Was wir den Arabern verdanken

Gut,
dann widme ich mich statt dieses Geplänkels zum letzten Mal in diesem meistgelesenen Thread in diesem Forumsbereich einer deutschen Quelle, der ich vertrauen kann, da ich seine Reputation kenne:
Prof. Dr. Hans-Rudolf Singer (Brockhaus, ca. 10 Jahre alter Artikel)

"Kulturkontakt: Islamische Kultur und christliches Europa

Die werdende islamische Kultur hat bekanntlich vor allem seit dem 8. Jahrhundert einen beachtlichen Teil des antiken Erbes aufgenommen, verarbeitet und darauf aufbauend in immer stärkerem Maße eigenständige wissenschaftliche Leistungen von bleibendem Rang hervorgebracht, die sie schließlich in den Stand setzten, dieses angereicherte Erbe an Europa weiterzugeben. Die »Auswahl«, die der Islam in diesem Vorgang der Übernahme getroffen hat - also Naturwissenschaften, Geografie, Geschichte u. a., aber weder Epik noch Lyrik oder Drama - hat lange Zeit Spekulationen über die Gründe dafür ausgelöst. P. Kunitzsch hat diesen Sachverhalt sehr einleuchtend damit erklärt, dass es sich bei dem Akzeptierten um das in den christlichen Klöstern zumal Syriens gehütete und gepflegte Kulturgut handelte, was zum Ausschluss aller möglicherweise »frivolen« Kenntnisse führte.

Die Weitergabe des so gewonnenen und erweiterten Wissens an den Westen setzte etwa zur gleichen Zeit - am Ende des 10. Jahrhunderts - ein und erfolgte ganz überwiegend im westlichen Mittelmeerraum und hier v. :a. in Spanien, das durch sein jahrhundertelanges Mit- und Gegeneinander christlicher und islamischer Herrschaftsgebiete die engsten Verbindungen beider Kulturbereiche aufwies. Im Folgenden sollen nun wesentliche Träger dieses Kulturtransfers und die von ihnen vermittelten Werke und Inhalte skizziert werden.


Die Frühphase des Kulturtransfers

In Kairouan lebte und wirkte in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts Ibn al-Djassar, der gegen 1005 hochbetagt starb, nachdem er viele medizinische Werke verfasst hatte, von denen nur eines, der Traktat »Sad al-musafir« erhalten blieb. Er wurde noch zu Lebzeiten des Verfassers ins Griechische übersetzt, in Italien bekannt und später auch ins Lateinische und Hebräische übertragen. Ein in Karthago geborener Tunesier, in Europa Constantinus Africanus genannt, begab sich nach Unteritalien, wo in Salerno die nachmals berühmte Medizinschule existierte und brachte diese durch seine - eher mangelhaften - Übersetzungen arabischer Werke zur Blüte. Als Mönch starb er 1087 im Kloster Monte Cassino. Die Namen der arabischen Mediziner, die die von ihm übersetzten Werke verfasst hatten, verschwieg er systematisch und gab sich selbst als deren Autor aus.

Bereits fast ein Jahrhundert früher kam Gerbert von Aurillac, Mönch und hochgebildet, bei einem Aufenthalt beim Bischof von Vich (in Katalonien) in den Jahren 967 bis 969 in direkte Verbindung mit islamischem Wissen. Gerbert wurde später Erzbischof von Reims, dann von Ravenna und von seinem Schüler, Kaiser Otto III., 999 als Silvester II. zum Papst gemacht. Auch nach seinem Aufent- halt in Spanien hatte er Beziehungen zu der berühmten Benediktinerabtei von Ripoll, wo man die ersten Übersetzungen aus dem Arabischen vornahm: Texte über Geometrie, Astronomie und die Konstruktion astronomischer Geräte. Gerbert machte Europa mit den arabischen Ziffern bekannt, die im europäischen Kulturkreis erstmals in zwei altspanischen Handschriften von 976 und 992 vorkamen - mit Angabe ihres indischen Ursprungs. Dass diese außerordentliche und überaus praktische »Entdeckung« zunächst ohne Resonanz blieb, zeigt, wie sehr Europa noch die Voraussetzungen fehlten, den Nutzen solcher Techniken überhaupt zu erkennen. Bezeichnend für die Haltung auch eines Großteils der europäischen geistigen Eliten dieser Zeit ist, dass selbst ein Mann wie Gerbert wegen seiner aus arabischen Quellen stammenden naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse in den Verdacht geriet, ein Magier zu sein.

Dieser Vorgang und die Art der Wissensgewinnung gibt auch Anlass klarzustellen, dass Kulturkontakte und vor allem die Weitergabe von arabischem Wissen nur dort geschah, wo muslimisches Gebiet von Christen erobert worden war und dort lebende Christen oder Juden bzw. konvertierte Muslime für dergleichen Aktivitäten gewonnen werden konnten. Leider wird auch in neuesten Publikationen, die wissenschaftlichen Anspruch erheben, ausgeführt, Gerbert z. B. sei nach Toledo gegangen, und anderswo liest man von Europäern - damals aufgrund des europäischen Bildungssystems notwendigerweise Kleriker! -, die nach Córdoba oder sonstigen islamischen Stätten der Wissenschaft gegangen seien, um dort zu studieren. Tatsächlich verhält es sich so, dass die islamischen hohen Schulen ihren Sitz in Moscheen hatten, die kein »Ungläubiger« betreten durfte - so noch heutigentags im Maghreb! -, geschweige denn, dass er hätte am Studium teilnehmen dürfen. Und das an den hohen Schulen benutzte Hocharabisch mussten auch die Muslime in jahrelangem Studium erlernen - mit dem umgangssprachlichen Arabisch, das man durch den bloßen Aufenthalt in arabischen Ländern erlernen konnte, waren wissenschaftliche Studien unmöglich.


Griechisch - Arabisch - Spanisch

Es bleibt eine Episode zu erwähnen, die zunächst einmal zum Kapitel »Aneignung griechischen Erbes durch die Araber« gehört, aber eben doch auch eine Art Fortsetzung im Rahmen des hier behandelten Themas hat. Im Jahre 948 hatte der byzantinische Kaiser Konstantin VII. dem Kalifen Abd ar-Rahman III. von Córdoba anlässlich einer diplomatischen Mission nebst anderen wertvollen Geschenken ein Exemplar der in griechischer Sprache verfassten Arzneimittellehre des Dioskurides von Anazarbos (nahe Ceyhan in Kilikien) aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. geschickt; da damals in Córdoba niemand - auch nicht unter den Mozarabern - Griechisch konnte, sandte der Kaiser 951 einen Mönch, der das Werk zusammen mit dem jüdischen Arzt und Diplomaten Hasdai ibn Schaprut ins Arabische übersetzte. Erst im 16. Jahrhundert hat dann auf der Basis der im Zeichen des Humanismus inzwischen erfolgten Edition des griechischen Textes der spanische Arzt und Gelehrte Andrés Fernández de Laguna seine spanische Übersetzung des Werkes 1555 in Antwerpen publiziert. Damit war das Werk auch endlich im Abendland angekommen, wo es noch lange das maßgebliche Handbuch der Arzneimittellehre blieb.


Die Hochphase des islamisch-christlichen Kulturtransfers

Nach den Kontakten Gerberts mit Klöstern der Spanischen Mark - aus der heraus sich allmählich das Königreich Aragonien und die katalanischen Grafschaften entwickelten - tritt eine Pause ein. Erst nach der Eroberung von Toledo - wo der vermutlich erste botanische Garten von Ibn Wafid (»Abenguefith«) geschaffen worden war - durch Alfons VI. von Kastilien im Jahr 1085 gewannen die kulturellen Kontakte wieder an Intensität. Eine Art Vorläufer der beginnenden Bewegung stellt der konvertierte Jude Petrus Alfonsi, mit eigentlichem Namen Moses Sefardi, dar, der vermutlich aus Huesca stammte und Protegé Alfons' I. von Aragonien war. Er hat dem Westen in seiner »Disciplina clericalis«, einer Sammlung arabisch-jüdischer Erzählungen, orientalische Erzählstoffe vermittelt. Später ging er nach Frankreich und England, wo er arabische Wissenschaften lehrte und Adelard von Bath bei dessen Übersetzung der Tabellen des Chwarismi ins Lateinische unterstützte. In seinen weit verbreiteten (65 Handschriften) »Dialogi« - in denen er auch seine Konversion begründete und verteidigte - legte er dar, dass nur wissenschaftliches Erforschen der Natur zu richtiger Gotteserkenntnis führe. Nach 1121 ist er in Spanien verstorben. Er hatte großen Einfluss auf das christliche Europa.

Zur Zeit der kastilischen Könige Ferdinand III. und Alfons X. begann in der nunmehrigen kastilischen Hauptstadt Toledo, aber auch an anderen Orten wie Tarazona und vor allem Barcelona, der Hauptstadt der Markgrafschaft Katalonien, eine Epoche enormer Übersetzertätigkeit, die zu Unrecht vereinfachend als »Übersetzerschule von Toledo« bezeichnet wird. Christliche Spanier, Mozaraber und Juden, dann aber auch Angehörige anderer europäischer Völker hatten Anteil an dieser gewaltigen Bewegung, die eine Unmenge zum Teil sehr umfangreicher Werke in lateinischer Sprache dem christlichen Abendland zugänglich machte und so das Gedankengut und die im Abendland bis dahin verloren gegangenen Erkenntnisse der griechisch-römischen Antike und des arabischen Kulturkreises vermittelte. Auch war es nicht nur der viel gerühmte Erzbischof (1124-51) Raimund von Toledo, ein cluniazensischer französischer Mönch, der die Übersetzertätigkeit besonders begünstigt hat. Bis zur bedeutsamen Reise des hochgelehrten Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis, nach Spanien gegen 1141 zeigte er sich an diesen Unternehmungen, die seit längerem im Gange waren, nicht besonders interessiert. In seiner Stadt waren es vor allem der Erzdiakon Dominicus Gundissalinus (Domingo González) und sein jüdischer Mitarbeiter Johannes ibn Dawid (»Israelita Philosophus«), der sich selber Abendauth (»Ibn Dawud«) nannte, und wohl mit Johannes David, dem Freunde Platons von Tivoli und einem oft genannten Johannes Toletanus identisch war, die zumal philosophische Werke über das Kastilische ins Lateinische übersetzten.

Die zentrale Figur dieser Epoche aber war Johannes Hispanus, der zwischen 1120 und 1160 ohne jede fremde Hilfe arbeitete und vermutlich Mozaraber war. Nach 1165 wirkte die Equipe des Gerhard von Cremona dort an der Übersetzung v. :a. philosophischer Autoren: Alfarabi, Ghasali und Ibn Sina (»Avicenna«). Man entdeckte jetzt erst Aristoteles als Philosophen und begann seine Werke und die seiner islamischen Nachfolger wie Ibn Badjdja (»Avempace«), Ibn Tufail (»Abubacer«), Ibn Ruschd (»Averroes«), Abu l-Kasim, al-Bitrudji (»Alpetragius«) sowie die Arbeiten des zwar aus Córdoba stammenden, aber in Kairo wirkenden jüdischen Philosophen Maimonides zu übersetzen; so kamen diese Werke in Europa zur Wirkung, nun sogar zum Teil noch ehe sie im islamischen Raum Anerkennung fanden. Abgesehen davon ging mit Denkern wie den Genannten die Periode der Pflege der »Falasifa«, d. h. der Philosophen hellenistischer Prägung, endgültig zu Ende. Gerhard und seine Mitarbeiter übersetzten an die 80 zum Teil sehr umfangreiche Werke. In Tarazona (Ebrobecken) wirkte ein spanischer Kleriker für Bischof Michael (1119-51) und übersetzte mehr als zehn Bücher und nahe Logroño, vielleicht in Nájera, waren Hermann von Kärnten (»Dalmata«) und Robert von Rétines gemeinsam tätig und trafen 1141 mit Petrus Venerabilis zusammen. Der schon genannte Platon von Tivoli, der etwa 1134-45 in Barcelona lebte und dessen Helfer der Jude Abraham bar Chijja (»Savasorda«) war, übersetzte sowohl aus dem Arabischen wie dem Hebräischen, vor allem astrologische Schriften, aber auch mathematische.

Es bleibt zu vermerken, dass wir über die Lebensdaten und -läufe vor allem der frühen - hispanischen, ob christlichen oder jüdischen - Übersetzer schlecht Bescheid wissen und selbst ihre Identität so manches Mal zweifelhaft ist.

Was aber wurde eigentlich übersetzt? Alle Gebiete der damaligen Wissenschaften finden sich unter den übersetzten Werken: Mathematik, Astronomie und Astrologie, Physik und Mechanik, Chemie bzw. Alchimie, ferner Medizin mit der dazugehörenden Pharmakognosie, Philosophie sowie Werke der Magie, also der Geheimwissenschaften. Hier ist der Ort, darauf hinzuweisen, dass die Erfindung des Buchdrucks zu einem gewaltigen Anschwellen der Kenntnis solcher Schriften führte. Bis dahin konnten sich z. B. nur reiche oder sehr erfolgreiche Ärzte etwa den »Kanon der Medizin« (al-Kanun fi t-tibb) von Avicenna leisten, nun aber waren auch weniger bemittelte Ärzte in der Lage, derlei umfangreiche Werke zu erstehen. So ist denn auch Avicenna erst durch den Buchdruck zum Ziehvater der europäischen Medizin geworden. Viele Werke wurden mehrfach übersetzt und oft, bis ins 17. Jahrhundert hinein, immer wieder gedruckt.


Forts. folgt
 
Forts.


Schöpfen aus arabischen Quellen

Auf arabischen Quellen fußt ein Gutteil der von König Alfons X. (1221-84) verfassten Werke. Er war nicht nur selbst Dichter, Historiker und Gesetzgeber, sondern veranlasste auch die Erarbeitung und Veröffentlichung der »Alfonsinischen Tafeln« zur Berechnung der Örter von Sonne, Mond und Planeten sowie weiterer astronomischer Werke, ferner des Steinbuchs, des Schachzabelbuchs sowie vieler anderer Werke, die ihrerseits entweder Übersetzungen aus dem Arabischen sind oder aber Material solcher Werke verarbeiteten. Nur am Rande sei erwähnt, dass er auch Römischer König war und vor allem in Süditalien eine - wenn auch weitgehend gescheiterte - imperiale Politik verfolgte.

Im gleichen Jahrhundert war ein anderer Römischer Kaiser (und deutscher König), der Staufer Friedrich II., ebenfalls bemüht, in seinem italienischen Stammland, dem Königreich Sizilien, die dort seit dem 9. Jahrhundert heimische islamische Kultur zu pflegen. Seine berühmte Abhandlung »De arte venandi cum avibus« (Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen) beruht auf arabischen Quellen. Sein Verhalten entspricht dem seiner normannischen Vorfahren. So hatte bereits für Roger II. (1130-54) der aus Ceuta stammende Idrisi, also ein Scherif, ein Nachfahre des Propheten, als Sekretär einer vom König eingesetzten Kommission, sein 1154 abgeschlossenes großes geografisches Kompendium, das Roger-Buch (Kitab Rudjdjar) abgefasst. Obwohl es einen Großteil auch Europas behandelte, wurde es im Mittelalter nie ins Lateinische (oder eine andere europäische Sprache) übertragen, aber auch im arabischen Bereich fand es nie die Beachtung, die ihm gebührte.

Der Vollständigkeit halber sei hier ein Autor genannt, der zwar schon zur beginnenden Neuzeit gehört, aber eben das zuwege brachte, was Idrisi nicht gegönnt war: Europa mit der Geografie und Ethnografie des Maghreb bekannt zu machen, ehe Europa durch Europäer wie den dänischen Vizekonsul Georg Höst, der von 1760 bis 1768 in Marokko weilte und nach seiner Heimkehr seine »Nachrichten von Marókos und Fes, im Lande selbst gesammlet ...« (dänisch 1779, deutsch 1781) schrieb, oder den englischen Kleriker Thomas Shaw (»Travels, or observations relating to several parts of Barbary and the Levant«, 2. Aufl. London 1757, deutsch Leipzig 1765) diese Länder bekannt gemacht wurden. Gemeint ist Leo Africanus, eigentlich al-Hasan ibn Mohammed al-Wassan, ein gebürtiger Granadiner Maure aus Fès, der, von christlichen Piraten gefangen genommen und dem Papst geschenkt, von Leo X. getauft wurde. Er verfasste in italienischer Sprache eine ausführliche Beschreibung Nordafrikas, die 1550 zuerst in Ramusios monumentalen »Navigationi e viaggi« erschien und schon 1556 ins Französische übersetzt wurde. Der Wert seiner Mitteilungen für Europas Kenntnis des Maghreb kann kaum überschätzt werden. Er selbst ist zu unbekannter Zeit nach Tunis zurückgekehrt und als Muslim gestorben.


Islamisch-christlicher Kulturkontakt im östlichen Mittelmeerraum

Der Blick auf die Kulturströme und -beziehungen zwischen dem Orient und dem christlichen Abendland wäre aber ganz und gar unvollständig, wenn man dem östlichen Schauplatz dieser Geschehnisse nicht einige Sätze gönnen wollte. Waren noch im 8./9. Jahrhundert Byzanz und die syrischen wie - wenn auch bescheidener - die ägyptischen Pflegestätten der überkommenen Kultur, allen voran die Klöster, gebender Teil, so wurde später auch hier der islamische Orient führend. Hier wurde durch die Übersetzungen des 7. bis 9. Jahrhunderts, v. :a. unter den ersten Kalifen aus dem Haus der Abbasiden, das Erbe der Antike und der iranischen Welt der werdenden islamischen Kultur vermittelt. Ab dem 9. Jahrhundert setzte dann der Gegenstrom ein: Es kam zur Rückübermittlung des antiken Erbes vermehrt um die Leistungen der arabisch schreibenden Welt an das Abendland. Allerdings konnte nun der Orient nie die Bedeutung der Rolle Siziliens und Spaniens erreichen, einmal, weil mit dem Einsetzen der Kreuzzüge und der sich daraus ergebenden Kontakte die Beziehungen fast stets feindselig waren und zudem fast durchgängig eben andere als für den Westen beschriebene Voraussetzungen galten. Die Erkenntnis der Unterschiede zwischen den beiden Schauplätzen lässt das Verständnis und das Verstehen für das, was sich zutrug, nur umso ausgeprägter sein.


Bleibende Einflüsse

Dass eine der wesentlichen Grundlagen des europäischen naturwissenschaftlichen Denkens die arabischen Zahlen sind, ist wohl allgemein bekannt. Wie stark und wie viele Lebens- und Wissensbereiche umfassend der arabisch-orientalische Einfluss auf Europa jedoch war, können wir am besten aus den vielen arabischen Lehnwörtern des Deutschen (wie anderer europäischer Sprachen) ersehen, ganz zu schweigen von den Massen solcher Entlehnungen in den Sprachen der Pyrenäenhalbinsel wie auch - wenn auch weniger zahlreich - im Italienischen. Allein fürs Deutsche genügt es, eine ganz bescheidene Auswahl solcher orientalischer Wörter, bei uns natürlich aus anderen europäischen Sprachen entlehnt, aufzuführen; viele arabische Vokabeln sind freilich ihrerseits wieder ebenfalls Leihgaben aus dem Persischen, den indischen Sprachen usw. Auf die Aufzählung von Sternnamen aus dem Arabischen sei verzichtet, weil deren Vokabular (wie z. B. Atair, Rigel, Beteigeuze, Aldebaran) davon wimmelt. Man denke aber an Admiral, Alchimie/Chemie, Alkohol, Algebra, Benzin (!), Fakir, Haschisch, Kabel, Kaffee, Kaliber, Arsenal, Laute, Moschee, Risiko, Scheck, Sirup, Zucker und viele andere mehr, wobei Bezeichnungen typisch orientalischer Personen und Dinge unberücksichtigt blieben.
"

Der letzte macht das Licht aus... lynxxx
 
Auf arabischen Quellen fußt ein Gutteil der von König Alfons X. (1221-84) verfassten Werke. Er war nicht nur selbst Dichter, Historiker und Gesetzgeber, ...

Gesetzgeber ja, ansonsten war er wohl eher Auftraggeber als Verfasser. Selbst die Cantigas, von denen jahrhundertelang behauptet wurde, hier sei wirklich er der Verfasser gewesen, werden ihm heute nicht mehr uneingeschränkt zuerkannt.
Die eigentliche Bedeutung ist, dass in der alfonsinischen Epoche die Übersetzungen (Toledo war schon 100 Jahre vor Alfons X. Übersetzerzentrum) nicht das Lateinische, sondern vielmehr das Kastilische Zielsprache wurde, was letztendlich auch dazu führte, dass das Kastilische seine herausragende Stellung unter den iberischen Sprachen einnahm.
 
Zuletzt bearbeitet:
deshalb auch diesmal vorsichtshalber das Datum des Artikels. Autor ist Anfang '99 verstorben, die Erkenntnisse des Artikels hat er sicherlich einige Jahre vorher abgeschlossen. Glaub nicht, dass er bis zu seinem Tode noch alle neuesten Entwicklungen der Forschung hat einfließen lassen oder berücksichtigen können.
 
Ich möchte doch noch einmal die Gelegenheit nutzen, einige Dinge aus der Welt zu schaffen, die wahrscheinlich mißverständlich waren...


2. Das christliche Mittelalter war in der Medizin gar nicht so finster?


bezugnehmend auf den Artikel:
Mit dem Schlafschwamm in die Vollnarkose

Hier noch eine ausführlichere Variante der Pressemeldung, die aber nichts grundlegend anderes sagt:
http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/1237.php

...

Der Artikel der TAZ, beziehungsweise der Prof. Gundolf Keil, erweckt hingegen den Eindruck, dass der hohe medizinischen Fortschritt schon 788 oder 795 (?) durch das Lorscher "Medizin"buch praktiziert wurde.
Nun, dann schauen wir uns doch mal das Werk an, und erfahren, dass es mitnichten komplexe chirurgische Praktiken der Medizin oder die Narkosewirkung eines Schlafschwammes beinhaltete, sondern
in erster Linie ein pharmakologisches Heilkräuterbuch mit unbekanntem Autor war. Eine Rezeptesammlung. Hervorgehoben wird dabei der Teil, der die Heilkunde gegenüber christlichen Bestrebungen dieses zu unterbinden verteidigt.

Erstes Mißverständnis, denn da hast Du wohl etwas überinterpretiert - da steht nicht mehr und nicht weniger als:
Eine wichtige Quelle war das Lorscher Arzneibuch. Es stammt aus dem Jahr 788 und ist das älteste medizinische Buch Deutschlands.

Natürlich war das Mittelalter in der Medizin nicht so finster, wie man es sich vorstellt, dank der Araber! Warum nicht, wird in dem Artikel nicht gefragt. Denn da würde herauskommen, dass die meisten der abendländischen mittelalterlichen "Errungenschaften" durch den Wissenstransfer durch die Araber in die Klöster kamen (ausgenommen Heilpflanzen, da gab's schon nützliche Traditionen).

Ein weiteres Mißverständnis: wie ich schon mehrfach schrieb, will grundsätzlich niemand den Arabern ihre diesbezüglich unbestrittenen Verdienste absprechen.
Wichtig war mir mit meinen Anmerkungen, ein wenig die Sicht zu erweitern und zu sehen, daß zwar der größte Entwicklungssprung durch den Wissenstransfer aus der arabisch-islamischen Welt kam, dennoch aber schon zuvor keinewegs "medizinische Steinzeit" im Abendland herrschte. Und es betraf eben nicht nur die Heilpflanzen, s.a. http://www.klostermedizin.de/html/die_anfange_der_klostermedizin.html
Anm.: Die zwar schwer zu erforschende, aber dennoch zweifelsfrei existente Volksmedizin im christlichen Europa sollte diesbezüglich auch nicht ganz vernachlässigt werden, doch dies möchte ich hier lediglich anmerken...

So muss man genau schauen, welcher Quellen sich die Klostermedizin bediente um zu einer differenzierten Bewertung zu kommen.

... wenn der Galen mit seiner Humoralpathologie (Viersäftelehre: Luft, Wasser, Feuer, Erde) schon lange im Kloster bekannt war, dann frage ich mich, warum diese dogmatische Lehre erst im 11. Jh. in der Klostermedizin zum Tragen kommt?

Steht doch alles in der Seite, auf welche Du Bezug nimmst: http://www.klostermedizin.de/html/theoretische_grundlagen.html
Die ersten Schriften der Klostermedizin aus karolingischer Zeit zeigen zwar keinen direkten Bezug zur Viersäftelehre, weil dieser bei der Hauptquelle Plinius und seiner Rezeptionsgeschichte (‚Medicina Plinii’ und ‚Physica Plinii’) fehlt.

Wichtig ist hier die Formulierung "keinen direkten Bezug", d.h., nicht direkt, aber indirekt...

Er erwähnt auch den Einfluss einiger arabischer Mediziner, wie z.B. Ibn Sina (Avicenna, um 980 bis 1037), behandelt diesen Einfluss aber relativ marginal.

Marginal?
Das sehe ich nun nicht so: http://www.klostermedizin.de/html/avicenna.html oder auch http://www.klostermedizin.de/html/constantin_von_afrika_und_sale.html

Da stellt sich die Frage, wenn die Klostermedizin all diese antike Werke wie auch die Araber zur Verfügung hatten, warum die Klostermedizin sie nicht entscheidend weiterentwickelte? Warum ging die Entwicklung erst nach den Kontakten mit den Arabern weiter?

...

Er gibt immerhin zu, dass über längere Zeit (200 Jahre!) keine besonderen Werke in den Klöstern entstanden sind, erst in der 2. Hälfte des 11. Jh. tauchte ein neues Werk auf, in dem einige Kapitel dem Werk des Constantinus Africanus (von Salerno und Monte Cassino) entnommen sind.
Aha! Den hatten wir doch schon oben in meinen Post kennengelernt, als einen Plagiator arabischen Wissens!

Er schreibt: "Die Geschichte der akademischen Medizin Westeuropas hat ohne Zweifel in Salerno ihren Ausgangspunkt." Also in der arabischen Medizin, wie wir nun wissen. Warum sagt er das nicht direkt? Ist auch egal...

Mehrere Mißverständnisse:
1. Wer hat denn behauptet, daß die Klostermedizin alle antiken Werke zur Verfügung hatten, welche auch die Araber hatten? Ich meine doch, bereits vorher geschrieben zu haben, daß die Zahl dieser Werke natürlich geringer war...
2. Warum es einen gewissen Stillstand in der Entwicklung der Klostermedizin ab Mitte des 9. Jh. bis etwa Mitte des 11. Jh. gab, ist aus dem politischen Kontext ableitbar - in Stichworten und Zahlen: Frankenreich, 842, 870, 880, Ostfrankenreich, 919, Konsolidierungsphase HRR, 1024.
3. Wie ich anhand der obigen Verlinkungen bereits kenntlich zu machen versuchte, geht der Einfluß der arabischen Medizin doch recht eindeutig aus den Texten hervor

Die Schmerzbehandlung war im frühen Mittelalter im Abendland verpönt.

"Im Mittelalter war die Schmerzauffassung von theologischer Seite am Leiden Christi orientiert. Er wurde als Vorbild hingestellt, und in dieser Zeit gab es regelrechte Aufforderungen Schmerzen und Leiden zu bejahen und mit Freude aufzunehmen. Daß überstandener Schmerz den Menschen in seiner geistigen Entwicklung weiterbringt, war in den europäischen Kulturländern dieser Epoche, wie auch schon in der Antike, ein Gemeingut."
"Wer im Mittelalter ein Mittel gegen Schmerzen anbot, schloß, in den Augen der Kirche, einen Pakt mit dem Teufel und wurde als Hexe oder Hexer verbrannt. Das galt auch für diejenigen, die diese Mittel, ob wirksam oder nicht, einnahmen oder an sie glaubten. Schmerzen wurden als Parallele zum Leidensweg Christi angesehen und akzeptiert. Schmerz war die Strafe Gottes und mußte zur Erlösung der Seele ertragen werden. Die Erlösung von den Schmerzen galt als Gnade Gottes.
Schmerz galt deshalb in Zeiten des Mittelalters als etwas, was auszuhalten sei."

Mehrere Legenden, welche die Forschung längst relativiert hat:
1. Schmerz- und Leidbejahung sind im europäischen Mittelalter die Maxime der religiösen Virtuosen (Bsp.: Bernard de Clairvaux) und nicht sonstiger Kleriker oder gar der Laien.
2. Schmerzlinderung via Heilmittel als Teufelspakt ist falsch; und die Hexen und Hexer, die verbrannt wurden, gehören nicht mehr ins Mittelalter, sondern in die Frühe Neuzeit.
Vgl. dazu u.a. Peter Dinzelbacher "Europa im Hochmittelalter: Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte" - Primus Verlag, Darmstadt 2003

3. Hospize/Hospitäler der Johanniter

Ich habe oben schon etliches zur Klostermedizin geschrieben, über den Einfluss arabischen Wissens. Dass ein Hospiz in Jerusalem demnach weit mehr von diesem Wissen abbekam, dürfte klar sein.
Dabei muss man anmerken, dass die frühen Hospitäler keineswegs mit heutigen Krankenhäusern oder arabischen Krankenhäusern zur Hochzeit verglichen werden können, da die Leitungen in erster Linie darin bestanden Heilmittel an die kranken Pilger zu verabreichen.
Das, was wir am meisten bewundern, sind jedoch Operationen, die Chirurgie und nicht die auch wichtige Heilkräuterkunde. Dieses erfolgte erst in stärkerem Maße nach Kontakten mit den Arabern, direkt oder indirekt durch Rückübersetzungen.

Zur Entwicklung des Hospizwesens, und die Gründe für dessen Niedergang, kann man hier einiges lesen:
Hospitäler und Heilmethoden der Johanniter

Leider enthält diese Fanseite noch nicht im ausreichenden Maße die Würdigung der Tiefe des arab. Einflusses. Ein wenig Einfluss wird jedoch gestattet... ;)

Weitere Ergebnisse einer Tagung kann man hier lesen:
Zentrum und Peripherie bei den Hospitalsorden im Spätmittelalter

Dann mal weiter:
1. Ich hatte ja selbst in einem früheren Beitrag explizit auf die relativ zeitnahe Rezeption des Avicenna durch die Johanniter/Hospitaliter verwiesen.
2. Wenn Du Dich über nicht ausreichende Würdigung des arabischen Einflusses auf der Seite beklagst, dann erlaube ich mir den Verweis darauf, daß in dem Satz
Die Johanniter scheuten sich jedoch nicht, die Erkenntnisse der arabischen Medizin wie auch den hohen Stand der griechisch-byzantinischen Heilkunst zu nutzen, wo die medizinischen Erkenntnisse der Antike (Lehren Galens etc.) im Gegensatz zum christlichen Europa erhalten geblieben und erweitert worden waren.
ein weitaus "schlimmerer" Fehler steckt - nämlich der, daß im christlichen Europa keinerlei medizinische Erkenntnisse der Antike erhalten geblieben seien.
3. Das Hospital von Jerusalem war nach dem Vorbild des Pantokrator Hospital in Konstantinopel errichtet worden, weswegen der byzantinisch-griechische Einfluß folgerichtig erwähnt werden muß.
4. Zu Zentrum und Peripherie im anderen Artikel: die genannten Punkte sind mir bekannt und auch durchaus richtig, ändern jedoch grundlegend nichts am vergleichsweise hohen medizinischen Niveau des Johanniterordens bereits im Mittelalter. Davon abgesehen handelt es sich hier lediglich um Schritte zur Annäherung an ein komplexes Thema und keinesfalls um Ergebnisse (steht auch so auf der Seite).
Anm. 1: Die Brandenburg 1260 Seite ist nicht nur eine Fanseite, denn die Co-Autorin ist vom Fach.
Anm. 2: Daß auf der Seite vieles kurz abgehandelt wird, liegt in ihrem Aufbau begründet, da sie einen Überblick zu 900 Jahren Geschichte der Johanniter Hospitäler bieten soll.
Anm. 3: Sowohl Autor als auch Co-Autorin der Seite sind mir persönlich sehr positiv bekannt, weswegen ich aus Gründen der Befangenheit dies nicht weitläufiger kommentieren möchte. Ich bitte dafür um Verständnis - vielen Dank!

Nun möchte ich noch für das Wochenende was zum Lesen mitgeben, sehr flockig geschrieben, und mittlerweile muss man wohl oder übel sagen: Ein bahnbrechendes Werk in deutscher Sprache:

[/FONT]Sigrid Hunke: Allahs Sonne über dem Abendland, Unser arabisches Erbe, Stuttgart 1960.

Man kann sagen, dass es in weiten Teilen immer noch aktuell und korrekt ist, wenn auch der eine oder andere Nebensatz einer Aktualisierung bedarf.

(über die politische Ansicht der Autorin lasse ich mich hier mal nicht aus, denn es ist in meinen Zitaten nicht erkennbar. Fakt bleibt Fakt... ;) Ansonsten siehe oben)

Auch wenn es in den Zitaten nicht erkennbar ist, so wäre ein gediegener Hinweis doch notwendig gewesen, da vor unreflektiertem Lesen dieses Werkes zu warnen ist.
Ich habe mir erlaubt, mich an anderer Stelle dazu zu äußern: http://www.geschichtsforum.de/showpost.php?p=239447&postcount=10
 
Zuletzt bearbeitet:
Ohne jetzt groß intervenieren zu wollen, kann jemand mal die durchschnittliche Lebenserwartung um 1000 in Granada / Byzanz / Damaskus / Alexandrien der von Köln / Venedig / Rom / Paris gegenüber stellen? Sowie Ausmaße von und Umgang mit Seuchen?

Das wäre m.E. der beste Indikator für medizinischen und hygienischen Frotschritt.

Dankeschön.
 
Nachtrag zum Globus

The first globes were built by the ancient Greeks. The earliest known globe was one said to have been constructed by the scholar Crates about 150 bc. An ancient celestial globe that still exists was made about 150 ad as part of a sculpture, called the Farnese Atlas, in the Naples Museum, Naples, Italy. The oldest existing terrestrial globe was made by Martin Behaim in Nürnberg, Germany, in 1492.

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Dazu [FONT=&quot]Ernst Künzl: Sternenhimmel beider Hemisphären, in: Antike Welt 2 (1996) 129-134: Ersterwähnung eines Himmelsglobus nach Künzl in Cicero: De Re Publica I, 14. Cicero erwähnt die [/FONT][FONT=&quot]Kriegsbeute des Marcellus in Syrakus (212 v. Chr.). Die Globus-Form nach Cicero geht auf Thales zurück, auf Eudoxos Bemalung mit Sternbildern.

Hat mich mein Gedächtnis also nicht getäuscht. Die ollen Griechen hatten mal wieder allen die Nase voraus.:yes:
[/FONT]
 
... kann jemand mal die durchschnittliche Lebenserwartung um 1000 in Granada / Byzanz / Damaskus / Alexandrien der von Köln / Venedig / Rom / Paris gegenüber stellen? Sowie Ausmaße von und Umgang mit Seuchen?

Abgesehen davon, daß mir lediglich grobe Zahlen für das mittelalterliche Europa bekannt sind und ich nicht mehr - wie während meines Studiums - Zugang zu entsprechenden Unterlagen habe, ist das nicht so einfach, sondern (leider oder Gott sei Dank) weit komplexer.

Erst einmal zu den Seuchen: hier dürfte sich grundsätzlich nur die Problematik der (Pest-)Pandemien niederschlagen.
Die Justinianische Pest von etwa 540 bis etwa 770 wütete v.a. im Mittelmeerraum und betraf andere Teile Europas eher sporadisch. Die nächste Pandemie war dann das weit mehr bekannte Umgehen des Schwarzen Todes in der Mitte des 14. Jh. (1347/52).
Neben dem daraus also ableitbaren Fakt, daß über mehr als 500 Jahre - und das ist gerade die für diesen Kontext besonders relevante Zeit - quasi "pandemiefreie Zeit" herrschte, traten die Pestpandemien nie überall in gleich starkem Maße auf und grassierten dann im betroffenen Gebiet meist 2 bis 3 Jahre, um sich danach relativ schnell abzuschwächen.
Zur Verdeutlichung siehe bspw. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/29/Pestilence_spreading_1347-1351_europe.png

Ein wirksames Mittel gegen die Pest kannte übrigens damals keiner, denn der Erreger wurde erst 1894 von dem französischen Arzt Alexandre Yersin identifiziert und damit auchder Übertragungsweg geklärt.

Das wäre m.E. der beste Indikator für medizinischen und hygienischen Fortschritt.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist u.a. von folgenden Faktoren abhängig:
  1. Anteil der Säuglings- und Kindersterblichkeit an den Todesfällen insgesamt
  2. alltägliche Arbeitsbedingungen
  3. Qualität der Wohnverhältnisse
  4. Ausfälle durch Kriegsführung und Nachwirkung dieser durch Verminderung insbesondere der männlichen Bevölkerung
  5. medizinische Versorgung und hygienische Bedingungen
  6. Auswirkungen von Pandemien (s.o.; im gegebenen Fall aber wohl zu relativieren)
  7. Nahrungsqualität und -quantität bzw. Beeinträchtigung dieser durch Mißernten, damit verbundener Hungersnöte, weitreichende Vergiftungen (Antoniusfeuer/Mutterkorn) u. dgl.
  8. einschränkende Zivilisationsfaktoren, z.B. Bewegungsarmut u.ä.
Daraus wird sehr gut ersichtlich, daß medizinischer und/oder hygienischer Fortschritt ein Aspekt ist, aber eben nur einer unter vielen.



Ich bitte um Nachsicht ob dieser abschweifenden Off Topic Ausführungen, aber ich wollte dies an der Stelle geklärt haben...
 
Du hast also keine Zahlen parat. Schade.

Doch; aber sie gelten für das europäische Mittelalter und bilden auch dort einen Durchschnittswert für das westliche Europa allgemein und sind nicht unbedingt regionalspezifisch.
Danach betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Frühmittelalter etwa 28 Jahre, im Hochmittelalter um 1250 etwa 32...35 Jahre und im Spätmittelalter um 1350 dann bedingt durch die Pestilenzpandemien und aufgrund regionaler Differenzierungen etwa 20...25 Jahre.
Lit.: Hans Werner Goetz: Leben im Mittelalter, München 1986

PS: Wir sollten aber wirklich zum ursprünglichen Thema zurückkehren, und das schreibe ich jetzt nicht aus Verlegenheit, sondern weil ich zum Abschweifen bereits genug beigetragen habe.
 
Doch; aber sie gelten für das europäische Mittelalter und bilden auch dort einen Durchschnittswert für das westliche Europa allgemein und sind nicht unbedingt regionalspezifisch.
Danach betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Frühmittelalter etwa 28 Jahre, im Hochmittelalter um 1250 etwa 32...35 Jahre und im Spätmittelalter um 1350 dann bedingt durch die Pestilenzpandemien und aufgrund regionaler Differenzierungen etwa 20...25 Jahre.
Lit.: Hans Werner Goetz: Leben im Mittelalter, München 1986

PS: Wir sollten aber wirklich zum ursprünglichen Thema zurückkehren, und das schreibe ich jetzt nicht aus Verlegenheit, sondern weil ich zum Abschweifen bereits genug beigetragen habe.

Dankeschön. Wenn jemand die Lebenserwartung in arabischen Ländern noch hätte, wäre ich sehr dankbar. Meinetwegen kann man daraus auch einen neuen Strang machen .... ;)
 
> Wenn jemand die Lebenserwartung in
> arabischen Ländern noch hätte ...
Dann wäre ziemlich belanglos das für Deine Ausgangsfrage:
> Das wäre m.E. der beste Indikator für
> medizinischen und hygienischen Frotschritt.

Wie Timotheus völlig richtig dargelegt hat, hängt die Lebenserwartung ganz wesentlich von anderen Faktoren ab, und man kann daraus in diesem Zusammenhang keine Rückschlüsse über "Fortschritt" ziehen.
 
@lynxxx:
Es ist völlig richtig, daß Europa im Mittelalter über Spanien/Kreuzzüge etc. eine Reihe von Erkenntnissen aus dem arabischen Raum übermittelt bekam.
Sowohl weitergeleitetes antikes Wissen wie weitere Forschungen von Arabern (oder Juden in arabischen Diensten).

Probleme bekomme ich hier:
> Es zeigt sich allmählich, dass die Geburt der
> Renaissance ohne die arabischen
> wissenschaftlichen Leistungen nicht
> stattgefunden hätte ...
M. W. wird die Renaissance ganz wesentlich von den antiken Quellen beeinflußt, die nach dem Fall von Byzanz durch Flüchtlinge etc. nach Italien kamen.

Die geistige Grundidee dieser ganzen Epoche ist es doch, nicht mehr die indirekten Überlieferungen (sowohl die über die Araber wie auch die eigenen westeuropäischen) als Basis zu nehmen, sondern die "originalen" der Antike.

Was natürlich nicht heißt, daß da Vinci und Co. die seit der Antike neu gesammelten Erkenntnisse (egal aus welcher Weltecke) nun vergessen oder ignoriert hätten. Die Renaissance bezieht sich zwar maßgeblich auf die Antike, entwickelt sie aber unter Einbeziehung neuerer Erkenntnisse weiter.

Was dann die von Dir zitierten "Muslimheritage.com" als "Traditional Western History" präsentieren halte ich daher für eine merkwürdige und unübliche Darstellung - die läßt sich dann natürlich leicht wiederlegen.
 
Die Renaissance begann ja nicht erst 1453, sondern schon früher. So kamen viele antike Texte über die arabische Vermittlung und über die Übersetzerschulen in Palermo und Toledo im 12. und 13. Jahrhundert wieder "zurück" nach Europa.
 
es gibt auch einen Unterschied in der Rezeption der antiken originalen Texten, und schon weiterverarbeiteten, bzw. entwickelten Texten. Das hängt von dem Bereich ab, den du betrachtest. Wenn du die Philosophie anschaust, erkennst du anderes Rezeptionsverhalten, als z.B. in der Naturwissenschaft.
M. W. wird die Renaissance ganz wesentlich von den antiken Quellen beeinflußt, die nach dem Fall von Byzanz durch Flüchtlinge etc. nach Italien kamen.
Dieses wird überschätzt. Das habe ich oben auch schon mal versucht zu verdeutlichen. Schau bitte nochmal. Nun gibt es sicher keine Statistik, über flüchtige byzantinische Wissenschaftler (von was eigentlich?), aber man kann den Weg von Texten z.T. zurückverfolgen, welchen Weg, welchen Einfluss sie in der Wissenschaft nahmen. Den findest du aber nicht in vielen Wikipedia-Artikeln. Dort wird in der Regel dieser Einfluss nur betont, ohne Lit.- und Quellenangaben. Anders bei der muslimheritage-Seite. Kannst mal die Autoren der Fußnoten begutachten, sind etliche mit hervorragender Vita drunter.
Einflüsse aus Byzanz gab es, keine Frage, die Betonung dieser, scheint mir aber in dem Maße von einigen westlichen Historikern im Laufe der Jahre zuzunehmen, je stärker die arabischen Urtexte in den Archiven zum Vorschein kamen und ein anderes, ein differenzierteres Bild vom Wissenstransfer vermittelten.
Das können einige wohl nicht ab. ;)
 
Die (alt)griechischen Philosophen("Naturwissenschaftler") waren als Heiden bei den christlichen Kirchenlehrern ausgesprochen unbeliebt (um es vorsichtig zu formulieren). Höchstens Aristoteles ließen sie begrenzt gelten. deren Wissen und Denken ging also im christlichen Einflussbereich weitgehend verloren, und konnte daher auch aus Konstantinopel nicht wieder in der Renaissance bezogen werden.

Die Lebenserwartung war entscheidend von der hohen Kindersterblichkeit geprägt, wie es heute in weiten Teilen der Welt immer noch der Fall ist. Ohne harte Zahlen zu haben, gehe ich davon aus, dass das in der islamischen Welt nicht viel anders war. Vor einigen Jahren hat mal einer im "Spiegel" sinngemäß behauptet, der Hauptfortschritt in der Medizin sei die Hygiene gewesen; die kurative Medizin habe dagegen wenig erreicht (sicher übertrieben, hat aber was für sich). Auch wenn die islamischen Mediziner in der hier in Rede stehenden Zeit den christlichen überlegen waren, waren ihre Möglichkeiten doch sehr begrenzt, vor allem im Vergleich zu heute.

Und allgemein: Auch wenn "Moslem-Bashing" zzt. recht beliebt ist, muss man nicht unbedingt als Gegengewicht gleich alle kulturellen Errungenschaften während des Mittelalters den Arabern zuschreiben, zumal ein großer Teil dieser Wissenschaftler zumindest von der Herkunft gar keine Araber im eigentlichen Sinn waren.
 
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Pfeiferhans:
Ich kenne das Problem des beliebten "Moslem-Bashings" gerade im Internet. Ersetze mal "Moslem" in allen solchen Internet-Posts durch das Wort "Jude", und es wird die Couleur deutlich und ggf. ein Aufschrei der Medienwächter. Gilt auch für "die andere Seite".
Egal:
Ich weiß, es ist eine Zumutung alle meine Post zu lesen... ;)
Es geht nicht darum, "alle" kulturellen Leistungen des MA den Arabern zuzuschreiben, es ist nur der Schwerpunkt, der Fokus, den ich gesetzt habe, ohne den anderen Kulturfluss zu negiern. Ja, ich hab "sogar" Infos und Links gesetzt, für die, die es andersrum mehr interessiert.
Ausserdem habe ich versucht zu differenzieren, was neumodischer Mythos ist, der oft im Internet von arabischstämmigen verbreitet wird, ohne wissenschaftliche Aussagekraft, und was aufgrund jüngster Forschungen als gesichert gilt. Das unterschiedet mich wesentlich von ähnlichem Blabla im Internet! Dazu habe ich etliche Kernaussagen von Historikern dahingehend überprüft, ob diese Historiker überhaupt ernst genommen werden können. Das habe ich gemacht, indem ich geschaut habe, ob diese ein Renommee in der Zunft haben, ob sie Verfasser von enzyklopädischen Artikeln sind, ob sie in Literaturlisten für Studenten an westl. Unis auftauchen, etc.
Diese Mühe macht sich hier nicht jeder, um seine Argumente zu festigen.

Während dieser Recherchen habe ich überrascht festgestellt, dass der Wissenstransfer tiefgreifender war, als ich zuerst vermutet habe. Durch langwierige Textvergleiche konnte man arab. wissenschaftliche Texte verfolgen, wie sie durch Übersetzungen Eingang in die westl. Wissenschaften fanden. Wie selbst Koryphäen und "Helden" abendländischer Wissenschaftsgeschichte davon beeinflusst wurden und ihr originärer eigener Erkenntnisgewinn nun neu überdacht wird. Dieses ist erst seit einigen Dekaden bekannt, und die Ergebnisse (noch) nicht im breiten Bewusstsein auch westl. Historiker verankert.
Auf diese Erkenntnisse hinzuweisen, war mein Anliegen. Und am wichtigsten, ich versuchte meine Aussagen mit Literatur nachvollziehbar zu machen, damit jeder meine Erkenntnisreise mitmachen kann. Auch um Fehler zu finden, denn auch seriöse Wissenschaftler sind nicht unfehlbar. Einige veraltete Stellen aus Werken der 60er Jahre haben unsere Community denn auch gefunden, die ich auch sofort einräumte.

Also kurz gesagt, mir ging es um Erkenntnisgewinn, um eine Zurechtrückung althergebrachter immer wieder nicht hinterfragter tradierter Stereotypen. Diese halten sich deshalb so lange, weil zur Überwindung dessen nur Spezialisten befähigt sind, sich aber weit mehr Inkompetenz dazu befähigt sah und sieht, ihren Senf dazu zu geben.
Diese Verbreitung dieses Erkenntnisgewinns und Zurechtrückung eines Geschichtsbildes halte ich für Legitim. Ist doch schon oft vorgekommen, z.B. beim ach so finsteren Mittelalter, bei ach so grausamen Germanenbarbaren, Azteken, China, "Türkenjoch", comic-farbige antike Skulpturen und Architektur, usw.

Und bei dem Thema Arabern wird gemeckert? Komisch... (du bist nicht der einzige...)

Ich bin kein Araber, und hege auch keine hinterlistige politische Absicht dahinter, die sich aus Minderwertigkeitsgefühlen dem Westen gegenüber speist und in träumerischen Geschichtsbilder verharrt.
Hätte ich jenseits von klischeehaften Samuraifilmen die Geschichte Japans nur in ihren positiven Aspekten, ihren kulturellen Glanzleistungen des 16./17. Jahrhunderts erläutert, wäre da auch solch ein Widerspruch gekommen? Nein? Auch komisch...

Wenn du möchtest, kannst du gerne einen Thread eröffnen, der da heisst: "Was die Araber "uns" verdanken" und es werden weeeesentlich mehr Punkte aufzuzählen sein. Ich mache da dann auch mit. :) Ich nehme aber mal an, dass dieser Wissenstransfer uns deutlich bekannter ist, als die Punkte, die ich erwähnte, oder? Mir jedenfalls... ;)

Und das die "arabischen" Wissenschaftler auch Juden, etc. waren, oder anderer ethnischer Herkunft waren, das habe ich auch geschrieben, sie wirkten jedoch in einem arabischen Kulturkreis, einem Umfeld, der diese Forschungen erst ermöglichte, ihr Selbstverständnis prägte. Ich denke, man kann es vielleicht mit den deutsch-jüdischen Wissenschaftlern Anfang des 20. vergleichen, die sich sicherlich als Deutsche fühlten und so auch von der Geschichtsschreibung bezeichnet werden.
Ich weiß, dass alle möglichen Nationen heutzutage die ethnische Herkunft betonen, und als "ihre" Helden der Vergangenheit vereinnahmen wollen, besonders schlimm im Osmanischen Reich, wo die albanischen, bosnischen, serbischen, griechischen, usw. Großwesire regelmäßig vereinnahmt werden.
Aber das ist ein anderes Thema... ;)

So, ich hoffe, nun ist zum wiederholten Male deutlich geworden, was unsere Diskussion vom Welt-der-Wunder-Romantik unterschiedet.


Ciao, und LG lynxxx
 
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