Die Frage „Wie wurde Hitler Antisemit?“ läßt sich durchaus rekonstruierend beantworten. Und man kann durchaus Meilensteine, auch aufgrund Hitlers eigenen Aussagen, und somit eine ungefähre Periodizierung der schrittweisen Radikalisierung vornehmen.
Jenseits von pseudo-psychologischen Diagnosen kann eine „Ideengeschichte“ und zentrale Inputgeber erkannt werden, die ideologische Bausteine geliefert haben, die von Hitler als „Weltbild“ verstanden wurden.
Folg man Zentner (S. 44) dann war Hitlers Vater Anhänger des alldeutschen Ritter von Schönerer. Die schulische Sozialisation erfolgte in einer antisemitischen Umgebung, in der Hitlers Lehrer offen ihre Judenhaß betonten. Hitlers Jugendfreund, als er Hitler 1904 auf der Realschule kennenlernte, betonte, dass Hitler bereits zu diesem Zeitpunkt „antisemitisch eingestellt“ gewesen sei. Und Hitler sagt von sich, dass er in dieser Zeit „Nationalist“ geworden sei. (Jäckel, S. 121) Bereits vor seiner Wiener-Zeit hatte Hitler die antisemitische und alldeutsche Zeitschrift „Linzer Fliegende Blätter“ gelesen. „Hitler, der diese Tatsachen in „Mein Kampf“ verschweigt, ist somit schon als Antisemit nach Wien gekommen und brauchte es hier nicht werden.“ (Zentner, S. 44). Ähnliches gilt für seinen Nationalismus, der ebenfalls relativ früh schon angelegt worden ist.
Folgt man der Darstellung von Hitler in Bezug auf seine Zeit in Wien, dann war sie gekennzeichnet durch eine zunehmende Wahrnehmung – verstärkt durch entsprechende antisemitische Literatur – von „Juden“ als eigenständige und als bedrohlich wahrgenommene Kultur und endet entsprechend in seinen „Wiener- Lehr- und Leidensjahre“ mit einer vehementen Anklage gegen das „Judentum“. Dennoch, seine anti-semitische Haltung, so auch Hamann und Zentner, wies in Wien noch nicht die fanatischen und haßerfüllten Züge auf, die er nach dem WW1 in München zunehmend als „Bierkelleragitator“ und „Trommler“ ausprägte.
Das Erleben des Krieges und das als demütigend wahrgenommene Ende (vgl. Kershaw, S. 82ff) verstärkte sich als Reaktion auf diese Entwicklung seine „deutschnationale patriotische Gesinnung“ und so Hitler: „In diesen Nächten wuchs mir der Haß, der Haß gegen den Urheber der Tat.“ (ebd. S.83). Und in der Folge beschloss er Politiker zu werden. Also noch zu dem Zeitpunkt als er seine Genesung im Lazarett Pasewalk absolvierte.
In diesem Sinne formuliert Kershaw: „ Besitzt unsere Hypothese, Hitler habe die eingefleischten Vorurteile und seinen Antisemitismus in Wien erworben, bevor sie in den beiden letzten Kriegsjahren erneut erwachten, jedoch einige Überzeugungskraft, dann besteht keine Notwendigkeit, die Erfahrung in Pasewalk im Sinne einer unvermittelten, dramatischen traumatischen Bekehrung zum paranoiden Antisemitismus zu mystifizieren.“ (Kershaw, S. 84).
Einen durchaus wichtigen Einschnitt für seine Entwicklung zum Politiker und zum Agitator bzw. Redner war die Überstellung von Hitler in die Abteilung Ib/P, des „Gruko“, das unter Hauptmann Mayr für die antibolschewistische Agitation zuständig war (Kershaw, S. 92). In diesem Kontext wurde Hitler zwischen dem 5. Und 12. Juni Juni 1919 an der Universität in München durch Referate von bekannten Professoren einer direkten politischen Bildung ausgesetzt. U.a. hörte Hitler auch einen Vortrag von G. Feder „Brechung der Zinsknechtschaft“ und in der späteren NSDAP genoß Feder aufgrund dieses Vortrags den Ruf eines „Wirtschaftsgurus“.
Im Rahmen der Agitationstätigkeit gegenüber politisch unzuverlässigen Truppenteilen wurde deutlich, dass Hitler als Agitator eine gewisse Begabung besass und: „Zu den zentralen Waffen in Hitlers demagogischen Arsenal gehörte der Antisemitismus“ (Kershaw, S. 94). In diesem Kontextwurde Hitler von Oberleutnant Bendt, der der Lagerleiter war in dem Hitler aktiv agierte, dass er sich mäßigen solle, damit keine Beschwerden über seine „Judenhetze“ kommen.
In diesem Kontext des von Hitler präferierten massiven Antisemitismus erarbeitete sich Hitler den Ruf, ein profunder Kenner für die Judenfrage zu sein. So ist es zu verstehen, dass Hauptmann Mayr eine schriftliche Anfrage an ihn, an Hitler weiter leitete. Die Antwort von Hitler, datiert 16.September 1919, ist die erste dokumentierte schriftliche Äußerung von Hitler zur Judenfrage. (Kershaw, S. 95). Und in dieser Stellungnahme resümierte Hitler Mitte 1919: „Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.“ (ebd. S. 95).
Vor diesem Hintergrund erscheint die These, dass Hitler kurzfristig durch diese militärische Schulung angeblich indoktriniert wurde, mehr als fraglich. Vielmehr: „Der Brief an Gremlich enthüllt zum ersten Mal die Schlüsselelemente von Hitlers Weltanschauung, die von diesem Zeitpunkt an bis zu den letzten Tagen im Berliner Bunker unverändert blieben: der auf einer Rassetheorie beruhende Antisemitismus und die Schaffung eines Einheit stiftenden Nationalismus, der auf die Notwendigkeit fußte, die äußere und die innere Macht der Juden zu bekämpfen.“ (Kershaw, S. 95).
Und in dem folgenden Jahr 1920 radikalisierte sich die Position und bereits zu diesem Zeitpunkt forderte er die Internierung in Konzentrationslagern. Am 13. August 1920 setzte er sich in der Grundsatzrede: „Warum sind wir Antisemiten“ mit der Judenfrage auseinander und verband erst später das Konzept des Judentum mit dem des Marxismus. Daran erkennt man, dass der Reifegrad der Überzeugung seines Antisemitismus zeitlich vor seinem Antimarxismus ausgeprägt war und diese Konzepte erst später in Beziehung gesetzt wurden (Kershaw. S. 112ff)
Und bis zum Jahr 1920 kann man Hitler, so Jäckel, eher als konventionellen Antisemiten und außenpolitisch als Revisionisten verstehen, der sich in der Folge jedoch radikalsiiert (Jäckel, S. 131)
In diesem Sinne versucht Zehnpfennig die Frage zu beantworten „Wie wurde Hitler zum Antisemiten?“ (Zehnpfennig, S. 35). Und beantwortet es dahingehend, dass die Ereignisse des Krieges und des demütigenden Friedensschlusses als eine Kette von Ereignissen gedeutet wurden, die den Nationalismus von Hitler herausforderten. Und bei der Frage der Suche nach den „Schuldigen“, Hitler die Antwort entsprechend der massiven Agitation antisemitischer Publikationen leicht finden konnte.
Relevant ist – und darauf weist Zehnpfennig auch hin – dass Hitler die von C. Schmitt eingeführte Unterscheidung von Freund und Feind als zentrale Kategorie des Politischen ebenfalls in seinem Denken aufnahm. Ein Merkmal, dass stilbildend sein sollte für die ideologischen Weltbilder faschistischer Bewegungen.
Mit Steiner (S. 15) ist aber auch darauf zu verweisen, dass die fanatische Agitation von Hitler gegen die Juden durchaus nicht ungewöhnlich war. Und auch in diesem Kontext Hitler von einer Vielzahl von Anregungen beeinflußt wurde, die sich schrittweise nach 1933 radikalisierten. Und in diesem Kontext u.a. auch der „Madagaskar-Plan“ als eine zu sehen ist (vgl. Brechtken)
In seinem Buch zu deutschen Kontinuitäten geht Smith der Frage nach, ob es eine „eliminatorische Tradition“ vom 2. Reich, über Weimar zum 3. Reich gab. Und zumindest auf der Ebene der Ideologie kann man auf der äußersten Rechten im Umfeld der „Alldeutschen“ eine kontinuierliche Radikalisierung des anti-Semitismus erkennen. In seinem „Wenn ich Kaiser wär“ werden Überlegungen erörtert, die ethnische Säuberungen beinhalten. Eingebettet ist dieser militante anti-Semitismus und ein radiales nationalistisches und undemokratisches Weltbild, in dem „Juden“ und „Sozialdemokraten“ als Feinde dargestellt werden, die es zu bekämpfen gilt.
http://www.zeit.de/2012/46/Heinrich-Class-Wenn-ich-Kaiser-waer-Antisemitismus-Alldeutscher-Verband
Insgesamt ist somit die zentrale These von JottHa anhand der Literatur zurück zu weisen. Zudem muss man ihm den Vorwurf machen, die entsprechende Literatur sehr frei interpretiert zu haben, also im Kern schlichtweg nicht korrekt.
Anmerkung:
Die These von B. Simms erscheint mir nicht schlüssig. Aber das ist ein anderes Thema, dass man eher anhand des 2. Buch von Hitler diskutieren müßte.
Brechtken, Magnus (1998): "Madagaskar für die Juden". Antisemistische Idee und politische Praxis 1885 - 1945. München: Oldenbourg-Verlag
Burleigh, Michael (2000): The Third Reich. A new history. London, New York: Macmillan; Hill and Wang.
Frymann, Daniel; aka Class, Heinrich (1914): Wenn ich der Kaiser wär. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig: Dieterich`sche Verlagsbuchhandlung.
Hamann, Brigitte (1996): Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper.
Hitler, Adolf (1933): Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. München: Eher.
Jäckel, Eberhard (1981): Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft. erweiterte und überarb. Neuausgabe. Stuttgart: DVA.
Kershaw, Ian (2009): Hitler. 1889 - 1945. 1. Aufl. München: Pantheon.
Smith, Helmut Walser (2008): The continuities of German history. Nation, religion, and race across the long nineteenth century. Cambridge, New York: Cambridge University Press.
Steiner, Zara (2015): The triumph of the dark. European international history, 1933-1939. Oxford, Oxford: Oxford University Press
Zehnpfennig, Barbara (2011): Adolf Hitler: Mein Kampf. Weltanschauung und Programm - Studienkommentar. München: Fink
Zentner, Christian (2009): Adolf Hitlers Mein Kampf. Eine kommentierte Auswahl. 20. Auflage. München: List Verlag.