Zur Moderne
Ich moechte erstmal meinerseits vier Thesen zum Aufstieg Europas aufstellen, bevor es dann zum Fakten-Nahkampf uebergeht.
1. Der Aufstieg Europas begann nicht erst am 12. Oktober 1492, sondern bereits schon Jahrhunderte zuvor und zwar auf breiter Front. Geeignete Anfangspunkte koennen Romanik (11. Jh.) oder Gotik (12. Jh.) sein, weil die Errichtung dieser Bauwerke bereits eine komplexe Arbeitsorganisation (Spezialisierung), eine differenzierte Sozialordnung, eine sehr fortschrittliche Technikkenntnis (Statik) und einen ausgepraegten Willen zum Groesseren, Besseren und Schoeneren offenbarte (Zivilisation).
2. Der Abstieg anderer Kulturkreise begann schon vor den Entdeckungsfahrten. Die Gruende sind mannigfaltig und von Fall zu Fall verschieden, aber es ist wahr, dass die ganz grosse Zeit des Islam, Indiens oder Chinas schon vorbei war, als die ersten Europaer im 16. Jh. anlandeten und sich mindestens partielle Stagnation breitgemacht hat. Ich will da nur eine Frage stellen: Man nenne mir eine technologische Basiserfindung aus Asien nach 1250? Einzig die amerindischen Kulturen hat es auf ihrem kulturellen Hoehepunkt kalt erwischt.
3. Dieser relative Niedergang wurde durch militaerischen Einsatz der Europaer im Westen (Amerika) und durch Handelskonkurrenz im Osten (Indik, Pazifik) beschleunigt. Waehrend es den Portugiesen gelang, den internationalen Gewuerzhandel ungefaehr zur Haelfte in die eigene Hand zu bringen, hatten die Hollaender ab dem Mitte des 17. Jh. faktisch das Monopol auf Nelken und Muskatnuesse und den Loewenanteil bei Pfeffer (Anthony Reid: An Age of Commerce in Southeast Asian History, S.11; sowie sehr interessant:
http://www.economist.com/displayStory.cfm?Story_ID=179810 )
4. Mit der Industrialisierung (ab circa 1750) und den Ideen und Auswirkungen der Frz. Revolution (1789) wurde die Lage fuer die aussereuropaeischen Voelker
komplett hoffnungslos. Die Industrialisierung stellt den dritten grossen Quantensprung in der Menschheitsgeschichte dar. Aber im Gegensatz zum Uebergang zum Ackerbau (1. Revolution) und zur Stadtkultur (2. Revolution) ist die 'Erfindung' der Industrialisierung ein Prozess der nur einem einzigen Kulturkreis gelungen ist. Alle anderen Voelker haben diese Erfindung vom europaeischen Modell kopiert, wobei der springende Punkt ist: Sie haben es
kopieren muessen, um physisch ueberleben zu koennen. Das heisst: Die Moderne ist westlich. Modern sein heisst westlich zu sein. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt, die zu den Bedingungen der westlichen Kultur funktioniert.
Die entscheidende Frage ist, ob man westliche Technologie auch uebernehmen und verbessern kann, ohne westlich
denken zu muessen? Das ist ein fast unendlich weites Feld, aber ich moechte es so formulieren: Man kann zwar ein Auto fahren, ohne westliche Werte und Einstellungen zu unterschreiben, aber man kann es ohne diese nicht bauen und weiterentwickeln.
Effizienz, Effektivitaet, Zeitmanagement, das Ideal des 'Funktionierens' wie ein Uhrwerk, der Wille zur Entwicklung, das Konkurrenzdenken, Erfolgsdenken, Rationalitaet, eine kritische Geisteshaltung gegenueber Autoritaeten, die Ueberpruefbarkeit des Wissens anhand von nachvollziehbaren Kriterien, die Messung der Natur mit quantitativen Mitteln, das Experiment, der konstruktive Dialog, die Tolearnz des Andersdenkenden, die Akzeptanz der Pluralitaet von Meinungen, u.v.m., das
alles ist als kulturelles Gesamtpaket europaeisch. Und wer diese Werte nicht beachtet, geht in unserer Welt unter. Was nichts anderes heisst: Wer sich nicht ureigene europaeische Werte als seine eigenen aneignet, egal ob Japaner, Inder oder Senegalese, wird, jedenfalls nach materiellen Gesichtspunkten, nicht das beste aller Leben fuehren koennen.
Jetzt kann man natuerlich reagieren, indem man darauf hinweist, dass es schon zum Bau der Pyramiden Effizienz bedurfte, und dass schon der Steinzeitmensch ein Zeitmanagement brauchte, um zum Abendessen rechtzeitig in die Hoehle zurueckzukehren. Richtig, aber genau da setzt meine Kritik an. Sowas wuerde nur ein Relativist sagen. Frei nach Goethes Motto: Es ist alles irgendwie schonmal gesagt und getan worden. Stimmt auch, aber eben auch nur
irgendwie.
Ich wuerde dem entgegenhalten, dass der Relativist hier einfach einen Mangel an begrifflichem Unterscheidungsvermoegen an den Tag legt. Um mal mit Analogien zu antworten:
- Natuerlich gab es bereits vor der Industrialisierung industrielle Prozesse (Nutzbarmachung von Wind und Wasser im Gegensatz zur Muskelarbeit: Wassermuehlen, Windmuehlen, Segelschiffe), aber
die Industrialisierung als Prozess ist trotzdem eine ureuropaeische Sache.
- Natuerlich gab es bereits vor dem Nationalismus nationale Elemente bei den Voelkern (Heimatverbundenheit, Liebe zur eigenen Sprache und Kultur, Misstrauen und Abschaetzigkeit gegenueber Leuten von ausserhalb), aber der Nationalismus als Ideologie ist trotzdem eine ureuropaeische Sache.
- Natuerlich gab es bereits vor der wissenschaftlichen Revolution (16./17.Jh.) bei anderen Voelkern und Kulturen Anzeichen fuer Empirismus und Nutzbarmachung der Wissenschaft fuer technische Erfindungen, aber die wissenschaftliche Revolution als systematisch verfolgter Proezess ist trotzdem eine ureuropaeische Sache.
Und dasselbe gilt, um jetzt den Bogen zurueck zu schlagen, auch fuer die Globalisierung urspruenglich rein europaeischer Werte und Geisteshaltungen.
Der einzige Grund, warum diese Europaeisierung des Geistes heutzutage nicht mehr so wahrgenommen wird, ist, dass sie schon so stark internalisiert ist in den Mittel-und Oberschichten dieser Welt. Aber der Ursprung dieser Idee ist und bleibt eben europaeisch.