Nachdem ich vorgestern im halbwegs "kurzen" vorbeischauen ein mehr oder weniger aus dem Kontext gerissenen Beitrag kommentierte, las ich nun einmal Deinen höchst vorzüglichen Beiträge nach.
Ich möchte die in meinem vorigen Beitrag hingeworfene Skizze mit theoretischen Überlegungen über das Motiv ergänzen, welches das von mir ad hoc so genannte "humanistisch-demokratische Wir" dazu antreibt, aus der Geschichte zu lernen. Es kann sicher nicht schaden, sich dem Thema mit einer ausformulierten Theorie zu nähern, da ein nicht-theoretischer Zugang immer Fragen über nichtgenannte Prämissen u. ä. aufwirft.
Meiner ´Theorie´ lege ich die Theorie der Erkenntnisinteressen zugrunde, die Jürgen Habermas 1968 in seinem Werk "Erkenntnis und Interesse" präsentiert hat. Der `Erkenntnistrieb´ des Menschen, so Habermas, ist Ausdruck der in seinem Geist angelegten Vernunft (Rationalität).
Ich bin begeistert, weil auf ein wichtiges Buch hingewiesen wird. Du hattest in gewisser Weise in deinem vorhergehenden Beitrag beachtlich dekonstruiert:
Aus all dem folgt, dass die Frage, was "wir (oder "man") aus der Geschichte lernen kann", logisch fragwürdig ist, denn sie impliziert bereits einen großen Teil der Antworten. Ein humanistisch-demokratisches "wir" kann aus der Geschichte ´nur´ lernen, wie das Humane und Demokratische das Inhumane und Nichtdemokratische überwinden kann. Alles andere wird als nutzlos ausgeschieden.
Nun versprichst du, das antreibende Motiv des von dir spontan eingeführten Kollektivs zum Lernen aus (seiner) Geschichte darzulegen, indem du auf eine Theorie zurückgreifen möchtest. Schreibt aber Habermas wirklich - wie auch immer parenthetisch - von einem Erkenntnistrieb, selbst Manifestation eingeborenen Vernunft?
Nun hielt er eingestandermaßen die Erkenntnistheorie seit Kant für nicht begriffen, und reflektiert Hegel, von dem er die Idee der Selbstreflexion übernimmt, über Marx, aus dessen Gesellschaftstheorie er Objektivation eines nicht-menschlichen Naturbegriffs entlehnt - während er ihm aber wohl ein positivistisches Menschenbild vorwirft. Während mir die Kritik an Marx bzw. die einseitige Lesart durch Habermas als ich sein Buch durcharbeitete vielleicht nicht so negativ auffiel, wie es es jetzt nach der Kurzdarstellung von Alessandro Pinzani (2007, S.68 f) feststellen muß, hatte ich ihn anscheinend auch hinsichtlich Hegel weniger idealistisch wahrgenommen - oder ich hielt es persönlich nicht so kritikwürdig in Anbetracht einer betonten Grundlegung einer Selbstreflexionsatzes der Wissenschaften in emanzipativer Absicht; aber spätestens, als es um Pierce ging, konnte ich nur mehr hinnehmen, was er dazu sagte.
Aber es ist schon so: er verfolgte ein transzendentalphilosophisches Projekt, dem ich sicherlich gerne folgen wollte: daß der Mensch an sich vernunftbegabt sei und durchaus in einem universellen Sinne - und das wollte ich gewiß akzeptieren, denn in die "sorgfältig durch Erziehung [...] hergestellte Dummheit" (A. Mitscherlich) hatte ich wohl zu wenig Einsehen und warb für ein Aufklärungsideal.
Er schreibt in EuI (S.242)
Interessen nenne ich die Grundorientierungen, die an bestimmten fundamentalen Bedingungen der möglichen Reproduktion und Selbstkonstitution der Menschengattung (…) haften. Jene Grundorientierungen zielen deshalb nicht auf die Befriedigung unmittelbarer empirischer Bedürfnisse, sondern auf die Lösung von Systemproblemen überhaupt.
Durch deine Zitation ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen und bei Gelegentheit muß ich die Thesen seines Buches, die dir als Quelle dienen, mit denjenigen aus der Frankfurter Antrittsvorlesung auf vormaligen Lehrstuhl Horkheimers für Phil. & Soziologie vom 28. Juni 1965, die im selben Jahr publiziert wurde seine Prolegomenon,* vergleichen, denn mich überrascht einerseits der Systembegriff, der sozusagen seine Auseinandersetzung mit Luhmann vorbereitet; andererseits die Rede von Problemlösung, die quasi auf Popper anzuspielt, dem er früher noch die Dialektik näher hatte bringen wollen und den er noch 1971 über Geltungschwierigkeiten der Aussagenlogik gerne belehrt hätte.
Wie aber auch dem sei, die Diskrimination von Grundorientierung will ich einmal hinnehmen, um nun vorläufig auch deinen Vorschlag weiter zu verfolgen.
Die Grundorientierungen (erkenntnisleitende Interessen) knüpfen zwar an grundlegende Bedingung an - "(nämlich Arbeit & Interaktion)", aber zielen nur mittelbar auf Bedürfnisbefriedigung. Du führst nun drei dieser Interessen auf:
1) die technischen Interessen - es sind diejenigen, die sich im ökonomischen Bereich entwickeln - auf erkenntnistheoretischer Ebene entspricht ihm ein "empirisch-analytisches" oder "technisches" Erkennen, wie du herausarbeitest, das sich mit "der technischen Instrumentalisierung der nicht-menschlichen Natur durch die menschliche Gesellschaft [befaßt]";
2) die hermeneutischen Interessen, die in sozialen Verhältnissen des kommunikativen Verständnisses entstehen. Badura (1970) läßt sich entnehmen, daß sie auch als "praktische" angesprochen werden könnten und sich auf Handlung beziehen.** Auf erkenntnistheoretischer Ebene entspricht ihm nach deiner Angabe das "[h]ermeneutische Erkennen", das "auf das Erfassen von politisch und kulturellen Kontexten [geht]" und deren "Zusammenhänge" werden von dir als "wert-neutral" analysierbar angegeben.
3) diejenien Interessen, die auch du hier als zentral herausstellen wolltest: die empamzipativen, die sich nach deiner Darstellung direkt auf Herrschaftsverhältnisse beziehen. Erkenntnistheoretisch richte sich die "kritische Reflexion [...] auf die Analyse von Pathologien im Gewebe der intersubjektiven Beziehungen", die Diagnosen ermöglichen:
Die dritte, die emanzipatorische Ebene, die Habermas auch kritisch-reflexiv nennt, hat als Erkenntnisziel die Unterdrückungs- und Gewaltzusammenhänge in der menschlichen Geschichte nach den Kriterien der aufgeklärten Vernunft. Der Freiheitsanspruch des Subjekts, wie ihn die Aufklärung artikuliert hat (Ausgang aus der Unmündigkeit usw.), gilt universell. Habermas´ Konzeption entspricht damit den Idealen des von mir im vorigen Beitrag so genannten "humanistisch-demokratischen Wir". [...] Diese drei Ebenen machen den Rationalitätsbegriff in "Erkenntnis und Interesse" aus.
Schön, nun haben wir das Ideal der Aufklärung gerettet, das Horkheimer & Adorno schon für verloren erachteten angesichts der Barabrei der ersten Hälfte des 20. Jhs., das Einsicht gemäß gar Individualität vernichtete: Rettung also der Subjektphilosophie - und glücklich formulierst du es also konequent, wenn auch vielleicht zufällig in deinem Kollektivausdruck.
Ich neige dazu, Habermas' scharfe Trennung von Arbeit und Interaktion - bzw. im Rationalitätsbegriff (analytisch-empirisch, technisch oder instrumentell vs. verstehend oder praktisch), an der Habermas trotz Reflexionstheorie der Wissenschaften festhält zu problematisieren, und ich wäre gewiß nicht originell, wenn ich Habermas einen "positivistisch halbierten Rationalismus" unterstelle; aber so recht gelingt es mir nicht, meinen Vorwurfe an dieser Stelle stichhaltig durchzuführen, es sei denn, man ließe die Arbeit am Kind als Bereich der Reproduktion gelten, in der aber gewiß auch im Kind Interaktionen grundgelegt werden. Nach der präsentierten Logik muß ich diese spezielle Arbeit dem kulturpolitischen Bereich zuschlagen, deren intersubjektives Beziehungsgewebe ich dann unter Umständen als Pathologie analysieren und beurteilen könnte, wenn ich ihren Sinn verstanden habe. Aber lasse ich das dahingestellt, auf die PA wollte ich noch zurückkommen. Nur frage ich mich, ob in den 1960er Jahren nicht absehrbar war, daß sich die "technische Instrumentalisierung" vielleicht doch auf die menschliche Natur anwenden ließe? Habermas selbst deutet das im Grunde auch selbst darauf hin, wenn einen gewissermaßen technischen "Gehalt des Pragmatismus" erwähnt. Aber lasse ich das dahingestellt.
Das hermeneutische Erkennen richtet sich bei unserem Thema auf geschichtliche Phänomene. Was ist passiert, welche Beteiligten gab es, was waren die Motive ihres Handelns? Das sind die wesentlichen Fragestellungen des theoretischen Geschichtsstudiums. Je größter der Gesamtkontext ist, in dem sich das Verstehen bewegt, desto tiefer geht dieses Verstehen, ohne aber ein "Lernen aus der Geschichte" zu bedeuten, welches einen wie auch immer gearteten Nutzen für das gegenwärtige soziale Leben impliziert. Dieser Nutzen ist erst möglich, wenn (bezogen auf das humanistische Wir) das emanzipatorische Interesse hinzutritt. Der in einer westlichen Gesellschaft verfassungsrechtlich verankerte, in Gesetzen und sozialen Praktiken verkörperte und als universell gedachte Anspruch des Individuums auf Freiheit seiner Person ist der Leitfaden dieses Interesses.[...]
‘Emanzipation’ besagt seit dem 18. Jahrhundert die Befreiung des Subjekts aus zwanghaften gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen. Zwanghaft und willkürlich, also nicht notwendig, sind gesellschaftliche Konstellationen, die auf einer durch den Gebrauch subtiler oder auch weniger subtiler Gewaltmittel errungenen Machtposition eines Teils der gesellschaftlichen Totalität gründen, welcher den anderen Teil in einer Weise beherrscht und kontrolliert, die mit dem Prinzip der Würde des Menschen, und damit auch der Würde jener beherrschten und kontrollierten Menschen, nicht vereinbar ist. Dabei kann die Kontrolle und die Subtilität der Mittel soweit reichen, dass viele der Beherrschten nicht einmal ein klares Bewusstsein ihrer Unterworfenheit haben. Erst ein kritischer, die Zusammenhänge überschauender und durchschauender Blick vermag die pathologisierenden Effekte besagter Zwangsverhältnisse als solche abzuheben von dem Hintergrund der kulturellen Einschränkungen, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt zu werden brauchen.
Ich denke, daß du Habermas' Intention insgesamt ganz gut auf den Punkt bringst und auf die Geschichte anwendest. Aber schwierig bleibt für mich die Frage, wie "klares Bewußtsein" oder der "kritische Blick" herzustellen wäre, das/der bereits die "Zusammenhänge" über "pathologisierende Effekte" von "Zwangsverhältnissen" bereits aufheben sollte: Ist nicht in der Geschichte sogar der Kampf um Befreiung häufig auch niedergeschlagen geworden und erfolglos geblieben? Nun wäre es unfair, solche Einwände gegen einen lobenswerten theoretischen Ansatz vorschnell ins Feld zu führen, der aus der Tradition heraus, gerade für die Veränderbarkeit eintritt, um Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern, die unterdrückt werden - aber dieses Hintergrundproblem sollte nicht ausgeblendet werden und manches in Habermas weiterer Theoriebildung mag sich im übrigen daran entzündet haben.
Ich schließe hier den ersten Teil meiner Lektüre deines Beitrages ab.
* und zwar abgedruckt in Technik & Wissenschaft als 'Ideoogie' als letztes Kapitel
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