Die Kirche bekämpfte zwar viele der späteren Aufklärer und ihre Theorien, sie hatte aber nicht wenige zuvor massiv gefördert und qua Erziehung/Ausbildung in ihrem Denken massiv beeinflusst.
Es gibt die Hypothese, dass das Christentum tatsächlich als Hebamme der Aufklärung wirkte, unfreiwillig zwar, aber doch als eine unabdingbare Voraussetzung. Schon bei Nietzsche (Aphorismus 125 der 'Fröhlichen Wissenschaften') findet sich das Bild des Menschen als metaphorischem Mörder Gottes, der auf diese Weise selbst zu Gott wird, die Erde von der Sonne loskettet und fortan sich seine Welt selbst erklären muss.
Im 20. Jahrhundert nimmt die Idee dann richtig an Fahrt auf. C. G. Jung zufolge ist das anthropologisch wichtigste Merkmal des Christentums bereits im allerersten Satz des Johannes-Evangeliums zu finden: "Am Anfang war das Wort", und zwar das Wort, durch das "alles […] geschaffen" wurde, "nichts ist ohne das Wort entstanden". Das Wort wird denn auch prompt Fleisch in der Gestalt des Johannes, der gekommen ist, die Wahrheit zu verkünden. Mit "Wahrheit" ist natürlich die christliche Wahrheit gemeint, nicht die empirische Wirklichkeit, doch ergibt es kaum Sinn, in einer vor-aufklärerischen Zeit, in der Gott so wahrhaftig greifbar war wie das Gras unter den Füßen, auf dieser Unterscheidung zu beharren.
Das Wort Logos im bibelgriechischen Original meint aber auch den Sinngehalt des Wortes, und wird regelmäßig mit "Vernunft" übersetzt. Gottes Schöpfung wäre also ein Werk der Vernunft und durch Vernunft zu ergründen. Obendrein wird der Logos Mensch und dem Menschen verfügbar. Jung stellt diesem Gedanken die psychologische Bedeutung des christlichen Menschenbildes als Ebenbild Gottes (Genesis 1,26 f.) sowie die Aufforderung an die Seite, sich die Welt untertan zu machen (Gen 1,28). Demnach hätte der große Wert, den die christliche Lehre dem Logos beimisst, den Menschen unweigerlich ermuntert, seine Vernunft zu gebrauchen und sich von Gott sozusagen zu emanzipieren.
Jung benutzt hier auch das Bild des Vaters, der seine Kinder zum Lernen animiert und sich dadurch selbst im Leben seiner Kinder überflüssig macht, weil das Gelernte sie befähigt, irgendwann auf den eigenen zwei Beinen zu stehen und für sich selbst zu sorgen. Jung ist natürlich nicht der erste, der diese Verknüpfung hergestellt hat, aber meines Wissens nach der erste, der sie psychologisch erhärtet.
Bei John Freely ('Aristoteles in Oxford') kann man nachlesen, wie schon der Doctor mirabilis und Wilhelm von Ockham ihren Wissensdrang mit der Vernunft als Gottesgeschenk begründen. Freely stellt den Logos als Leitbild der christlich-abendländischen Wissenschaften dar, die nicht von ungefähr in Klöstern gewurzelt hätten. Die Kirche habe die Wissenschaften nicht nur als Herrschaftsinstrument gefördert, sondern auch, weil der Wunsch, Gottes Schöpfung besser zu verstehen, als durchaus gottgefälliges und Gott verehrendes Unterfangen galt (solange der Forscher sich bloß nicht anmaßte, Gottes Absichten selbst verstehen zu wollen). Die Naturwissenschaften waren also Hilfswissenschaften der Theologie.
Freely zufolge war die mittelalterliche Kirche den Wissenschaften gegenüber keineswegs intolerant – und zwar im Sinne einer modernen, bejahenden Toleranz, nicht im negativ konnotierten mittelalterlichen Sinne (lat.
tolerare, erdulden, ertragen, erleiden). Sie habe tolerant sein
wollen und
können, weil die Lücken im Wissen der Zeitgenossen noch so groß waren, dass ein Versuch, die Welt vollständig und ohne Gott zu erklären, derart unvorstellbar war, dass er kaum jemals versucht wurde und ohnehin nur wenig Resonanz gefunden hätte. Das heute so populäre Bild des wissensfeindlichen Mittelalters passt tatsächlich eher in die frühe Neuzeit. Wissenschaftler blieben von der Kirche meist unbehelligt, und selbst die, die mit ihr in Konflikt gerieten, erlitten (nach damaligen Maßstäben) eher Unannehmlichkeiten als Verfolgung.
Erst als die frühneuzeitlichen Gelehrten allmählich so weit waren, sich eine Welt ohne Gott vorzustellen, sei (so Freely) aus dem durchaus fruchtbaren Miteinander von Wissenschaft und Kirche ein feindseliges Gegeneinander geworden. Freilich hat
@Dion Recht, wenn er der Kirche hier vorwirft, sie habe in dieser Zeit ihre Stellung rücksichtslos durch die Unterdrückung der Wissenschaften verteidigen wollen. Allerdings sollte man meiner Ansicht nach nicht den Fehler begehen, die Kirche auf dieses Motiv allein festzulegen. Das Christentum ist eine Heilslehre, und die Überzeugung, dass es einen Gott geben
musste, der die Fäden in der Hand behielt, musste der weit überwiegenden Zahl der Menschen wohl nicht erst eingebläut werden. Eine Bäuerin, die zwölf ihrer achtzehn Kinder beerdigen musste, hatte keine Verwendung für eine Welt ohne Gott.
Außerdem muss zwischen der Kirche als Institution und der Kirche als Glaubensgemeinschaft unterschieden werden. Die fehlende Trennung zwischen Staat und Kirche wirkte sich ja auch auf die Kirche aus. Der Staat wurde religiös orthodoxer, die Kirche aber gleichzeitig säkularer. Aufrichtig für die Menschen wirkende Seelsorger und Theologen, die eine Reform an Haupt und Gliedern anstrebten, hatten kein Wort dabei mitzureden, wenn der Adel seine nachgeborenen Söhne als Kirchenfürsten installierte, diese dann ein Lotterleben führten und aus allenfalls theologisch bemäntelten, rein weltlichen Erwägungen jene bekämpften, die ihnen den Zugang zu diesen Pfründen verbaut hätten. Insofern wäre an dieser Stelle eher Kirchen- als Religionskritik angebracht – oder vielleicht sogar eine politische Systemkritik.