Ich gehe hier auf Amalaswinthas Beitrag ein und ab morgen chronologisch auf die anderen Antworten (bin z.Zt. mit der Übersetzung eines wichtigen religionswissenschaftlichen Buches ins Englische ausgelastet).
Weshalb soll das spätere Christentum kein Christentum sein? Jede Religion durchläuft Entwicklungen. Auch der Islam ist heute nicht mehr das, was er einmal war bzw. man sieht was verblendete Ewiggestrige damit anrichten, indem sie das Rad der Zeit zurückzudrehen versuchen..
1)
Deine Abwertung des "Gestrigen" kann ich in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehen. Grundlegend für Offenbarungsreligionen sind die vorgeblichen ´Offenbarungen´, also jene Texte, in denen der Religionsstifter persönlich bzw. pseudo-persönlich zu Wort kommt und die Grundzüge seiner ´Einsichten´ offenlegt. Spätere Entwicklungen sind Produkte von Menschen, die sich keiner göttlichen Inspiration rühmten, sondern als Text-Interpreten fungierten, aber außertextliche Aspekte in die Deutung hineintrugen. Die dogmatischen Entwicklungen in beiden Religionen waren stets von Dissens zwischen Interpreten bzw. Interpretationsschulen in Bezug auf den vorgeblich ´wahren´ Gehalt der Offenbarungstexte bestimmt, nicht selten auch gewalttätige Interaktion involvierend (z.B. die Schlägertrupps des Athanasius, der eine entscheidende Rolle beim Konzil von Nizäa spielte). Eine ´Entwicklung´, wie sie dir als
Weiter-Entwicklung vorzuschweben scheint, kann ich nicht erkennen, sofern Weiter-Entwicklung bedeutet, dass durch sie die ´Wahrheit´ der Urtexte deutlicher ins Licht tritt. Im Christentum ist unverkennbar, dass philosophische Aspekte in die Theologie hineingetragen wurden, die der (hypothetische) Religionsstifter bei seinen (hypothetischen) Predigten mit Sicherheit nicht zur Sprache brachte und die er vermutlich, schon aus Gründen mangelnder Bildung, auch nicht im Sinn hatte.
2)
In meiner Darstellung bzw. Sicht der Dinge gibt es keinen formalen Unterschied zwischen einer ´Urlehre´ und späteren Dogmatiken. Die ´Urlehre´ ist nichts anderes als die keimhafte erste Dogmatik. Die behauptete Gottessohnschaft ist ein zentrales Element der ´Urlehre´, gleich wann und durch welchen Personenkreis diese geschaffen wurde. Einen Menschen als veritablen Sohn ´Gottes´ anzuerkennen und zu bezeichnen, ist nun einmal dogmatisch, d.h. ein objektiv unbeweisbarer religiöser Grundsatz. Dass dieser Grundsatz einem wichtigen Grundsatz der altorientalischen Königsideologie (König = Sohn eines Gottes, z.B. in Ägypten: Pharao = "Sohn des Re" in der Königstitulatur) eins-zu-eins entspricht, ist in der Religionswissenschaft kein Geheimnis. Hier erkennt man ein Prinzip, das in Sumer erstmals um 2500 beim König von Lagasch, Eannatum, nachweisbar ist ("Sohn des Gottes Ningursu") und, wie gesagt, in Ägypten gleichfalls eine lange Tradition hat.
Ursprünglich scheint dieser Glaube die
Adoption des JC zur Gottessohnschaft beinhaltet zu haben; die davon stark abweichende Deutung des JC als
präexistenter Logos ist eine sekundäre Entwicklung, die im Joh Ev, dem spätesten der Evangelien, dank der vom Autor höchstwahrscheinlich rezipierten philonischen Logoslehre zum Ausdruck kam.
3)
Dein Argument, dass jene das "Rad der Zeit zurückdrehen", die bei Ablehnung neuerer Dogmatik am (wie du schreibst) "Ewiggestrigen" festhalten, überzeugt mich nicht, denn je weiter sich eine auf ´Offenbarung´ basierende Glaubensgemeinschaft historisch von der ´Quelle´ entfernt, desto weiter entfernt sich die Lebenswelt und der kulturelle Horizont der Gemeinschaft vom originalen ´Ideengut´, wie auch immer dieses beschaffen gewesen sein mag. Das belegen z.B. die extrem unterschiedlichen Lebenswelten des (hypothetischen) Wanderpredigers Jesus und der in Rom und in Alexandria, den bedeutendsten Kulturmetropolen jener Zeit, wirkenden Kirchenväter, die wegen dieser Differenz gezwungen waren, die philosophisch unprätentiöse (hypothetische) Lehre ihres Idols mit dem hohen philosophischen Anspruch römischer und alexandrinischer Intellektueller zu versöhnen - was zur Hellenisierung des Christentums, d.h. zu seiner Transformation in das Christentum II führte.
Aus den NT-Texten lässt sich ein originales und kohärentes Ideengut nicht unzweideutig herausfiltern, da andernfalls keine Deutungsdifferenzen beständen. Das Problem ist vor allem, dass die Zweideutigkeit schon in den Texten steckt, sie wird durch die konträren Interpretationen nicht erzeugt, sondern drückt sich in ihnen aus. NT und Koran enthalten Zweideutigkeiten bzw. Widersprüche am Fließband. Im Islam hat das zu der exegetischen Praxis geführt, dass, wenn zwei Verse sich widersprechen, der später entstandene Vers den früheren aufhebt mit der Begründung, dass Mohammed geistig gereift sei. Es handelt sich um das sog. Abrogationsprinzip, ein ab dem 8. Jh. einsetzendes Verfahren islamischer Gelehrter, die Koran-Verse aus der frühen mekkanischen Zeit durch die Geltung der späteren Koran-Verse aus medinischer Zeit außer Kraft zu setzen. Hier gilt durchaus, dass das Spätere dem Früheren überlegen ist, aber nur in Bezug auf die ´geistige´ Entwicklung Mohammeds. Für die historische dogmatische Entwicklung kann das nicht zwingend gelten, weder im Christentum noch im Islam.
(Allerdings sollten wir das Islam-Thema in diesem Thread nicht breit treten)
Was Du mit der Veränderung beschreibst ist doch eher die äußere Struktur, aber nicht die eigentliche Essenz dessen woran man als Christ glaubt und wonach man handeln soll und diese Botschaften sind einfach und gelten heute wie vor 2000 Jahren..
Damit drehen wir uns im Kreis. Jetzt müsstest du nachweisen, was im NT die "eigentliche Essenz" ist. Gerne wird behauptet, dass ´Liebe´ die Kernbotschaft sei. Leider sprechen einige Textstellen sehr deutlich gegen diese Annahme, nicht zuletzt durch die vom Protagonisten JC oftmals (über 30 x) ausgesprochene Androhung einer Höllenstrafe für Ungläubige. Ich will das hier aber nicht inhaltlich diskutieren, sondern auf diese Weise nur auf inhaltliche Widersprüche in den Texten hinweisen. Der
Wert der Gesamt-Message ist - darüber hinaus - gänzlich abhängig vom Status des Verkünders. Genau dieser Status ist das Thema der dogmatischen Auseinandersetzungen im christologischen Bereich. Priorität gegenüber der Bestimmung der "Essenz" hat daher aus christologischer Sicht, den Status des Verkünders zu bestimmen.
Nochmals zum Gottessohnstatus des JC: Wird er von ´Gott´ adoptiert und zur Sohnschaft erhoben (z.B. ab Taufe oder ab Auferstehung) oder ist er der präexistente Logos?. Für beide Varianten gibt es Bezugspunkte im NT, wobei die Adoptionsvariante als die entstehungsgeschichtlich frühere anzusehen ist. Sie findet sich auch in den Paulusbriefen (Phil, Röm). Beide Auffassungen sind von zentraler Bedeutung für den Unterschied von Christentum I und II, da sie die unterschiedlichen Bedürfnisse der frühen (nur plebejischen) und späteren (auch bürgerlich/aristokratischen) christlichen Lebenswelten widerspiegeln.
Das andere Äußere was Du mit der Veränderung beschreibst, ist doch eher das Ergebnis einer Bestrebung diese Inhalte in eine dogmatische Struktur einzubetten und damit kompatibel zu machen. Das heißt, dass das Christentum frauen- und sexualitätsfeindlich wurde, das ist nicht Teil der Lehre Jesu, soweit sie eruierbar ist, sondern das ist klar das Ergebnis anderer wie z.B. die von Dir zitierten Paulus und Augustinus..
Die "Lehre Jesu", wie du das nennst, ist im Zusammenhang der Frauenfrage selbst Teil der im alten Orient gängigen Praxis der Frauenunterdrückung. Dass der Protagonist der Evangelien eine relativ weiche Linie gegenüber Frauen fährt, verdankt sich dem vermutlich gnostischen Ursprung vieler christlicher Ideen; die Gnosis praktizierte, im Unterschied zum Judentum, der anderen Quelle des Christentums, eine relative Wertschätzung des weiblichen Geschlechts sowohl in der Gemeindepraxis als auch in den theologischen Konzepten (es gab gnostische Göttinnen wie z.B. die Mutter des himmlischen Christus, Barbelo, und Sophia, die Mutter des Demiurgen Jaldabaoth).
Das Christentum freilich, eine Mixtur aus Judentum und Gnosis, eliminierte im Anschluss an das Judentum die gnostische Bedeutung des Weiblichen zur Gänze. Alle religiös relevanten Figuren in den Evangelien - Jesus und die Apostel - sind Männer; den beteiligten Frauen kommt nur eine Statistenrolle zu. Ganz selbstverständlich ist der Verkünder der ´absoluten Wahrheit´ ein Mann (JC), wie auch dessen ´Vater´, Jahwe/Gott, maskulin ist. Das Judentum hatte als erste Religion die Göttin aus dem religiösen Denken verbannt. Das kommt den meisten Menschen heutzutage ganz selbstverständlich vor, weil sie in diesem Punkt das christliche Denken verinnerlicht haben (auch als Atheisten), allerdings ist es
nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer politisch-dogmatischen Entwicklung über Jahrtausende hinweg, die im Juden- und Christentum kulminierte. (Freilich gibt es Inkonsequenzen, im Judentum in der Weisheitsliteratur in Gestalt der Jahwe-Gefährtin Sophia aka ´Chokmah´ = eine Adaption der ägyptischen Göttinnen Ma´at und Isis, und im Christentum, ab dem 5. Jh., in Gestalt der religiös überhöhtenn ´Maria´, der wichtige Züge der Göttinnen Isis - Gottesmutter - und Artemis - Heilgöttin - verliehen wurden).