort: Es sind die Reichen, die das tun. Nämlich für einen gehobenen Friedhof sind die Paläste zu klein. Bei einem Betrieb von ca. 400 Jahren und etwa 400 Tonkrügen (gesetzt: Sarkophage) heißt das nur ein Neuzugang pro Jahr. Die jeweiligen Orte am Hafen haben aber ca. 50.000 Bewohner, d.h. jährlich tausend Verstorbene. Nur ein Promille der Bevölkerung kommt in den Palast.
Es ist wohl die Dankbarkeit der Erben wie auch etwas Selbstdarstellung dabei. Zusätzlich wird auch der Segen der Eltern erfleht für eine glückliche Seereise und weiteren Geschäftserfolg. Schön, daß die gesamte Bevölkerung daran teilhaben kann!
 
Wieso wird überhaupt mit der Ahnenverehrung in den Palästen so ein Kult getrieben?

Die Frage erübrigt sich, da in den Palästen vor allem Waren produziert, gesammelt, verteilt und gelagert wurden, wobei eine Tempelwirtschaft ähnlich wie in Vorderasien anzunehmen ist. Ferner ist z.B. im Palast von Knossos die Abhaltung kultischer Feste und Rituale wahrscheinlich. Aus diesem Grund hat Knossos als Produktions- und Verteilerzentrum eine umbaute Fläche von etwa 20 000 m² und über 700 Räume inmitten eines Gebäudeensembles von bis zu 5 Stockwerken.

Grabstätten aus minoischer Zeit gibt es auf Kreta allerorten. In Sitia, Sotira, oder Mathia (Pediados) findet man Gräber unter dem Fels; in Kamilari (Pyrgiotissis) wurde die Beisetzung in einem großen Kuppelbau, der so genannten Tholos, wiederaufgenommen, die seit mehreren Jahrhunderten aufgegeben war.

Normalerweise wurde der Verstorbene in einem Ton- oder Holzsarkophag bestattet, das Behältnis danach in Erde, Sand oder Asche eingegraben. häufig auf dem Grund einer mit Platten ausgelegten Grube. Gefäße aller Art mit Essen und Trinken wurden beigegeben, je nach dem Vermögen der Familie des Verstorbenen.

In anderen Gegenden höhlte man den weichen Kalkstein am Abhang eines Hügels aus und stellte die Tonsarkophage oder bemalten Holzsärge in eine Art Grabkammer mit unregelmäßiogen Wänden, die man verschloss, nachdem ein Haustier geopfert und sein Fleisch verbrannt worden war.

Schließlich war noch ein Grabtypus gebräuchlich, der eine Synthese dieser beiden zu sein scheint. Das war ein senkrechter Schacht, der am Grund mit einer Seitenkammer versehen war.

Man muss also keinen Palast als angebliche Nekropole bemühen, um auf die Gräber der minoischen Kreter zu stoßen, die sich überall auf der Insel finden.
 
An Dieter, #53: Die Paläste stehen alle landeinwärts bergauf, einige Kilometer von der Küste entfernt. Uns Heutigen ist das gleich. Aber in der Bronzezeit hatten sie für einen Warenvertrieb einen Standort-Nachteil. Als kleinräumige verwinkelte Anlagen gilt das Gleiche für eine Warenherstellung, vor allem, für welche Waren? Hier wird die These vorgestellt, sie seien Gedenkstätten für eine kleine reiche Oberschicht, welche die Bevölkerung daran teilhaben ließ. Gegenstände des Totenkults (die erwähnten Trankspender) wie auch die gefundenen Sarkophage (z.B. Agia Triada) deuten auf Verehrung verstorbener Angehöriger, wohl die eigenen Eltern. Heute sind Einbalsamierungen nicht üblich, damals wurde der Abschied verlängert und erleichtert.
Warum aber solche Paläste, wo es doch die verschiedenen Bauformen #56 gab? Ich denke, das kam von den Bevölkerungszentren am Meer. Hier lebten (so die These) wohlhabende Handelsherren und Schiffseigner, welche für die Allgemeinheit Feste veranstalteten.
 
Gegenstände des Totenkults (die erwähnten Trankspender) wie auch die gefundenen Sarkophage (z.B. Agia Triada) deuten auf Verehrung verstorbener Angehöriger, wohl die eigenen Eltern.
Dass es sich um Gegenstände des Totenkults und Sarkophage handelte, ist ja strittig (und wird von der Forschung mehrheitlich abgelehnt). Solange das nicht bewiesen ist, kannst Du sie nicht als Beweis dafür nehmen, dass die Paläste in Wahrheit Nekropolen für den Totenkult waren.
 
Warum aber solche Paläste, wo es doch die verschiedenen Bauformen #56 gab? Ich denke, das kam von den Bevölkerungszentren am Meer. Hier lebten (so die These) wohlhabende Handelsherren und Schiffseigner, welche für die Allgemeinheit Feste veranstalteten.

Der 1974 verstorbene Geologe Hans Georg Wunderlich vertrat diese These, dass Knossos eine einzige Nekropole sei. Dazu gilt:

Wunderlichs Kritik rief einen langwährenden wissenschaftlichen Streit hervor, gilt heute aber als Außenseitermeinung und wird für weitgehend widerlegt gehalten.

Hans Georg Wunderlich ? Wikipedia

Dem kann man sich nur anschließen.
 
An Dieter #56: Ich freue mich, daß dieses Zitat genannt wird. Außenseitermeinung -ok. Aber bei der Durchsicht von Fachliteratur über Kreta, Ägäis usf. in der Bronzezeit fehlt eben diese Widerlegung. Ich wäre an Belegen interessiert. Weißt Du etwas näheres?
 
Das ist eben das Schicksal von Außenseitermeinungen, dass sich nicht jede Fachpublikation die Mühe ihrer ausführlichen Widerlegung macht, sondern die Seiten lieber mit der Darstellung des wissenschaftlich vertretbaren Wissensstandes füllt.
 
Der Eintrag in wikipedia "Wunderlichs Kritik...gilt heute als Außenseitermeinung und wird für weitgehend widerlegt gehalten" ist zwar vollmundig, aber letztlich unbewiesen. Ravenik in #4 stimme ich gern zu: Wer etwas Neues bringt, muß beweisen oder seine These glaubhaft machen. Wenn Fachwissenschaftler sich nicht äußern wollen, ist es wohl auch die Ehrfurcht vor dem Werk von Arthur Evans und den vielen, die seine Thesen übernommen haben. Hier hat der Außenseiter seine Chance. Er kann unbelastet von früheren Erklärungsversuchen neue Thesen aufstellen und sich der Diskussion stellen: Auf ein Neues!
 
Wenn Fachwissenschaftler sich nicht äußern wollen, ist es wohl auch die Ehrfurcht vor dem Werk von Arthur Evans und den vielen, die seine Thesen übernommen haben.

Die von dir zitierten Fachwissenschaftler haben in unzähligen Publikationen die Funktion der minoischen "Paläste" als wirtschaftliche und kultische Zentren anhand archäologischer Funde analysiert und beschrieben. Dem steht die Einzelmeinung des Geologen Wunderlich gegenüber mit einer abweichenden Interpretation der Funde; und so kann jeder selbst entscheiden, welcher Argumentation er folgen will.
 
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