WK-1: "Deutschland trug zweifellos große Schuld am Kriegsausbruch"

Kritizität - die Wahrscheinlichkeit einer nicht mehr beherrschbaren Eskalation.

Das Paradebeispiel ist der Erste Weltkrieg.
Als ich angefangen habe mich damit zu beschäftigen schien mir klar wer diesen Krieg angefangen hat. Es war das Deutsche Reich. Die haben zuerst den Krieg erklärt und geschossen, die haben Luxemburg und Belgien überfallen und sind auf Paris marschiert.
Das ist ja schon auf den ersten Blick erkennbar.
Aber das ist so einfach nicht. Denn Russland hat vorher eine Vollmobilisierung begonnen.
Und eine Vollmobilisierung war bereits eine Kriegserklärung. Das war der politischen Führung Russlands bewusst (Marc Trachtenberg – Meaning of Mobilisation).
Also hat Russland den Krieg begonnen? Oder war es Österreich-Ungarn, welches sich der Gefahr des Weltkriegs sehr bewusst ist, als es vorher dem mit Russland befreundeten Serbien den Krieg erklärte?
Und wann hat dieser Krieg überhaupt begonnen? Was war ab wann kausal im Sinne der weiteren Eskalation? Was war unabdingbare Voraussetzung?
Mich hat das wirklich beschäftigt und ich hab zwei Regal-Meter wissenschaftliche Literatur dazu gelesen. Du kommst nicht dahinter, wer diesen Krieg nun wirklich angefangen hat.
„The origins of this war are complex in the extreme“ (Kennan – American Diplomacy Kap.4)
Du kommst einfach nicht dahinter und es ist so widersinnig.
Denn es hatte niemand etwas zu gewinnen (Angell – The Great Illusion).
Am aller wenigsten Russland (Sanborn – Imperial Apocalypse), das ja mit der Vollmobilisierung faktisch als erste den Krieg erklärte.
Einen Krieg den niemand wollte und den alle verloren.
Wie um Himmels Willen kann so etwas geschehen?
Wie konnte es zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan) kommen und wer ist „schuld“?

Kissinger (Diplomacy – Kap.8) sagt es war eine Doomsday Maschine entstanden, bzw. wurde geschaffen. Eben eine Situation in der bereits die Mobilisierung Krieg bedeutet, weil der kurzen Reaktionszeit die dem Militär zur Verfügung steht, um nicht fatal in das Hintertreffen zu geraten,
keine angemessene Zeit für die Diplomatie entgegensteht.
Sie kann die Krise nicht mehr entschärfen. Schon kleine Funken können alles in die Luft jagen.
(Und da feiern die Raucher ein Party auf dem offenen Pulverfass, könnte man sagen und ich finde dieses Bild besser als das der „Schlafwandler“ von Christopher Clark.)
Die technische Realität hat sich radikal verändert. Innerhalb von Tagen können Millionenheere über weite Strecken transportiert werden und diese sind in nie dagewesener Weise bewaffnet. (Magazingewehr, Maschinengewehr, treffgenaue Schnellfeuerkanone, Brisanzgranaten, rauchfreies Pulver, industrielle Massenproduktion.)
1898(!) erscheint von Iwan Bloch (auch Jan Bloch oder Johann von Bloch) ein fulminantes Werk in 6 Bänden mit mehr als 4.000 Seiten auf Russisch.
1899 erscheint das Werk in deutscher Übersetzung „- Der zukünftige Krieg - in seiner technischen, volkswirthschaftlichen und politischen Bedeutung“ (Link reiche ich gerne nach)
Bloch ist Banker, Eisenbahntycoon und ein reicher Mann in Russland der sich schließlich als Pazifist verdient macht.
Und da beschreibt er eben das. (Ich hab Band 1 ganz gelesen, Band 2 zu 2/3 und Band 6 ansatzweise).
Und darüber hinaus weist er mehrfach darauf hin, dass die sich stetig steigernden Rüstungsausgaben (was heute unbedingt angeschafft werden muss ist morgen schon veraltet und muss zu noch höheren Kosten ersetzt werden) den sozialen Frieden in den Nationen untergraben und damit zusätzliche Instabilität hervorbringen.
Noch im Jahr der ersten Auflage bespricht der Zar Nikolaus II mit Bloch sein Werk. Über Karten gebeugt lässt er sich Blochs Einsichten erläutern (Brigitte Hamann – Berta von Suttner).
Kurz darauf erscheint des Zaren „Augustmanifest“ in der internationalen Presse und der Weg zur ersten internationalen Friedenskonferenz zu Vermeidung eines künftigen Krieges im Jahr 1899 ist bereitet.
Das wäre eine echte Chance gewesen diese fatale „Doomsday-Maschine“ zu entschärfen.
Und wer torpediert diese aufrichtige Bemühung am heftigsten? Es ist der deutsche Kaiser Wilhelm II. (Jost Dülffer – Regeln gegen den Krieg?; Marcus M. Payk – Frieden durch Recht?)
Also doch das DR als Hauptschuldiger?
Oder der unglückliche Nikolaus, der 1914 den Befehl zur Vollmobilisierung unterschrieb mit der Frage an seine Militärs: Ihnen ist schon bewusst, dass ich damit das Todesurteil für Hunderttausende junger Männer unterschreibe?

Hier findet sich der Kern der Lehre die man aus dem Ersten Weltkrieg auch für heute ziehen sollte.
Bau um Himmels Willen keine Doomsday-Maschine und rauche nicht auf dem offenen Pulverfass.

Im kalten Krieg hat man diese Lehre mühsam und glücklich befolgt, und es war diese Gott sei Dank stets ein Thema. (Paul Bracken – Command and Control of Nuclear Forces)

Und heute?
Das ist Tagespolitik und es mag jeder seine Schlüsse dazu ziehen und in diesem Forum für sich behalten.
Doch fragen sollten wir uns das ernsthaft.
 
Kurz darauf erscheint des Zaren „Augustmanifest“ in der internationalen Presse und der Weg zur ersten internationalen Friedenskonferenz zu Vermeidung eines künftigen Krieges im Jahr 1899 ist bereitet.
Das wäre eine echte Chance gewesen diese fatale „Doomsday-Maschine“ zu entschärfen.

Nein, weil die "Doomsday-Maschine", wenn man sie vorraussetzen möchte, Produkt der der 1914 bestehenden Bündniskonstellation war und anno 1899 so noch nicht existierte, sondern erst 1905-1907 mit der Formation der Triple Entente zustande kam.

1899 wäre im Fall eines europäischen Krieges mit britischer Neutralität zu rechnen gewesen. Ein Krieg unter solchen Umständen hätte völlig anders ausgesehen und wäre wahrscheinlich rein technisch wesentlich einfacher zu beenden gewesen.

Wenn man sich auf die Bündniskonstellationen, als kritischen Teil der "Doomsday-Maschine" fokussiert, hätte die Lösung um das Problem zu entschärfen in meinen Augen nicht in einer Konferenz zur Vermeidung künftiger Kriege gelegen.
Die hätte keinen Effekt gehabt, weil die imperialistischen Akteure vom Krieg (jedenfalls, wenn er außerhalb Europas stattfand) profitierten, das wäre auch innenpolitisch nicht zu vermitteln gewesen.
Außerdem hätte wegen der Elsass-Lothringen-Problematik Russland selbst nicht teilnehmen können ohne zu riskieren, das Verhältnis zu Frankreich, wo es unter den Revanchisten interesse an einem zukünftigen Krieg zur Rückholung der Provinzen gab, zu beschädigen und jedenfalls einenen Teeil der französischen Öffentlichkeit gegen sich aufzubringen (hatte der Zar das bedacht?).

Die für mich plausibelste Lösung, wären bilaterale Gespräche zwischen Deutschland und Russland zwecks einvernehmlicher Auflösung beider Machtblöcke und deren Abwicklung gewesen, um die Gefahr von Kettenreaktionen im Konfliktfall abzubauen.

Warum Deutschland und Russland? Weil das die beiden wirklich mächtigen Parteien (Österreich und Frankreich betrachte ich in der Konstellation als Juniorpartner in ihren jeweiligen Blöcken, die nicht entscheidend waren) waren, die innnerhalb der Blockkonstellationen gegeneinander standen, obwohl es zwischen ihnen eigentlich keine konkreten Streitpunkte gab, die einen Krieg gegeneinander rechtfertigten.

Mit Großbritannien hatte man sich wegen des maritimen Wettrüstens verkeilt und die Frage der Sicherheit Westeuropas wurde angesichts der stark auseinandergehenden wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung Deutschlands und Frankreichs für London auch nicht leichter bearbeitbar, ohne tendenziell auf Konfrontationskurs mit Berlin zu bleiben und Paris weiter den Rücken zu stärken.

Mit St. Petersburg aber hätte man reden können.
Österreich und Frankreich waren in der vorhandenen Konstellation zu schwach und verletzlich, als dass diese Akteure darüber hätten nachdenken können eine Initiative zum Abbbau der Bündnisblöcke zu starten, zumal es nicht wirklich ihr Problem war, weil beide nur an einen potentiell mächtigen feindlichen Akteur grenzten.
Deutschland und Russland hingegen waren beide mächtig genug sich zutrauen zu können auch ohne Bündnissystem in einer europäischen Konstellation relativ sicher zu sein, wenn der Gegenblock auch abgewickelt wird.
Außerdem standen beide Akteure vor dem Problem an zwei tendenziell feindliche Großmächte zu grenzen, was militärische Herausforderungen bedeutete mehrere Fronten zu koordinieren etc. und Risiken beeinhaltete.

Bei Deutschland ist die Problematik zwischen Frankreich und Russland etwas offensichlicher, aber auch Russland, bzw. seine Westprovinzen in Polen, lag mit einem Teil seines Landes zwischen Deutschland und Österreich eingekeilt und auch Russland musste fürchten eine Zweifrontenkrieg zu führen, zumal ja in Deutschland bis 1913 der "Große Ostaufmarsch" als alternatives Kriegsszenario vorgehalten wurde.
Ich weiß nicht, ob die Russen es konkret kannten, aber auch in St. Petersbrug musste man davon ausgehen, dass Berlin so etwas in der Schublade haben würde und dass, wenn es ganz schlecht laufen würde Russland sich irgendwann einer deutsch-österreichischen Offensive ausgesetzt sehen könnte, während die immer größeren Festungsbauten an der Deutsch-Französischen Grenze es immer unwahrscheinlicher machten, dass Frankreich den Russen in so einem Fall hätte helfen können.

Ich denke mit einer deutsch-russischen Einigung auf bilateraler Ebene hätte man die Sache ohne weiteres entschärfen können. Die beiden Mächte hatten eigentlich keine größeren Probleme mit einander und beide brachten Vorraussetzungen und Konstellationen mit, in denen eine Einigung nahegelegen hätte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nochmal Shini, ganz langsam.

Die Doomsday-Maschine besteht darin, dass die technischen und organisatorischen Fortschritte des Militärs demselben eine stets kürzere Reaktionszeit abverlangen, während die Diplomatie weit träger bleibt und dergestalt nicht mehr deeskalieren kann.
 
Die Doomsday-Maschine besteht darin, dass die technischen und organisatorischen Fortschritte des Militärs demselben eine stets kürzere Reaktionszeit abverlangen, während die Diplomatie weit träger bleibt und dergestalt nicht mehr deeskalieren kann.
Der Mechanismus kommt aber nur durch die Bündniskonstellation zum Tragen.

Das stark verkürzte Zeitfenster der Diplomatie, durch den Druck von militärischer Seite im Besonderen in Deutschland anno 1914 wäre so nicht gegeben gewesen, hätte die Tripple-Entente so nicht existiert, die in der militärischen Logik vorraussetzte den Mobilisierungsvorsprung gegenüber Russland zu nutzen um einen Blitzsieg gegen Frankreich zu erreichen.

Wäre das nicht gegeben gewesen, dann wäre der gesamte Mechanismus so nicht zum Tragen gekommen. Dann hätte es einen militärischen Zugzwang in dieser Form nicht gegeben und die Diplomaten hätten weiter verhandeln können.
Selbst im Fall einer Moblimachung hätte ohne die Blockkonstellation zum Selbstschutz die simple Maßnahme einer Gegenmobilmachung genügt.

Die technischen und organisatorischen Fortschritte im Militärwesen erlaubten es Armeen schneller Mobilisieren und aufmarchieren zu lassen, determinierten aber nicht das tatsächliche Losschlagen.
Das war erst durch die jeweiligen Kriegsplanungen gegeben und die waren auf die Bünsniskonstellationen zugeschnitten und hätten bei anderen Konstellationen völlig anders ausgesehen, respektive man hätte in anderen Konstellationen auf diese Art Planungen möglicherweise weitgehend verzichten können, sofern sie über den Aufmarsch hinausgingen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Einen Krieg den niemand wollte und den alle verloren.

Wollte wirklich keiner den Krieg? Warum machte Russland dann mobil? Warum hing bereits am 24.07. in Serbien die entsprechenden Plakate zur Mobilmachung aus; das Ultimatum endete doch erst am 25.07..

Denn es hatte niemand etwas zu gewinnen (

Russland wollte die Meerengen, Frankreich wollte die beiden Provinzen zurück, Serbien wollte die Südslawische Frage in seinem Sinne lösen, in dem Bosnien und die Herzegowina Serbien angeschlossen werden.

Frankreich und Serbien haben ihre Ziele erreicht
Mich hat das wirklich beschäftigt und ich hab zwei Regal-Meter wissenschaftliche Literatur dazu gelesen.

Bei mir sind es deutlich mehr.

Mit Großbritannien hatte man sich wegen des maritimen Wettrüstens verkeilt

Das würde ich nicht soo hoch hängen. Viel entscheidender war, das sich Großbritannien mit Haut und Haaren der Triple Entente verschrieben hatte. Das Frankreich Poincare´s war willens Petersburg praktisch bedingungslos zu unterstützen, da man in Paris auch der zutreffenden Ansicht war, das die Briten es definitiv nicht hinnehmen würden, das Frankreich gegen Deutschland unterliegt oder auch nur eine Machteinbuße schlucken müsste.
 
Das würde ich nicht soo hoch hängen.
Naja, auf der Ebene der politischen Entscheidungsträger selbst, war es das wahrscheinlich auch nicht, aber dir ist ja durchaus bekannt, wie stark das Thema die öffentliche Meinung in Großbritannien beeinflusste.
Und das wiederrum bedeutete natürlich auch entsprechende Einengung des Handlungsspielraums der Regierung.
 
Richtig, die britische Öffentlichkeit war durch die Presse, beispielsweise eines Leopold Maxse, entsprechend verhetzt. Dann die alberne Invasionsfurcht vor den Deutschen, die eine solche gar nicht durchführen hätten können. Diese Furcht wurde aber durch entsprechend Romand befeuert. Selbst der C.I.D. musste sich mit dieser Frage beschäftigen. Ergebnis war ernüchternd. Es bestand keine Gefahr. Dies wurde aber nicht öffentlich gemacht, denn diese Invasionsfurcht wurde instrumentalisiert und Jahr für Jahr zwecks Bewilligung für Gelder für die Royal Navy missbraucht.
 
Richtig, die britische Öffentlichkeit war durch die Presse, beispielsweise eines Leopold Maxse, entsprechend verhetzt. Dann die alberne Invasionsfurcht vor den Deutschen, die eine solche gar nicht durchführen hätten können. Diese Furcht wurde aber durch entsprechend Romand befeuert. Selbst der C.I.D. musste sich mit dieser Frage beschäftigen. Ergebnis war ernüchternd. Es bestand keine Gefahr. Dies wurde aber nicht öffentlich gemacht, denn diese Invasionsfurcht wurde instrumentalisiert und Jahr für Jahr zwecks Bewilligung für Gelder für die Royal Navy missbraucht.
Aus diesem Umgang mit der Flottenpanik musste allerdings eine Einengung des politischen Spielraums zwangsläufig resultieren.

Nachdem man jahrelang diesem Phänomen von offizieller Seite nicht in der Weise entgegengetreten war, wie es nötig gewesen wäre um das zu entschärfen, sondern es mehr oder weniger jedenfalls dankend mitgenommen hatte um damit den Militärhaushalt zu rechtfertigen konnte man ja nicht einfach die politische Kehrtwende in dieser Frage hinlegen und versuchen die Bevölkerung zu beruhigen, denn dann hätte man ja erklären müssen, warum solche Aufklärung nicht von Beginn an gleistet wurde und warum Aufwändungen von Steuergeldern damit gerechtfertigt wurden, die jedenfalls in dieser Höhe (auf die deutschen Seerüstungen reagieren musste man schon, allerdings wären wahrscheinlich bescheidenere Programme hinreichend gewesen) wahrscheinlich objektiv nicht nötig waren.

Das aber wäre ein politischer Offenbarungseid gewesen.
Wenn man aber nicht zurück konnte und nicht in dem Maße beruhigend auf die eigene Bevölkerung wirken konnte, wie das wahrscheinlich angezeigt gewesen wäre, dann war man dazu verdammt weiter auf Konfrontationskurs mit Deutschland zu bleiben, bis man einen vorzeigbaren Erfolg im Flottenwettrüsten, namentlich die deutsche Aufgabe vorweisen konnte.
So lange in der Bevölkerung die Panik vor Deutschland und den deutschen Seerüstungen vorhanden war, hätte diese ein Zugehen auf Berlin, möglicherweise unter Zugeständnissen nicht verstanden und solche Schritte von Regierungsseite wahrscheinlich als für das eigene Land schädlich betrachtet.
Auch das konnte sich eine Regierung, die in hohem Maße von der öffentlichen Meinung abhängig war nicht leisten.

Insofern blockierde das Flottenwettrüsten die deutsch-britische Option. Vielleicht mehr auf der Ebene der öffentlichen Meinung, in Großbritannien, die gegen Deutschland eingestellt war und der Rechnung getragen werden musste, als auf der Ebene persönlicher Sentiments der Entscheidungsträger, aber im Grunde läuft das doch auf das gleiche hinaus.
Ob man von Seiten der britischen Regierung selbst eine Gefahr durch die deutschen Marinerüstungen sah und deswegen meinte in dieser Sache nicht verhandeln zu können oder ob man das zwar selbst für vernachlässigbar hielt, aber die öffentliche Meinung fürchtete, die das anders beurteilte, beides läuft darauf hinaus, dass die Chance für eine deutsch-britische Verständigung eher gering waren.

Hätte der Friden ein paar Jahre länger gehalten und wäre nach dem stillschweigenden Begraben der deutschen Flottenrüstungen etwas Gras über die Sache gewachsen und die britische Öffentlichkeit hätte sich beruhigt, dann hätten die Dinge vielleicht anders ausgesehen.
Aber grob zwischen 1910 und 1914 in meinen Augen unrealistisch.
 
Aus diesem Umgang mit der Flottenpanik musste allerdings eine Einengung des politischen Spielraums zwangsläufig resultieren.

Unbedingt.

Hätte der Friden ein paar Jahre länger gehalten und wäre nach dem stillschweigenden Begraben der deutschen Flottenrüstungen etwas Gras über die Sache gewachsen und die britische Öffentlichkeit hätte sich beruhigt, dann hätten die Dinge vielleicht anders ausgesehen.
Aber grob zwischen 1910 und 1914 in meinen Augen unrealistisch.

Sehe ich ähnlich. Ich würde sogar die Verlängerung der Abmachung zwischen Großbritannien in Frage stellen, denn das äußerst rücksichtslose Vorgehen der Russen in Persien, kam in der britischen Öffentlichkeit gar nicht gut an.

Nachdem man jahrelang diesem Phänomen von offizieller Seite nicht in der Weise entgegengetreten war, wie es nötig gewesen wäre um das zu entschärfen, sondern es mehr oder weniger jedenfalls dankend mitgenommen hatte um damit den Militärhaushalt zu rechtfertigen konnte man ja nicht einfach die politische Kehrtwende in dieser Frage hinlegen und versuchen die Bevölkerung zu beruhigen, denn dann hätte man ja erklären müssen, warum solche Aufklärung nicht von Beginn an gleistet wurde und warum Aufwändungen von Steuergeldern damit gerechtfertigt wurden, die jedenfalls in dieser Höhe (auf die deutschen Seerüstungen reagieren musste man schon, allerdings wären wahrscheinlich bescheidenere Programme hinreichend gewesen) wahrscheinlich objektiv nicht nötig waren.

Das aber wäre ein politischer Offenbarungseid gewesen.

Ja, das hätte die liberale Regierung in arge Verlegenheit gebracht. Also lieber das Feindbild Deutschland weiter pflegen.

Insofern blockierde das Flottenwettrüsten die deutsch-britische Option. Vielleicht mehr auf der Ebene der öffentlichen Meinung, in Großbritannien, die gegen Deutschland eingestellt war und der Rechnung getragen werden musste, als auf der Ebene persönlicher Sentiments der Entscheidungsträger, aber im Grunde läuft das doch auf das gleiche hinaus

Stimmt, denn die Stimmungsmache in der britischen Presse fand in Deutschland ja auch ein entsprechende Echo. Und dann das jahrelange Gezerre um die Bagdadbahn; aber das wurde ja endlich durch großes Entgegenkommen seitens Berlin gelöst. Auch die Kooperation während der Balkankrieg war eigentlich ermutigend. Sowohl Berlin als auch London waren bereit auf Ihre Freunde einzuwirken, um den Frieden zu erhalten.
 
Wollte wirklich keiner den Krieg? Warum machte Russland dann mobil?
Es geht ja um den großen Krieg, den "Weltenbrand". Denn wollte wohl niemand.
Und warum Russland mobil machte ist eine sehr schwierige Frage.
Ich selber versuche mir einen Reim darauf zu machen, eine Story zu (er)finden die plausibel sein kann.

Aber was würdest Du sagen: warum machte Russland eine Vollmobilisierung?
 
Zunächst: Russland war sich absolut darüber im Klaren, der französischen Botschafter hat es unaufgefordert immer wiederholt, das Frankreich seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen wird. Diese hatte Poincaré bekanntermaßen ja ausgeweitet.
Des Weiteren war auch klar, das London Paris nicht "im Stich lassen würde", da es definitiv eine Niederlage Frankreichs oder sei es auch nur eine Schwächung nicht willens war zu dulden.

Ich denke schon, das die Russen den Krieg wollten. Weshalb hätten sie sonst gegen eine Macht, die sie überhaupt nicht bedroht, mobilmachen sollen?

Die Serben hätten es nie und nimmer riskiert, den Forderungskatalog Österreich-Ungarns abzulehnen, wenn sie nicht die russischen Rückendeckung gehabt hätten. Die Forderungen waren nicht unerfüllbar.

Russland hasste Österreich-Ungarn aufrichtig und tief und dies war nun die Gelegenheit mit Wien endlich abzurechnen und ganz wichtig, die alten Wunschträume hinsichtlich der Meerengen zu realisieren.
 
Ich denke schon, das die Russen den Krieg wollten. Weshalb hätten sie sonst gegen eine Macht, die sie überhaupt nicht bedroht, mobilmachen sollen?

Es ist immerhin möglich, dass man in St. Petersburg auf den Gedanken verfallen konnte, dass Serbien nur der Anfang einer größeren Aktion der Zentralmächte in Europa sei.

Immerhin Deutschland stand offensichtlich hinter der Aktion, im Alleingang ohne der deutschen Unterstützung sicher zu sein hätte sich Wien den Schritt niemals getraut und auch Berlins reserviertes Verhalten in Sachen Verhandlungen auf gesamteuropäischer Ebene und in Sachen Einwirken auf Wien musste in ganz erheblichem Maße darauf hindeuten.

Der Krieg gegen Serbien lieferte Wien einen Anlass zur Generalmobilmachung und gleichzeitig musste klar sein, dass im Falle einer Ausweitung der Aktion, nach einer militärischen Niederlage Serbiens, Östrreich die mobilisierten Kräfte recht zügig nach Norden verschieben konnte, während eine Deutsche Mobilmachung in denkbar kurzer Zeit erfolgen könnte.
St. Petersburg wusste von dem Deutschen West-Szenario, aber wahrscheinlich nicht, dass auf deutscher Seite kein Ost-Szenario mehr vorhanden war.

Insofern könnte Mobilmachung auf russischer Seite mindestens theoretisch (belegen kann ich das nicht), als Vorsichtsmaßnahme gedacht worden sein, für den Fall, dass Wien und Berlin nach Niderwerfung Serbiens auf die Idee kommen könnten das Momentum zu nutzen um auch gleich, so zu sagen in einem Abwasch gegen Russland vorzugehen.


Im Fall einer militärischen Konfrontation mit den Zentralmächten, konnte Russland nur darauf bauen, dass Österreich relativ langsam mobilmachen würde und Truppen würde abzwacken müssen um mindestens die serbische, Grenze noch mit zu bedecken.
Im Fall, dass Österreich aber bereits mobilisiert haben würde, wozu der Serbien-Feldzug Gelegenheit verschaffte und im Fall des Ausfallens der Südbindung eines Teils der K.u.K.-Armee, wäre dieser Vorteil natürlich entfallen und Deutschland konnte so schnell mobilisieren, dass Russland dem in Sachen Tempo nichts entgegenzusetzen gehabt hätte, wenn es keine Vorbereitungen traf.


Das halte ich zumindest für eine denkbare Erklärung.
 
Stimmt, denn die Stimmungsmache in der britischen Presse fand in Deutschland ja auch ein entsprechende Echo. Und dann das jahrelange Gezerre um die Bagdadbahn; aber das wurde ja endlich durch großes Entgegenkommen seitens Berlin gelöst. Auch die Kooperation während der Balkankrieg war eigentlich ermutigend. Sowohl Berlin als auch London waren bereit auf Ihre Freunde einzuwirken, um den Frieden zu erhalten.

Der Unterschied ist aber der, dass in Deutschland die Regierung dadurch, dass sie vom Kaiser bestellt und entlassen wurde in erheblichem Maß weniger von der öffentlichen Meinung abhängig war, als das in Großbritannien der Fall war, sofern der Kaiser bereit war auch unpopuläres zuzulassen und solche unpopulären Maßnahmen keine finanziellen Mittel erforderten, die der Reichtag hätte bewilligen müssen.

D.h. kaiserliches Placet vorausgesetzt, konnte die deutsche Regierung prinzipiell freier in Verhandlungen aggieren, als die britische.

Nun hatten in Sachen Flottenwettrüsten beide Regierungen das Problem, dass sie die negative Stimung (in GB Invasionspanik, in D zunehmende Einkreisungspanik) gegenüber der anderen Seite, zum Teil genutzt hatte um die jeweiligen Marinevorlagen durchzubringen, während aber nur eine Seite den Prestigeerfolg das Wettrüsten zu gewinnen und diese Politik nachträglich zu rechtfertigen, erreichen konnte.

Ein anderer Unterschied liegt darin, dass das Ressentiment gegenüber der jeweils anderen Seite verschiedengestaltig war. So unbegründet das objektiv auch war, auf der britischen Seite hatte die Öffentlichkeit ja durchaus in Teilen Angst vor einer Invasion, aber auf der deutschen Seite bestand eigentlich nicht die Vorstellung einer britischen Invasion Deutschlands (dazu hätte es ja Landstreitkräfte benötigt, die GB so nicht zur Verfügung standen), sondern die, dass Gb an einer antideutschen Koalition zimmerte.

Nun konnte angesichts der vorhandenen Invasionspanik, in Großbritannien auch bei einem Regierungswechsel die Politik nicht einfach umschwänken.
Das Wettrüsten von britischer Seite ging zwar zum Großteil auf das Konto der Liberalen, weniger auf das der Konservativen, aber das Problem ist, dass die Bevölkerung hier von einem sehr konkreten Bedrohungsszenario ausging (während das auf deutscher Seite eher diffus war und bis Kriegsbeginn zumeist eher Frankreich als der Akteur galt, dem man konkrete Kriegsabsichten zutrauen konnte).

D.h. (jedenfalls aus meiner Sicht) waren in Deutschland die Chancen die Bevölkerung zu beruhigen besser, weil die sich zu großen Teilen noch auf ein anderes Feindbild konzentrierte.

Wahrscheinlich hätte es mit dem Sturz Bülows 1909 und der Installation der neuen Regierung Bethmann-Hollweg die Möglichkeit gegeben aus dem Wettrüsten auszusteigen und damit auch die Bevölkerung in Großbritannien zu beruhigen.

Man hätte an dem Punkt (dass man das angestrebte nummerische Stärkeverhältnis gegenüber der Royal Navy nicht erreichen würde, zeichnete sich ja bereits ab), die Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen auf den geschassten Bülow schieben, sich maritim für saturiert erklären können, was den Schutz der heimatlichen Gewässer und des eigenen Handels angeht und versuchen können, auf dieser Basis London entgegen zu kommen.
Aber stattdessen machte man eben den Fehler noch die Flottennovelle von 1912 nachzulegen.

Nachdem das passiert war und auch die Regierung Bethmann-Hollweg in das Flottenrüsten involviert war, hätte die einzige Möglichkeit da auszubrechen, ohne die Sache langsam auslaufen zu lassen und die Zeit bis zur Beruhigung auf beiden Seiten auszusitzen darin bestanden, dass der Kaiser ein Machtwort hätte sprechen und klar allen weiteren Marinerüstungen eine Absage hätte erteilen müssen und möglicherweise hätte er um dabei glaubhaft bleiben zu können, erneut seinen Kanzler auswechseln müssen.
Ohne explizite kaiserliche Rückendeckung für den Abbruch des Flottenwettrüstens wäre Bethmann aus der Sache nicht heraus gekommen, weil er ohne dem die Nationalliberalen gegen sich aufgebracht hätte.
Als vom Kaiser eingesetzte und abhängige Regierung konnte sich Bethmann natürlich in Haushaltsfragen nicht von der Sozialdemokratie abhängig machen, die ab 1912 im Reichstag stärkste Kraft war.
Mit sowohl den Sozialdemokraten, als auch den Nationalliberalen und mindestens Teilen des Zentrums gegen sich, hätte die Regierung Bethmann-Hollweg wahrscheinlich keinen Haushalt mehr durchbekommen.
D.H. hier hätte der Kaiser eingreifen und klarstellen müssen, dass er keine Regierung mehr berufen würde, die am Flottenrüsten festzuhalten beabsichtigte und gegebenenfalls hätte er seine gesamte Autorität aufwenden und Auflösung des Reichstags und Neuwahlen androhen müssen um Bethmann zu stützen.

Das wären relativ hohe Hürden gewesen, aber man hätte sie auf der deutschen Seite, wenn das als so dringlich erkannt und aufgefasst worden wäre und wenn KWII bereit gewesen wäre, sich mit den Nationalliberalen anzulegen, wahrscheinlich nehmen können.

Auf der britischen Seite wäre das in meinen Augen schwieriger gewesen, weil die Stimmung in der Bevölkerung wegen der ganz konkreten Invasionsangst anders gelagert war, vor diesem Hintergrund Verhandlungen wegen der maritimen Angelgenheiten in jedem Fall unpopulär sein mussten und weil im politischen System Großbritanniens es keinen Monarchen gab, der eine unpopuläre Regierung trotzem im Amt halten und diesem Parlament nötigenfalls mit Auflösung und Neuwahlen drohen konnte, wenn es ein entsprechendes Machtwort nicht schluckte.

Ein weiterer Vorteil der auf der Deutschen Seite bestanden hätte, was das betrifft, war, dass der Reichstag kein Initiativrecht hatte, und somit allein die Regierung in der Hand hatte, was an Gesetzesvorlagen eingebracht werden konnte.
In Großbritannien hätten alle Versuche aus dem Wettrüsten auszusteigen ohne einen eigenen Sieg vermelden zu können aus dem Parlament heraus torpdiert werden können, weil dass durch neue Rüstungsvorlagen immer neue Debatten darüber hätte erzwingen und das Thema so auf der Agenda hätte halten können.
In Deutschland hätte sich die Regierung einfach weigern können entsprechende Vorlagen einzubringen womit klar gewesen wäre, dass in die Richtung nichts mehr ging.
Gleichzeitig wäre es, wenn der Kaiser mitgespielt hätte möglich gewesen im Fall, dass die Parlamentarier ihre Rhetorik in Sachen Flotte nicht mäßigten, die Auflösung des Reichstags anzudrohen und durch Zusammenwirken der Verbannung der Flottenthematik aus den Gesetzesvorlagen durch die Regierung und Auflösungsdrohung von Seiten des Kaisers, die Thematik zu deckeln.
 
Es ist immerhin möglich, dass man in St. Petersburg auf den Gedanken verfallen konnte, dass Serbien nur der Anfang einer größeren Aktion der Zentralmächte in Europa sei.

Tat man aber nicht. Weitreichende Pläne waren Sache der Sängerbrücke. Die Drei Konferenzen nach der Liman-von-Sanders-Krise geben darüber überzeugend Auskunft.

Immerhin Deutschland stand offensichtlich hinter der Aktion, im Alleingang ohne der deutschen Unterstützung sicher zu sein hätte sich Wien den Schritt niemals getraut und auch Berlins reserviertes Verhalten in Sachen Verhandlungen auf gesamteuropäischer Ebene und in Sachen Einwirken auf Wien musste in ganz erheblichem Maße darauf hindeuten.

Deutschland stand hinter der "Strafexpediton" gegen Serbien, später ergänzt mit "Halt in Belgrad". Natürlich hätte Wien den Schritt nicht ohne die Rückendeckung des deutschen Bündnispartners gewagt. Man gab sich aber immer noch der Hoffnung hin, das es bei einem lokalen Krieg bleiben würde. Nicht ohne Grunde wurde am die österreichisch-ungarische Armee für den Großen Balkanfall mobilisiert; also einschließlich der 2.Armee. Ansonsten hätte man den R-Fall aktiviert und hätte auch nicht die Probleme beim Aufmarsch gehabt.

Der Krieg gegen Serbien lieferte Wien einen Anlass zur Generalmobilmachung und gleichzeitig musste klar sein, dass im Falle einer Ausweitung der Aktion, nach einer militärischen Niederlage Serbiens, Östrreich die mobilisierten Kräfte recht zügig nach Norden verschieben konnte, während eine Deutsche Mobilmachung in denkbar kurzer Zeit erfolgen könnte.

Wie schon gesagt: Es wurde gegen Serbien mobil gemacht. Die Mobilmachung gegen Russland erfolgte später, nämlich als definitiv klar war, das Russland für Serbien, mit dem man nicht verbündet oder sonst irgendwie verpflichtet war, in den Krieg ziehen würde.

Im Fall einer militärischen Konfrontation mit den Zentralmächten, konnte Russland nur darauf bauen, dass Österreich relativ langsam mobilmachen würde und Truppen würde abzwacken müssen um mindestens die serbische, Grenze noch mit zu bedecken.
Im Fall, dass Österreich aber bereits mobilisiert haben würde, wozu der Serbien-Feldzug Gelegenheit verschaffte und im Fall des Ausfallens der Südbindung eines Teils der K.u.K.-Armee, wäre dieser Vorteil natürlich entfallen und Deutschland konnte so schnell mobilisieren, dass Russland dem in Sachen Tempo nichts entgegenzusetzen gehabt hätte, wenn es keine Vorbereitungen traf.

Die russische Mobilmachung verlief, dank der französischen Milliarden, zügig. Die Russen erschienen sehr schnell an der galizischen Grenze.
Weder die 1., 3. noch die 4.Armee waren von Österreich-Ungarn mobilisiert worden. Nur die Korps, die für einem Krieg gegen Serbien vorgesehen waren.
 
Die russische Mobilmachung verlief, dank der französischen Milliarden, zügig. Die Russen erschienen sehr schnell an der galizischen Grenze.
Weder die 1., 3. noch die 4.Armee waren von Österreich-Ungarn mobilisiert worden. Nur die Korps, die für einem Krieg gegen Serbien vorgesehen waren.
Dennoch wurde ein ganz erheblicher Teil der Österreichisch-Ungarischen Streitkräfte mobilisiert und das obwohl man eigentlich erwarten konnte, dass die Donaumonarchie auch in der Lage sein würde Serbien mit dem Friedensheer militärisch zu schlagen, immerhin war bereits das erheblich größer, als das was die Serben ad hoc zur Verfügung hatten und natürlich hatte Serbien gerade erst zwei Kriege hinter sich und musste natürlich auch immer noch auf den Bulgarischen Nachbarn Acht geben.
Zumal auch zu erwarten war, dass sich die Serben wahrscheinlich nicht auf eine grenznahe Enntscheidungsschlacht einlassen, sondern nach Süden zurückweichen würden, was es wahrscheinlich erscheinen lassen musste, dass die Österreicher Jedenfalls Belgrad und Umgebung relativ zügig würden einnehmen können.

Das Wien eine Mobilisierung an der galizischen Grenze zunächst unterließ, ändert nichts daran, dass sich dass, wenn Serbien erst besiegt sein würde nachholen ließ, falls Wien und Berlin darauf aus wären den Krieg auszuweiten und eine Ausschaltung Serbiens zu nutzen um vereinigt gegen Russland vorzugehen.

Mir brauchst du nicht zu belegen, dass Wien und Berlin das nicht vor hatten, die Frage ist aber, wie viel von den internen Abreden Berlins und Wiens kannten die Russen und konnte hier Nichtwissen für Verunsicherungen sorgen und Befürchtungen befeuern?
 
Der Unterschied ist aber der, dass in Deutschland die Regierung dadurch, dass sie vom Kaiser bestellt und entlassen wurde in erheblichem Maß weniger von der öffentlichen Meinung abhängig war, als das in Großbritannien der Fall war, sofern der Kaiser bereit war auch unpopuläres zuzulassen und solche unpopulären Maßnahmen keine finanziellen Mittel erforderten, die der Reichtag hätte bewilligen müssen.

Bis 1918 durfte längst nicht jeder Brite zur Wahl gehen. Frauen durften gar nicht wählen. Ca. 40% der Männer waren nicht wahlberechtigt.

Und die Öffentlichkeit wurde von der britischen Regierung auch schon mal belogen. Auch in Deutschland gab es Grenzen; ich erwähne hier einmal nur die Dailey Telegraph Affäre. Oder beispielsweise wie die Zeitschrift "Die Zukunft" Eulenburg durch eine Pressekampagne moralisch erledigt. Eulenburg war der engste Freund und Ratgeber des Kaiser gewesen und hatten einen gewaltigen Einfluss auf Wilhelm II. gehabt.

Ein anderer Unterschied liegt darin, dass das Ressentiment gegenüber der jeweils anderen Seite verschiedengestaltig war. So unbegründet das objektiv auch war, auf der britischen Seite hatte die Öffentlichkeit ja durchaus in Teilen Angst vor einer Invasion, aber auf der deutschen Seite bestand eigentlich nicht die Vorstellung einer britischen Invasion Deutschlands (dazu hätte es ja Landstreitkräfte benötigt, die GB so nicht zur Verfügung standen), sondern die, dass Gb an einer antideutschen Koalition zimmerte.

Eine Angst, die von der britischen Presse und Unterhaltungsliteratur geschürt wurde und die Regierung, die es besser wußte, es unterließ aufklärende Information an die Öffentlichkeit zu geben.

Die Einkreisungsphobie Deutschlands war durchaus nicht unbegründet. Mit der Entente Cordiale nahm es seinen Lauf. Da haben sich zwei große Mächte geeinigt, völkerrechtswidrig, was u.a. mit Marokko geschehen soll. Der Madrider Vertrag wurde dabei souverän beiseite gewischt. Dieser Vertrag wird übrigens noch heute in Frankreich und Großbritannien gedacht.

Seit dem Jahre 1907 war die außenpolitische Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit Deutschlands stark eingeschränkt. Denn zu beachten ist, Großbritannien in den USA einen großen Schutzpatron hatte und in Fernost mit Japan eine aufsteigende Großmacht als Verbündeten. Russland hat sich nach dem verlorenen Krieg schnell mit Japan arrangiert, französischen Geld war dabei behilflich, und bekam damit den Rücken frei, sich um sein Lieblingsprojekt, die Meerengen zu kümmern. Das mündete direkt in die Gespräche von Iswolsky und Aehrenthal ein. Die Annexionskrise möchte ich nicht erörtern, dafür gibt es einen Faden, in dem ich diese Krise sehr ausführlich dargestellt habe.

Wahrscheinlich hätte es mit dem Sturz Bülows 1909 und der Installation der neuen Regierung Bethmann-Hollweg die Möglichkeit gegeben aus dem Wettrüsten auszusteigen und damit auch die Bevölkerung in Großbritannien zu beruhigen.

Großbritannien wollte Bethmann, der ja nun aufrichtig bemüht war, nicht entgegenkommen. London hielt unbedingt an seinen Bündnispartnern fest und war nicht einmal im Kriegsfalls zur Neutralität bereit. ist ja nicht so, das Frankreich dann allein auf weiter Flur gestanden hätte. Nein, Deutschland sollte in Sachen Flottenrüsten entgegenkommen und dann könne weitergesehen werden. Eine merkwürdige Ansicht.
Nachdem das passiert war und auch die Regierung Bethmann-Hollweg in das Flottenrüsten involviert war, hätte die einzige Möglichkeit da auszubrechen, ohne die Sache langsam auslaufen zu lassen und die Zeit bis zur Beruhigung auf beiden Seiten auszusitzen darin bestanden, dass der Kaiser ein Machtwort hätte sprechen und klar allen weiteren Marinerüstungen eine Absage hätte erteilen müssen und möglicherweise hätte er um dabei glaubhaft bleiben zu können, erneut seinen Kanzler auswechseln müssen.

Nachdem die sogenannte "Haldane-Mission" gescheitert war, Tirpitz und der Kaiser waren da auch nicht gerade entgegenkommend, aber die Briten wollte sowieso nicht, die Reise wurde nur für die britische Öffentlichkeit veranstaltet, nach dem Motto "Seht her, wie haben es ja versucht..." Die Deutschen wollten für ihren Verzicht von den Briten etwas haben und die wollten dafür nichts geben.
Mit sowohl den Sozialdemokraten, als auch den Nationalliberalen und mindestens Teilen des Zentrums gegen sich, hätte die Regierung Bethmann-Hollweg wahrscheinlich keinen Haushalt mehr durchbekommen.
D.H. hier hätte der Kaiser eingreifen und klarstellen müssen, dass er keine Regierung mehr berufen würde, die am Flottenrüsten festzuhalten beabsichtigte und gegebenenfalls hätte er seine gesamte Autorität aufwenden und Auflösung des Reichstags und Neuwahlen androhen müssen um Bethmann zu stützen.

Das sind sehr theoretische Konstrukte.

Auf der britischen Seite wäre das in meinen Augen schwieriger gewesen, weil die Stimmung in der Bevölkerung wegen der ganz konkreten Invasionsangst anders gelagert war, vor diesem Hintergrund Verhandlungen wegen der maritimen Angelgenheiten in jedem Fall unpopulär sein mussten und weil im politischen System Großbritanniens es keinen Monarchen gab, der eine unpopuläre Regierung trotzem im Amt halten und diesem Parlament nötigenfalls mit Auflösung und Neuwahlen drohen konnte, wenn es ein entsprechendes Machtwort nicht schluckte.
Wenn man die Wahrheit gesagt hätte, ganz sicher nicht. Aber man verschwieg diese der eigenen Bevölkerung lieber.
 
Dennoch wurde ein ganz erheblicher Teil der Österreichisch-Ungarischen Streitkräfte mobilisiert und das obwohl man eigentlich erwarten konnte, dass die Donaumonarchie auch in der Lage sein würde Serbien mit dem Friedensheer militärisch zu schlagen, immerhin war bereits das erheblich größer, als das was die Serben ad hoc zur Verfügung hatten und natürlich hatte Serbien gerade erst zwei Kriege hinter sich und musste natürlich auch immer noch auf den Bulgarischen Nachbarn Acht geben.

Im Südosten standen die 5.,6. und 2.Armee. Die Serben hatten durch die enormen territorialen Gewinne der Balkankriege ihr Rekrutierungspotenzial ganz erheblich vergrößert.Pasic sagte dem Zaren 500.000 Mann zu. Von Petersburg wurde nämlich auch Druck ausgeübt, um gegen die Monarchie offensiv vorzugehen.
Für die Operationen standen aber lediglich die 5. und 6. Armee zur Verfügung, da die 2. Armee schleunigst auf dem galizischen Kriegsschauplatz abtransportiert werden musste.
 
Das Wien eine Mobilisierung an der galizischen Grenze zunächst unterließ, ändert nichts daran, dass sich dass, wenn Serbien erst besiegt sein würde nachholen ließ, falls Wien und Berlin darauf aus wären den Krieg auszuweiten und eine Ausschaltung Serbiens zu nutzen um vereinigt gegen Russland vorzugehen.

Aber das war doch gar nicht angedacht! Der Krieg sollte lokalisiert bleiben!
 
Bis 1918 durfte längst nicht jeder Brite zur Wahl gehen. Frauen durften gar nicht wählen. Ca. 40% der Männer waren nicht wahlberechtigt.
Richtig, es ändert aber nichts an dem Umstand, dass in Großbritannien die Regierung de facto dem Parlament verantwortlich war und das ein Verlust der Zustimmung im Parlament dessen Zusammensetzung von der öffentlichen Meinung abhing, einer Regierung anders als in Deutschland (wo der Kaiser sie stützen konnte) den Boden entziehen musste.

Eine Angst, die von der britischen Presse und Unterhaltungsliteratur geschürt wurde und die Regierung, die es besser wußte, es unterließ aufklärende Information an die Öffentlichkeit zu geben.

Die Einkreisungsphobie Deutschlands war durchaus nicht unbegründet. Mit der Entente Cordiale nahm es seinen Lauf. Da haben sich zwei große Mächte geeinigt, völkerrechtswidrig, was u.a. mit Marokko geschehen soll. Der Madrider Vertrag wurde dabei souverän beiseite gewischt. Dieser Vertrag wird übrigens noch heute in Frankreich und Großbritannien gedacht.
Es ging mir gerade überhaupt nicht darum, ob Ängste begründet waren oder nicht.

Viel mehr darum, dass ich der Meinung bin, dass man auf Grund der verschiedenartigen Strukturen der jeweiligen politischen Systeme und die verschiedenen konkreten Inhalte dieser Ängste, unterschiedliche Handlungsspielräume antizipieren kann, weswegen man die Akteure in ihrem Handeln nicht unbedingt gleichsetzen kann.

Mir ist natürlich klar, auch Deutschland keine keine absolute Monarchie war, wo man das Parlament längere Zeit übergehen konnte oder wo es völlig ohne die öffentliche Meinung gegangen wäre.
Aber die verfassungsmäßigen Möglicheiten (vorrausgesetz der Kaiser spielte mit) in bestimmten Fragen Druck auf das Parlament zu machen (mögliche Auflösungsorder durch den Kaiser) und die Möglichkeit für die Regierung in größerem Maße die politische Agenda zu bestimmen (wegen des fehlenden Initiativrechts des Reichstages), die waren in Deutschland stärker ausgeprägt.

Nachdem die sogenannte "Haldane-Mission" gescheitert war, Tirpitz und der Kaiser waren da auch nicht gerade entgegenkommend, aber die Briten wollte sowieso nicht, die Reise wurde nur für die britische Öffentlichkeit veranstaltet, nach dem Motto "Seht her, wie haben es ja versucht..." Die Deutschen wollten für ihren Verzicht von den Briten etwas haben und die wollten dafür nichts geben.
Naja, dass sich die Briten da nichts abschwatzen ließen, war verständlich.

Russlands Erhohlung zeichnete sich ab, damit der Umstand, dass Deutschland ohnehin in zukunft wieder mehr für die Landrüstung würde tun müssen und das damit das Geld für neue Flottenprogramme mittelfristig fehlen würde.
Warum der anderen Seite für das Einstellen der Seerüstungen etwas geben, wenn diese das ohnehin in Zukunft tun muss? Hätte man von britischer Seite etwas angeboten, hätte man in GB der Regierung vorgeworfen, dass sie sich hätte über den Tisch ziehen lassen und dass sie sich erpressbar gemacht hätte.

Das sind sehr theoretische Konstrukte.
Pardon, die Möglichkeit den Reichstag durch Drohung mit Auflösung und Neuwahlen zu disziplinieren, ist ja nun kein vollkommenes Hirngespinst, sondern das war eine durchaus reale verfassungsmäßige Option.

Es hatte ja 1887 und 1893 vorzeitige Auflösungen des Reichstags durch den Kaiser gegeben, weil die Regierung im Themenfeld der Heeresvorlagen keine Mehrheit zustande bekam.
Die Möglichkeit den Versuch zu unternehmen, einer Regierung in Fragen der Rüstungspolitik durch kaiserliche Auflösungsorder und Neuwahlen Mehrheiten zu verschaffen und den Reichstag dadurch auf Linie zu bringen, hatte es ja auch von Hand KW II.s durchaus schonmal gegeben.

Das war eine bespielbare Option um im gewissen Maße Druck auf das Parlament auszuüben die kaiserliche Regierung zu unterstützen und auch die eine oder andere unpopuläre Maßnahe mitzutragen.

Diese Möglichkeit gab es im politischen System Großbritanniens nicht, dadurch war es in dieser Hinsicht unflexibler.

Wenn man die Wahrheit gesagt hätte, ganz sicher nicht. Aber man verschwieg diese der eigenen Bevölkerung lieber.
Naja, wenn man von Anfang an, der Invasionspanik entgegengetreten wäre und versucht hätte das zu entkräften, hätte das anders ausgesehen.

Da man das aber nicht getan hatte, griff dann irgendwann die politische Pfadabhängigkeit, die man berücksichtigen muss.
Man kann das politische Nichthandeln gegen die Panikstimmung natürlich als unverantwortlich von Seiten der Politik betrachten.
Das ändert aber nichts daran, dass man hätte erkennen müssen, dass sich die britische Regierung in eine Lage manövriert hatte, in der ihre Optionen eingeschränkt waren, wenn sie nicht entweder politischen Selbstmord begehen wollte oder wenn man ihr dort nicht heraushalf.

Das eine ist ein normatives Werturteil das andere eine funktionale Einsicht.
 
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Im Südosten standen die 5.,6. und 2.Armee. Die Serben hatten durch die enormen territorialen Gewinne der Balkankriege ihr Rekrutierungspotenzial ganz erheblich vergrößert.
Ja natürlich, aber das waren zu großen Teilen untrainierte (jedenfalls was eine moderne Kriegsführung betrifft) Rekruten, deren reale Gefechtsstärke in einer offenen Konfrontation mit Jahrelang ausgebildeten, besser ausgerüsteten Truppen realiter stark abfallen musste.

Theoretisches Rekrutierungspotential und Kopfzahlen allein sagen ja nicht unbedingt etwas über die reale militärische Stärke der entsprechenden Armee aus und dass die Serben die grenznahe Entscheidungsschlacht im Norden tunlichst vermiden und sich in südlicher Richtung absetzten um die dürftige Infrastruktur und die teilweise gebirgigen Landschaften auszunutzen zeigt, dass sich Belgrad dessen auch sehr bewusst war.

Aber das war doch gar nicht angedacht! Der Krieg sollte lokalisiert bleiben!
Das musst du mir nicht erklären, dass das zwischen Berlin und Wien nicht angedacht war.

Die Frage ist aber, wie viel von den internen Abreden Berlins und Wiens kannten das russische Kriegsministerium und der russische Generalstab, als diese zur Mobilisierung drängten?

Natürlich, Berlin und Wien betonten die Absicht das zu lokalisieren. Aber das konnte natürlich auch als Nebelkerze aufgefasst werden um die mögliche Absicht (wenn man es aus russischer Perspektive betrachtet) zu verschleiern, sich die Gegner nacheinander vorzunehmen und mit der Lokalisierung einfach nur die Ausschaltung des ersten Gegners zu bezwecken, bevor man ggf. gegen andere würde vorgehen können.

Wenn die russischen Militärs keine detaillierten Einblicke in die Interna in Berlin und Wien hatten, war das eine reale Möglichkeit, die sie zumindest auf dem Zettel haben mussten.
 
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