Zählen Sudetinnen und Sudeten als eigenständiges Volk?

Für diejenigen die z.B. in Bayern sich dann ansiedelten, war es kaum möglich sich zu erklären, da ja auch die Bevölkerung "im Reich" keine Vorstellung von der ethnischen Vielfaltigkeit Südostmitteleuropas und des Donauraumes hatte.

Das halte ich, vorsichtig ausgedrückt, für ziemlich weit hergeholt.

Dafür dass man in Form der Bewohner Deutschlands diesen Umstand hätten übersehen können, ist schlicht viel zu viel propagandawirksam Politik mit diesen Minderheiten betrieben worden.

Mal abgesehen davon, dass Millionen von Deutschen in der Wehrmacht dienten und gerade in den Jahren 1944 und 1945 mitunter kriegsbedingt oder als Besatzer in diesen Regionen unterwegs waren wie auch bereits die Generation von deren Vätern mitunter im 1. Weltkrieg dort waren.
 
Deutsche Kolonisten wurden bereits im 12. Jahrhundert von böhmischen Landesfürsten gerufen, um brach liegendes Land zu besiedeln und zu bearbeiten. Viele folgten dieser Anwerbung. Sie stammten hauptsächlich aus Süddeutschland. Sie gründeten Kolonistendörfer. So entstanden deutsche Sprachgebiete, wo deutsches Volkstum 700 Jahre lang bewahrt wurde, mitten in Böhmen und Mähren (sogenannte Sprachinseln z. B. Iglauer Sprachinsel, Schönhengstgau). Also nicht nur die Grenzgebiete waren von Deutschen besiedelt. Auch in Prag lebten viele Deutsche.

Nachdem die Habsburger, die ja auch über Jahrhunderte den deutschen Kaiser stellten, den böhmischen Thron eroberten (wahrscheinlich durch Heirat?) und auch Mähren einnahmen, hatten die Deutschen immer unter dem Schutz der Krone gestanden. Ich glaube, daß die slawische Bevölkerung in dieser Zeit unterdrückt wurde, bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich so war. Vielleicht weiß das jemand? Im 19. Jahrhundert kam es zu Nationalitätenkämpfen in Prag (Studentenunruhen). Nachdem Österreich-Ungarn nach dem 1. Weltkrieg zusammengebrochen ist, waren die guten Zeiten für die Deutschen vorbei. Deshalb waren sie auch so anfällig für Hitler. Der Ausdruck Sudetendeutsche entstand erst in dieser Zeit, glaube ich, weil es die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein gab.
 
Es gab immer - insbesondere auch im Vorfeld des 30jährigen Krieges - Proteste, dass nur Beamte eingesetzt werden sollten, die Böhmen waren. Inwieweit es um Religion, Sicherung von Pfründen für die Landstände oder Ethnizität ging, ist so eine Sache. Deutsche Fürsten engagierten zeitweise auch gerne 'böhmische' Söldner gegen ihre Untertanen. Ich denke aber, wir müssen uns von heutigen Vorstellungen freimachen. Es ging eher um tagespolitische Probleme als um 'völkisches' Denken.

Ich hatte ja schon geschrieben, dass es eben um eine besondere Situation geht, die - vielleicht schon seit Ottokar - verhinderte, dass sich die Bevölkerungsgruppen unter welchen Vorzeichen auch immer verbanden. Das sollte vielleicht eher positiv gesehen werden: Ein Miteinander war offensichtlich möglich, auch wenn es Probleme gab.

(Es ist auch immer zu fragen, was jeweils aktuell mit Böhmisch gemeint ist. Ein Teil der Landstände war z.B. deutscher Herkunft.)
 
Nachdem die Habsburger, die ja auch über Jahrhunderte den deutschen Kaiser stellten, den böhmischen Thron eroberten (wahrscheinlich durch Heirat?)
Indirekt ja: Ferdinand I., mit dem Böhmen 1527 - bis auf zwei kurze Unterbrechungen - endgültig an die Habsburger ging, war der Schwager des letzten und Schwiegersohn des vorletzten böhmischen Königs. (Davor hatten die Habsburger bereits 1306-1307 und 1438-1457 den böhmischen König gestellt.)

Formal war Böhmen allerdings lange Zeit ein Wahlkönigtum, bis die Königswahl im Dreißigjährigen Krieg abgeschafft wurde.
 
Ursprünglich war die Bezeichnung "sudetendeutsch" also ein reiner Nazi-Begriff.

Das würde ich bezweifeln.
@Sepiola wies bereits darauf hin, dass der Begriff schon älter ist.
Ich hab mal "Mein Kampf" inkl. Band 2 von 1926 (Ausgabe 1943) angeschaut und die Suche drüber laufen lassen.
"Sudeten" nicht erwähnt. Ebenso wenig bei seinen Reden von 1925 - Jan. 1933 gemäß dieser Sammlung:
Hitler Reden, Schriften, Anordnungen, Februar 1925 Bis Januar 1933 ( 12 Bände) : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive

Die Durchsetzung des Begriffes geht maßgeblich auch diese Partei zurück.

Das vermute ich auch. Und darum geht es ja letztlich.


Nein, das war keine "Definition von außen"
Ich weiß jetzt nicht wie sich eine kleine ethnische Gruppe an der Nahtstelle eines Konflikts mit einer großen Macht einer "Definition von außen" gänzlich entziehen könnte.
 
Das würde ich bezweifeln.

Dem schließe ich mich an.

Ich denke die Nazis werden eine real vorhandene Regionalidentität aufgegriffen haben, die es im Norden Böhmens und Mährens gab, bzw. die sich herausbildete und versucht haben das auf den Süden auszudehen.

Ich denke, dass sich die nördlichen und südlichen Minderheitengebiete der Tschechoslowakei identitätspolitisch unterschiedlich entwickelt haben werden.

Weil der Süden noch immer Aussicht hatte, im Zuge künftiger Grenzkorrekturen irgendwann im Sinne von "Deutschösterreich" zum österrreichischen Staat (zurück) zu kommen, während das für den Norden, alleine schon aus verkehrstechnischen Gründen unrealistisch war.

Ich denke, der Süden wird weitgehend auf Österreich orientiert geblieben sein, während sich der Norden nach Deutschland orientieren musste, wenn er von Prag weg oder Sonderrechte wollte.

Und damit wäre eine Selbstbetrachtung als "Sudetendeutsche" im Norden und Westen Böhmens und Mährens , bzw. deren Herausbildung ein logischer Schritt gewesen.

Das erscheint mir wahrscheinlicher als eine reine Nazi-Kreation.

Den Nazis dürfte die Ausdehnung dieses Begriffs auf den Süden zuzuschreiben sein, denn dort wird man sich nicht als "Sudetendeutsche" identifiziert haben. Welchen Sinn hätte das angesichts der Entfernung zu nämlichem Gebirgszug machen sollen?
Und warum hätte man im Süden, so lange Österreich noch existierte, sich an Deutschland orientieren sollen? Ein Anschluss an Deutschland wäre ja schon aus verkehrstechnischen Gründen für den Süden kaum in Frage gekommen, so lange Österreich eigenständig war.
 
Zuletzt bearbeitet:
Und warum hätte man im Süden, so lange Österreich noch existierte, sich an Deutschland orientieren sollen? Ein Anschluss an Deutschland wäre ja schon aus verkehrstechnischen Gründen für den Süden kaum in Frage gekommen, so lange Österreich eigenständig war.
Das kann ich bestätigen. In meiner Kindheit kannte ich etliche alte "Sudetendeutsche", die nach der Vertreibung in Bayern gelandet waren. Die einen kamen aus Südmähren und sprachen viel über Österreich und vom Kaiser Franz-Joseph. Ich glaube, sie fühlten sich als Österreicher. Dann hatten wir eine Nachbarin, die aus Rumburg stammte, die sprach eigentlich nie über Österreich, obwohl Rumburg früher ja auch in Österreich-Ungarn war.
 
Offenbar sahen die Deutschen in den Sudetenländern Böhmen, Mähren, österreichisch Schlesien vor der Gründung der Tschechoslowakei ihre Identität auch in regionalen Gruppen wie Egerländer, Böhmerwäldler, Riesengebirgler, Erzgebirgler etc. Davon ableitend könnten sich die Deutschen im Sudetengebirge, Sudetener oder Sudetengebirgler genannt haben. Ich finde aber keinen Hinweis darauf.
In Über den Einfluss des Čechischen auf die deutsche Umgangssprache in Österreichisch-Schlesien, besonders in Troppau und Umgebung nennt sie Eduard Tomanek 1891 noch "Bewohner der Sudeten" und "Sudetenbewohner", die sich im Dialekt wesentlich von den südlich angrenzenden "Kuhländlern" abgrenzten.
In der Mundartforschung rechnet man diese Sudetenbewohner zusammen mit den Riesengebirglern dem Gebirgsschlesisch zu, was ich aber auch nicht für einen identitätsstiftenden Begriff halte. Ich wüsste gerne, wie sie sich selber nannten.
 
Weil der Süden noch immer Aussicht hatte, im Zuge künftiger Grenzkorrekturen irgendwann im Sinne von "Deutschösterreich" zum österrreichischen Staat (zurück) zu kommen, während das für den Norden, alleine schon aus verkehrstechnischen Gründen unrealistisch war.
Ende 1918 war nach dem Zerfall Österreich-Ungarns durchaus noch geplant, dass alle deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens, auch die im Norden gelegenen („Deutschböhmen“ und „Sudetenland“), Teile der neuen Republik „Deutschösterreich“ werden sollten. (Allerdings war auch vorgesehen, dass Deutschösterreich „Bestandteil der Deutschen Republik“ sein sollte.) Das nahm recht konkrete Formen an: In Deutschböhmen und Sudetenland konstituierten sich Landesregierungen und Landesversammlungen, und sie gaben sich provisorische Landesverfassungen. Auch die Regierung Deutschösterreichs blieb nicht untätig, sondern wurde schon sehr konkret: Im November 1918 wurden für beide Provinzen administrative Einteilungen festgelegt, Finanzlandesdirektionen errichtet, ein Oberlandesgericht (für beide Provinzen) errichtet, etc.
Letztlich war das alles freilich zwecklos und auch recht weltfremd.

Ich denke, der Süden wird weitgehend auf Österreich orientiert geblieben sein
Auch umgekehrt: Angeblich sollen noch in der Zwischenkriegszeit Kinder aus dem äußersten Norden Niederösterreichs das nahegelegene Gymnasium in Znaim (ganz im Süden der nunmehrigen Tschechoslowakei) statt ein weiter entferntes in Niederösterreich besucht haben.
(Ich weiß das allerdings nur vom Hörensagen von alten Leuten und habe meine Zweifel, ob ein derartiger grenzüberschreitender Schulbesuch tatsächlich möglich war. Vielleicht wurde etwas durcheinandergebracht und das bezog sich noch auf die Monarchie oder aber auf die Zeit des Dritten Reiches, als Znaim zu Niederdonau gehörte.)
 
Aber, es zogen durch unsere Stadt die Trecks der Aus-oder Umsiedler. Bei der Lage der Stadt müssen die aus Pommern oder Ostpreußen gewesen sein. Sogar Pferde, Kühe, Schafe usw waren dabei. Sie zogen Richtung Westen und wo die dann sesshaft wurden weiß ich nicht.
Das Schicksal der Vertriebenen in der DDR wäre einen eigenen Thread wert. Sie durften ja nicht über ihre Vertreibung reden. Als ich in den 90er Jahren als Zivildienstleistender in einem Altenheim in Sachsen tätig war, war ich überrascht, wie viele Heimbewohner Vertriebene waren (geschätzt 1/3 auf der Station). Im Alter fängt man ja dann an, über vergessen geglaubte Ereignisse aus der Jugend nachzudenken und zu reden. Auch an die in der Kindheit erlernte Mundart erinnert man sich wieder. Wie gut, wenn es einen jungen ZDL gibt, der Zeit zum Zuhören hat.

Laut diesem Artikel machten die Vertriebenen 24 Prozent der Gesamtbevölkerung der späteren DDR aus: Deutsche Vertriebene im Zweiten Weltkrieg | MDR.DE
 
Ende 1918 war nach dem Zerfall Österreich-Ungarns durchaus noch geplant, dass alle deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens, auch die im Norden gelegenen („Deutschböhmen“ und „Sudetenland“), Teile der neuen Republik „Deutschösterreich“ werden sollten.

Ich meine, dass es auch vor dem 1. Weltkrieg Pläne gab, Österreich-Ungarn in einen föderativen oder sogar konföderativen Staat umzuwandeln. Der 1914 in Sarajewo ermordete Erzherzog Franz-Ferdinand hat m. W. diese Pläne initiiert oder zumindest unterstützt. Irgendwann habe ich eine Karte für diese neue Staatsorganisation gesehen (als Name habe ich Vereinigte Staaten von Österreich o. ä. in Erinnerung). Da sollten die deutschsprachigen Gebiete in Böhmen entweder zu Deutsch-Österreich oder eigenständige Gebietskörperschaften innerhalb dieses Bundesstaates oder Staatenbundes werden. Aber auch vorher im späten 19. Jhdt. gab es sog. "Ausgleiche", durch die einige Kronländer weitgehende Autnomiebefugnisse gewannen. Das führte dann aber auch dazu, dass z. B. viele Ukrainer oder Weißrussen in Galizien mehr oder weniger freiwillig polonisiert wurden, was dann auch entsprechenden Widerstand provoziert hat.

Auch in Prag lebten viele Deutsche.

Nicht nur viele, sondern im 19. Jhdt. gab es sogar eine deutsche Bevölkerungsmehrheit:

Die Volkszählung von 1847 ergab einen Bevölkerungsbestand von 66.046 Deutschen und 36.687 Tschechen. Bis 1861 amtierte ein deutscher Bürgermeister. Von da ab nahm die Zahl der tschechischen Einwohner sprunghaft zu, bedingt durch die Industrialisierung der Prager Vorstädte.​

Geschichte Prags – Wikipedia


Allerdings wurde Deutsch als deutschsprachig verstanden (bzw. umgekehrt). Neben der historisch belegten Zuwanderung von Deutschen über die Jahrhunderte hinweg, dürfte sich auch die deutsche Sprache unter der böhmischen Bevökerung verbreitet haben. Immerhin war Prag eine der wichtigsten Städte des Reiches der Habsburger. Da dürften sich die städtischen Eliten nach Wien orientiert haben. Erst mit dem Erstarken des tschechischen Nationalbewußtsteins wurde diese Entwicklung umgekehrt, aber Prag blieb lange eine zweisprachige Stadt bis 1945. Darüber hinaus gab es auch Juden, für die der Wechsel zum Jiddischen zum Deutschen einfach war.

Vergleichbar in der Hinsicht mit Prag ist Brüssel, eine ursprünglich flämischsprachige Stadt, die im Laufe der Zeit zu einer mehrheitlich französischsprachigen Stadt wurde und heute eine zweisprachige Stadt ist. Brüssel ist heute eine frankophone Enklave in einer flämischsprachigen Umgebung. Dieser Sprachwechsel düfte weniger Immigration von Franzosen oder französischsprachigen Immigranten sein als eine Assimilation der flämischsprachigen Bevölkerung.
 
Was ist eigentlich das Protektorat Böhmen und Mähren genau? Laut Internet:
Nationalsozialistische Bezeichnung für eine autonome Verwaltungseinheit des Großdeutschen Reiches über das tschechische Restgebiet der Tschechoslowakei („Rest-Tschechei") 1939–1945).

Das heißt doch, daß es die Tschechoslowakei ab 1939 nicht mehr gegeben hat.
 
Was ist eigentlich das Protektorat Böhmen und Mähren genau? Laut Internet:
Nationalsozialistische Bezeichnung für eine autonome Verwaltungseinheit des Großdeutschen Reiches über das tschechische Restgebiet der Tschechoslowakei („Rest-Tschechei") 1939–1945).

Das heißt doch, daß es die Tschechoslowakei ab 1939 nicht mehr gegeben hat.

Gab es ja nach dem Frühjahr 1939 auch nicht mehr als eigenständigen Staat:
Zerschlagung der Tschechoslowakei – Wikipedia
 
Ich meine, dass es auch vor dem 1. Weltkrieg Pläne gab, Österreich-Ungarn in einen föderativen oder sogar konföderativen Staat umzuwandeln. Der 1914 in Sarajewo ermordete Erzherzog Franz-Ferdinand hat m. W. diese Pläne initiiert oder zumindest unterstützt. Irgendwann habe ich eine Karte für diese neue Staatsorganisation gesehen (als Name habe ich Vereinigte Staaten von Österreich o. ä. in Erinnerung). Da sollten die deutschsprachigen Gebiete in Böhmen entweder zu Deutsch-Österreich oder eigenständige Gebietskörperschaften innerhalb dieses Bundesstaates oder Staatenbundes werden.
Das war das hier: Aurel Popovici – Wikipedia
Vereinigte Staaten von Groß-Österreich – Wikipedia
Ein reichlich unrealistischer Plan ohne ernsthafte Aussichten auf eine realpolitische Umsetzung, vor allem da er eine Zerschlagung Ungarns erfordert hätte. Aber auch die Tschechen hätten eine Zerschlagung Böhmens und Mährens vermutlich nicht gerade gut gefunden, und den Polen hätte die Zerschlagung Galiziens und Lodomeriens (bei dem es sich gewissermaßen um einen von den polnischen Teilungen übriggebliebenen Teil Polens mit innerer Autonomie handelte), in dem sie den Ton angaben, wohl auch nicht geschmeckt.
 
Ein unrealistischer Plan, wahrscheinlich. Vielleicht aber auch eine Idee von jemandem, der die Völkervertreibungen kommen sah und sich mit dieser Aussicht nicht abfinden wollte?
 
Ein unrealistischer Plan, wahrscheinlich. Vielleicht aber auch eine Idee von jemandem, der die Völkervertreibungen kommen sah und sich mit dieser Aussicht nicht abfinden wollte?

Nein, mit etwaigen Vertreibungen hatte das nichts zu tun, es war zunächst einfach nur der Versuch ein Nachfolgemodell für den mittlerweile in Teilen als unzeitgemäß empfundenen Ausgleich von 1866/1867 zu finden und vor allem auch die Slawen stärker an die Monarchie zu binden.

Wie aber @Ravenik schon schreibt, dass wäre allein schon an den Ungarn gescheitert.
Die hatten dem Ausgleich von 1867 ja nur deswegen zugestimmt, weil sie anschließend in der transleithanischen Reichshälfte das Sagen hatten und mit relativ wenig Einflussmöglichkeiten Wiens dort relativ frei schalten und walten konnten.
Hätte man ernsthaft versucht daran zu rütteln hätte man sich vielleicht mit den Slowaken, Kroaten und Rumänen innerhalb der ungarischen Reichshälfte gutgestellt, dafür aber den Ungarn Anlass zu separatistischen Tendenzen gegeben.

Ob der Vorschlag vollständig unrealistisch war, weiß ich nicht, ich würde meinen, er kam jedenfalls zu früh, weil die inneren Probleme der K.u.K.-Monarchie noch bei weitem nicht so groß waren, dass allgemein die Notwendigkeit gesehen worden wäre das gesamte Konstrukt auf eine wie auch immer geartete neue Grundlage zu stellen.

Wäre es nicht zum Weltkrieg gekommen, wer weiß, vielleicht hätten solche Ideen einige Jahrzehnte später eine Chance gehabt.
 
Die Frage ist doch: Wieso sollten sich die Ethnien mit autonomen Teilstaaten zufriedengeben? Dass das auf die Dauer nicht gut funktioniert, sieht man an historischen Beispielen: Jugoslawien wurde nach dem 2. WK einigermaßen entlang ethnischer Grenzen (ausgenommen insbesondere Bosnien und Herzegowina) föderalisiert, aber sobald es auch einigermaßen demokratisiert wurde, machten sich die Teilstaaten ganz aus dem Staub. Ähnlich die Tschechoslowakei. Auch die Sowjetunion hatte nicht dauerhaft Bestand. In Teilen Spaniens, Großbritanniens und Indiens knirscht es ebenfalls ganz ordentlich.
Föderalisierte Vielvölkerstaaten funktionieren einigermaßen, wenn sie autoritär regiert werden (was dann freilich die regionalen Autonomien entwertet) wie China, aber sobald die autonomen Teilstaaten tatsächlich ihre Regionalparlamente und -regierungen selbst wählen dürfen, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass über kurz oder lang Politiker und Parteien an die Macht kommen, die sich lieber ganz aus dem Staatsverband verabschieden möchten. Dann kann die Zentralregierung versuchen, sie gewaltsam zu hindern (wie in Jugoslawien und Indien; weniger drastisch in Spanien), oder sich friedlich mit ihnen einigen und eine Abspaltung akzeptieren (wie in der Tschechoslowakei; ähnlich in Großbritannien und Kanada, wo den abspaltungswilligen Teilstaaten Unabhängigkeitsreferenden zugestanden wurden).
 
Ich erinnere mich vor sehr langer Zeit mal Kreisky in einem Interview gehört zu haben, der meinte, Österreich-Ungarn hätte aus ökonomischen Gründen eine Zukunft haben müssen. Hätte es sich zu einem EU-ähnlichen Gebilde entwickeln können? Vielleicht hat die ja auch keine Zukunft, das wäre für uns alle aber ziemlich schlecht.
 
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