Das ist ein interessantes Thema, mir ist dabei nur nicht ganz klar, welche Emotionen genau bei diesem Werk untersucht werden, nur die affektiven Emotionen? Denn Emotionen sind ja vielseitig, und ich denke die Philosophie alleine kann die Antworten auf diese Fragen nicht bieten.

Schön, daß du dich interessierst; aber bitte: verwirre nicht die Verwirrte!

  1. Ich strengte diesen Thread mit einer konkreten Frage an, bevorzuge aber gelegentlich die Fragestellung im Kontext eines allgemeinen Themas, hier also der "Philosophie der Emotionen". Mir ist vollkommen klar, daß andere, sich z. T. naturwissenschaftlich verstehende Disziplinen, ebenfalls viel populärer das Thema der Emotionen okkupieren und daher rührt auch mein Interesse: Obzwar ich es nur andeutete, ist es zum Teil bedingt durch "Die Suche nach Spinoza" in der Emotionspsychologie Antonio Damasios; mehr noch war ich aber geneigt, mich der Emotionsphilosophie zuzuwenden, als ich bei Nico Frijda (1986, S.178) las, daß er seine kognitive Theorie emotionalen Erfahrung nicht nur den Zugängen Magda Arnolds und Richard Lazarus' beigesellt, sondern daß diese Richtung bereits von Klassikern, namentlich Descartes und Spinoza, eingeschlagen wurde.* Die Nennung beider Philosophen in einem Satz triggerte mein Interesse, da Damasio - als mittlerweile meist zitierter Emotionsforscher - sich bekanntlich in den 1990er Jahren gegen einen Cartesianismus ausspricht und eine knappe Dekade später gewissermaßen dem Spinozismus zuneigt. Wie dem auch, ich habe mein Versprechen noch nicht vergessen, hierauf genauer einzugehen.
*The Emotions. Cambridge: University Press
  1. Erst kürzlich wurde ich darüber überrascht zu erfahren, daß es sich mit dem französischen Wort "emotion" anscheinend ähnlich verhält wie mit dem deutschen Wort "Gefühl"; so heißt es etwa im historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe zum Stichwort "Gefühl", daß es sich bei diesem Begriff um eine "relativ junge Bildung" handele, erst am Ende des 17. Jhs. auftauche und zunächst zur Bezeichnung einer spezifischen Sinnesleistung, nämlich des Tastens, diente, um bis zur Mitte des 18. Jhs. dann auch die übertragene Bedeutung von "innerer Empfindung" zu erhalten (Brigitte Scheer, 2001, S.629 f). Eva-Maria Engelen (2007) gibt entsprechend an, daß der Gefühlsbegriff erst im 18. Jh. als Übersetzung des französischen respektive englischen 'sentiment' ins deutsche gelange und "damit neben die bereits länger verwendeten Begriffe der Emotion und des Affektes [tritt]." (S.7)**
* ÄGB, Bd. 2 - herausgegeben von Karlheinz Barck (Stuttgart/ Weimar: Metzler & Poeschel, 2001)
** Gefühle (Grundwissen Philosophie. Stuttgar: Reclam)



Ich bin noch weit entfernt von der Begriffsentwirrung; über eines bin ich mir aber sicher: Ich wüßte warum die Philosphie weniger Erkenntnisse über Emotionen offenlegen können sollte, als irgend eine andere Disziplin, und sei sie auch noch so postmodern wie die Neurowissenschaft, deren Charme eher in ihrer beeindruckenden Technik zu liegen scheint, deren traurigen Schattenseite der Tierversuch.
Ich erlaube mir die präzisierende Frage: was meinst du also mit "affektiven Emotionen"? Freilich denke ich mir auch etwas dabei, etwa daß du dabei möglicherweise an die sog. primären oder grundlegenden Emotionen wie etwa Angst. Hier ließe sich vorzugsweise Joseph Le Doux erwähnen, der wegen seines beeindruckenden Befundes zweier mehr oder weniger getrennter Verarbeitungswege im Gehirn (eine eher kortikale und eine eher subkortikale Route); ein paar Sachen mehr stehen denn auch noch in seinem lesenwerten Buch „Das emotionale Gehirn“, neben seiner Streßtheorie etwa bekannte gedächtnispsychologische Erkenntnisse. Aber es kreist bei Le Doux letztendlich alles um die Angst – und ich frage mich, ob die existentiellen Fragen nicht doch besser bei Kierkegaard nachzulesen sind. - Sorry, ist ziemlich polemisch geworden!

Im übrigen hat niemand behauptet, die Philosophie alleine könne die Antworten geben!

Und was meinst du eigentlich mit „diesem Werk“?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich bin grad etwas verwirrt...

@ingreedy: sind denn Emotionen nicht immer affektiv? Zudem schreibt muspilli ja auch welche "passions principales" Descartes identifiziert (ich nehme an, du beziehst dich auf den "Traité des passions de l'âme"), nämlich amour, tristesse, désir, joie, haine und admiration.

@Muspilli: Kann es sein, dass du dich bzgl. der Emotionstheorien gerade sehr auf die kognitiven Bewertungstheorien konzentrierst? Machst du das bewusst oder ist das eher Zufall?
Eine Verständisfrage zu den Begrifflichkeiten: "Gefühl" und "Emotion" werden zumindest in der Psychologie voneinander abgegrenzt und eben nicht synonym verwendet (in deinem letzten Beitrag könnte man das unter dem zweiten 1. so rauslesen). "Emotion" bezeichnet dabei den gesamten Prozess, "Gefühl" lediglich die subjektive intrinsische Wahrnehmung des Empfindens.
 
sind denn Emotionen nicht immer affektiv? Zudem schreibt muspilli ja auch welche "passions principales" Descartes identifiziert (ich nehme an, du beziehst dich auf den "Traité des passions de l'âme"), nämlich amour, tristesse, désir, joie, haine und admiration.

Zunächst einmal: Es gibt leider ein merkwürdiges Problem bei Emotionstheorien, dass nämlich wenig definitorische Kohärenz in der Literatur besteht. Am ehesten ist die Unterscheidung zwischen primären oder Basis-Emotionen sowie sekundären oder sozialen Emotionen anerkannt. Angst, Freude, Ärger z. B. werden ersterer Kategorie zugeordnet, Schuld, Scham und Stolz z. B. letzterer Kategorie. Wenn man in die detallierte Diskussion verschiedener theoretischer Ansätze einsteigt, gibt es zahlreiche Unsicherheiten: Da Scham z. B ein durchaus universelles Gefühl ist, könnte man es auch als Basisemotion ansehen - ich meine das tut z. B.der Forscher Paul Ekman. Oder der "Ekel": viele Autoren nennen ihn etwa im Anschluss an Caroll Izard als Basisemotion, aber ich habe meine Zweifel; innerhalb des Ansatzes von Izardhatte ich selbst z. B. überlegt, ob er nicht als Affekt zu betrachten ist (Affekte sind in Izards Ansatz instinktnäher wie Hunger oder Sex -wenn ich das richtig erinnere); damit hätte ich auch gleichzeitig ein Beispiel, dass ein Theoretiker nämlich auch zwischen Emotionen und Affekten unterscheidet.
Wegen solcher Terminologichen Schwierigkeiten hatte ich mich im Falle von Descartes Passonslehre auch noch zurück gehalten und insofern ist die Frage von Ingreedy durchaus berechtigt, vorausgesetzt, dass mit "diesem Werk" etwa Descartes Traktat gemeint ist. In seiner mechanischen Theorie behandelt Descartes etwa - ähnlich wie heutiger Emotionsforscher die Angst - den Schreckaffekt als Paradgma; darauf nimmt er aber, wenn ich das richtig verstanden hatte, aber in seiner Analyse der Passionen so keinen Bezug: Seine neurophysiologische Theorie steht also anscheinend eher neben seiner introspektiven Analyse der Emotionen; aber ich wollte das schon selbst noch genauer prüfen... Ich mu übrigens auch zugeben, da ich zu Descartes eigentlich noch eine Fortsetzung geplant hatte, mit der ich aber zunächst noch nicht voran kam.

@Muspilli: Kann es sein, dass du dich bzgl. der Emotionstheorien gerade sehr auf die kognitiven Bewertungstheorien konzentrierst? Machst du das bewusst oder ist das eher Zufall?

Als ich andeutete, dass Descartes Theorie aus heutiger durchaus ein kognitives Element enthält, würde ich aufgrund meiner Wiedergabe seiner "Gedächtnisheorie" durchaus sagen, aber der Gedanke wurde natürlichdurch durch die Literatur (z. B. Lyons, Solomon) vorgeprägt.

]Eine Verständisfrage zu den Begrifflichkeiten: "Gefühl" und "Emotion" werden zumindest in der Psychologie voneinander abgegrenzt und eben nicht synonym verwendet (in deinem letzten Beitrag könnte man das unter dem zweiten 1. so rauslesen). "Emotion" bezeichnet dabei den gesamten Prozess, "Gefühl" lediglich die subjektive intrinsische Wahrnehmung des Empfindens.

Ich würde mich dem wohl zur Zeit so anschliessen.
 
Da ich mal wieder überhaupt gar nicht vorankommen, außer daß ich mir ständig zum Thema (allerdings eher Emotionsphilosophie der Gegenwart, aber auch zu ihrer Geschichte) und kreuz und quer lese, will ich mich einmal konzentrieren, indem ich einmal meinem Ärger über die zahlreiche Literatur Ausdruck verleihe.

Ich schloß mich in meinem letzten Beitrag vor mehr als einem Monat vage der Definition an, "Emotion" als Gesamtprozess an, sowie das Wort "Gefühl" für den introspektiven oder Erlebensaspekt zu reservieren. Aber ich kriege es einfach nicht auf die Reihe, mich auf die einschlägige Literatur einzulassen. Anthony Kennys Standardwerk "Action, Emotion and Will" (1963) gibt es - vielleicht auch sinnvoller Weise nur auf englisch; Solomons "The Passions" gibt es in deutscher Übersetzung seit über zehn Jahren, aber mal wird "passion" mit Gefühl übersetzt, mal "emotion" mit dem demselben deutschen Wort; was soll ich davon halten? Wohl besser ignorieren und mich am englische Original orientieren, aus dem sowieso nicht alle Kapitel übersetzt wurden.
Bei De Sousa, "Die Rationalität des Gefühls" ("Rationality of Emotion"), weiß ich noch nicht einmal, ob das ein Problem ist, da er viele verschiendene Argumentationsstränge hat, daß ich mir erst noch eine Übersicht verschaffen muß - von diesem Autoren gibt es übrigens online einen kurzen Artikel, der für den Einstieg sehr lesenswert ist: http://plato.stanford.edu/entries/emotion/ allerdings kann ich eine Bemerkung nicht vorenthalten.
Kürzlich las ich den sehr empfehlenswerten Artikel von Hilge Landweer & einer in diesem Thread schon bekannt gewordenen C. Newmark zur "Rhetorik von Emotionsdebatten" (2009)*. Nach einer Einleitung über Konjunkturen des Themas Emotionen, folgt ein Durchgang durch die Emotionstheorie der Stoa, einem kurzen Abriß der Emotionen in der Scholastik und der Emotionsphilosophie im 17. Jahrhundert gelangen die AutorInnen auch ins 20. Jh. und gehen auch auf die Debatte der vergangenen zwei Dekaden ein. Hier interessiert mich gerade nicht ihr Hinweis auf die in Frage gestellte Dichotomisierung von Vernunft versus Gefühl, sondern vielmehr die vornehmlich von philosophischer Seite "unterstellte Polarisierung von eher 'kognitivistischen' und sogenannten 'Feeling'-Theorien. Mit letzteren sind zumeist solche Theorien gemeint, welche die Art und Weise, wie Gefühle erlebt werden [...], in den Mittelpunkt stellen oder aber darin das eigentlich Gefühlsspezifische oder gar das Differenzmerkmal zwischen verschiedenen Emotionen sehen [...]” (Landweer & Newmark, 2009, S.95 f) Der Begriff der “Feeling-Theorie” erscheint tatsächlich in der Literatur: Ich würde gar vermuten, daß ihn William Lyons in seinem Buch über die Emotionen (1980) prägte. Tatsächlich faßt dieser Autor alle möglichen Theorien, die keine kognitionspsychologische Stoßrichtung aufweisen, als eine solche aus und wirft nicht nur Descartes, Hume und Spinoza in einen Topf, sondern gleich William James, Freud und die Behavioristen mit rein. Sehr merkwürdig! Während Ronald de Sousa in seinem Buch aus dem Jahre 1987 zu seinem Abschnitt über die “Empfindungstheorie” (so die dt. Übersetzung) keinen Namen nennt, und den “pragmatischen” Ansatz von William James gesondert unter physiologischen Theorien abhandelt, scheint er in seiner verlinkten Kurzfassungder dezidierten Auffassung, daß sowohl James als sein moderner Adept, Antonio Damasio, eine solche Theorie vertreten. Wo ich den Rückbezug auf Landweers/ Newmarks Kritik machen will, stelle ich fest, daß sie eigentlöich gar keine Argumente für ihre Gegenthese bringen, daß James gar keine Feelingtheorie vertrat (sie verweisen auf Jan Slabys Beitrag über James Emotionstheorie in Landweer/ Renz (vgl. die Rezension: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13568&ausgabe=201001).
Naja, immerhin bin ich dann doch wieder auf Damasio hingewiesen worden. Aber genauso wie wohl bei James der “auslösende Anlaß einer emotionalen Reaktion […] immer schon ein spezifischer Wertsachverhalt [ist]” (Voß, 2009, S.117, Anm.16),** kann und will auch Damasio in seiner nerowissenschaftlichen Emotionstheorie auf ein Objektbewertungskonzept nicht verzichten.

O. k. ich wollte wohl einfach einmal wieder nur einen Beitrag in einem mir an Herzen liegenden Thread schreiben ...

* Landweer/ Newmark, "Seelenruhe oder Langeweile, Tiefe der Gefühle oder bedrohliche Exzesse? Zur Rhetorik von Emotionsdebatten" in Harbsmeier/ Möckel, Pathos, Affekt, Gefühl. Transformationen der Antike. Ffm: Suhrkamp, 2009, S.79-106
** Christiane Voss, "Die narrative Transformation aristotelischer und moderner Emotionstheorien" in Harbsmeier/ Möckel, a. a. O., S.107-130​
 
... Begriff der “Feeling-Theorie”...
Bücher zu diesem Begriff scheinen wie die Pilze aus der Erde zu schießen, wie ein kurzer Blick in die Kataloge zeigt. Hoffentlich bringt das Deine Zeitökonomie nicht in Unordnung, denn man kann dem ja unmöglich bis in die Verästelungen folgen.

...William James, Freud...
Von James aus kommt man zu einer relativ unbekannten Figur: Carl Georg Lange. Weiland Professor der pathologischen Anatomie [sic] in Kopenhagen, publizierte er 1885 ein schmales Werk, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien [1], worin er sich über die Beziehungen zwischen den psychologischen Affekten und ihren körperlichen Manifestationen äußert. Ich habe es nicht gelesen, finde aber interessant, dass später Lange und James in einem Werk zusammenkommen, was auf eine gewisse Affinität hindeutet. [2]

Was hat Freud denn zum Thema beizutragen?

...in seiner nerowissenschaftlichen Emotionstheorie...
Ich war bisher nur zu 98 % sicher, dass Deine Arbeit etwas mit Historik zu tun hat - jetzt bin ich restlos überzeugt!!:anbetung:

[1] Über Gemüthsbewegungen. Leipzig 1887. Ueber Gemüthsbewegungen: Eine Psycho-physiologische Studie
[2] The Emotions. Baltimore 1922. The Emotions
 
Mein letzter Beitrag war etwas merkwürdig: ich leitete ihn unter anderem damit ein, indem ich vermeinte meinem Ärger über die Literatur Ausdruck verleihen zu wollen.
Ich schloß mich in meinem letzten Beitrag vor mehr als einem Monat vage der Definition an, "Emotion" als Gesamtprozess an, sowie das Wort "Gefühl" für den introspektiven oder Erlebensaspekt zu reservieren. Aber ich kriege es einfach nicht auf die Reihe, mich auf die einschlägige Literatur einzulassen. [...] Solomons "The Passions" gibt es in deutscher Übersetzung seit über zehn Jahren, aber mal wird "passion" mit Gefühl übersetzt, mal "emotion" mit dem demselben deutschen Wort; was soll ich davon halten? Wohl besser ignorieren und mich am englische Original orientieren, aus dem sowieso nicht alle Kapitel übersetzt wurden.

Tatsächlich quäle ich ich mich jetzt durch Solomons Passionsbuch in der deutschen Ausgabe von 1998. Ich war schon kürzlich drauf und dran bei Amazon eine Rezension zu schreiben, um auf die schlechte Übersetzung aufmerksam zu - das mache ich vielleicht auch noch; allerdings muß ich mir noch darüber klarer werden, ob es -unabhängig von sonstigen Übersetzungsfehlern - nun wirklich ein Problem ist, daß in der Regel "emotion" mit "Gefühl" und "Feeling" mit "Empfindung" übersetzt wird. Die Alternative wäre, emotion=Emotion - feeling=Gefühl - das ist wahrscheinlich auch nicht unproblematisch. Wie dem auch sei, ich glaube mein Ärger entstammt ja eher noch meiner Auseinandersetzung mit den Büchern von Damasio, dessen erstes ja der erst genannten Übersetzungslinie folgt, während derselbe Übersetzer in den folgenden Büchern die Alternative wählte (das erste Buchs Damasios wurde meines Wissens auch nie dahingehend korrigiert). Vielleicht liegt meinem akuten Ärger aber auch ein tiefergehendes Ressentiment zugrunde - darüber muß ich nachdenken...
Kürzlich las ich den sehr empfehlenswerten Artikel von Hilge Landweer & einer in diesem Thread schon bekannt gewordenen C. Newmark zur "Rhetorik von Emotionsdebatten" (2009)*. [...] Hier interessiert mich gerade nicht ihr Hinweis auf die in Frage gestellte Dichotomisierung von Vernunft versus Gefühl, sondern vielmehr die vornehmlich von philosophischer Seite "unterstellte Polarisierung von eher 'kognitivistischen' und sogenannten 'Feeling'-Theorien. Mit letzteren sind zumeist solche Theorien gemeint, welche die Art und Weise, wie Gefühle erlebt werden [...], in den Mittelpunkt stellen oder aber darin das eigentlich Gefühlsspezifische oder gar das Differenzmerkmal zwischen verschiedenen Emotionen sehen [...]” (Landweer & Newmark, 2009, S.95 f) Der Begriff der “Feeling-Theorie” erscheint tatsächlich in der Literatur: Ich würde gar vermuten, daß ihn William Lyons in seinem Buch über die Emotionen (1980) prägte. [...] Wo ich den Rückbezug auf Landweers/ Newmarks Kritik machen will, stelle ich fest, daß sie eigentlich gar keine Argumente für ihre Gegenthese bringen, daß James gar keine Feelingtheorie vertrat (sie verweisen auf Jan Slabys Beitrag über James Emotionstheorie in Landweer/ Renz [...]


Ich muß meine Vermutung revidieren. Gestern Abend las ich nämlich bei Solomon in dem Abschnitt über "Gefühle [emotions] und Verhalten" den Satz: "Diese Einsicht des Behaviorismus blieb in den herkömmlichen Auffassungen der Emotionen als Empfindungen fast gänzlich unberücksichtigt." (Solomon, Gefühle und der Sinn des Lebens. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2000, S.150) Als ich die Übersetzung überprüfte - allerdings in der noch unrevidierten Fassung (The Passions. The Myth and Nature of Human Emotions. New York: Anchor/ Doubleday, 1977), lese ich doch tatsächlich: "This is the truth of behaviorism that is rarely accounted for in the usual 'feeling theories' of the emotions." (pp.168 f) - Also es ist Solomon, der diesen Begriff prägte. Es ist auch Solomon, dem Lyons in seinem Emotionsbuch folgt, ohne dieses zu vermerken, wenn er Descartes, u. a., die James-Lange-Theorie mit der Psychoanalyse und dem Behaviorismus in einen Topf wirft. Das liegt definitiv auf der Argumentationslinie von Solomon, nur bleibt sie bei Lyons ohne Referenz auf Solomon unverständlich und höchst undifferenziert. Aus dem langen Zitat von James, das Solomon aus dessen einschlägigen Artikel "What is an Emotion" aus dem 19. Jh. vorbringt, sei nur ein Satz zitiert: "Wie die Erfahrung lehrt, gibt es keine wertvollere Erziehungsmethode [valuable precept in moral education]: Wer erwünschte Neigungen [undesirable emotional tendencies] in sich besiegen will, der muß gewissenhaft und absolut kaltblütig [assidiously and in the first instance cold-bloodedly] die äußeren Aspekte [outward motions] der Gegendisposition einüben, die er pflegen will."

Genaugenommen antizipierte James hier den Behaviorismus, der bekanntlich erst im 20. Jh. begründet und mainstream seit Mitte dieses (vergangenen) Jahrhunderts wurde. Solomon hebt hier auf das ab, was auch schon Descartes aufgrund der gleichen Erfahrung vorgeschlagenen hatte und insofern ist James tatsächlich Cartesianer. Ich werde weiter berichten und mich bei Gelegenheit dann auch wieder der weiteren Geschichte der Emotionsphilosophie widmen, weil hier dann auch, was die Beeinflussung der Emotionen betrifft, explizit auch (neo)stoische Elemente auftauchen.
 
Spezielle Frage zum Emotionsbegriff beantwortet T. Dixon

ich frage mich jetzt, wie es zur spezifischen oder z. T. auch nach wie vor noch unspezifischen Verwendung [des Begriffes "Emotion"] in der Psychologie gekommen ist.

Zufällig nebenbei habe ich einen weiteren Hinweis erhalten; während mich der von Raphaim noch nicht weitergebracht hatte:

"Als Fachterminus wurde Emotion (lateinisch motio, movere, motum bewegen, erregen, erschüttern und lateinisch emovere hinaus, wegschaffen, entfernen, erschüttern) von Eugen Bleuler (1857 - 1939) geprägt."(TU-Berlin)

Sorry und zugleich merkwürdig: Jetzt funktionierte zwar dein Link:

Aber steht tatsächlich nichts weiter dabei. Nun mit meinem jetzigen Hinweis, steht es vielleicht sogar etwas besser:

Solomon schreibt in einem für ein Buch überarbeiteten Artikel*, daß im frühen 19. Jh. ein gewisser Thomas Brown den Begriff "emotion", den er sich bei Descartes & Hume geliehen hätte, einführte, um die breite Klasse von Gefühlsphänomenen zu charakterisieren, für die wir heutzutage diese Bezeichnung benutzen, wobei er wegen der traditionellen (theorelogischen) Altlasten aus religiösen Debatten die Begriffe "passion" und "affect" zurück wies. Solomon gibt dann auch einen Literaturhinweis, der seinerzeit aber noch nicht publiziert war; aber immerhin, weiß ich jetzt, daß meine spezielle Frage schon einmal jemanden beschäftigt habe, nämlich Thomas Dixon (The "Emotions": A Conceptual History).
Um so mehr bin ich ganz spontan positiv überrascht, daß ich beim Googeln doch tatsächlich eine Publikation dieses Wissenschaftlers zu Thema aus dem Jahre 2003 finde:
From passions to emotions: the ... - Google Bücher


*Solomon, "Back to Basics: On the Very Idea of 'Basic Emotions' (1993 rev. 2001)" in Not Passion's Slave. Oxford: University Press, 2003, pg.127
_____________

Das mußte ich jetzt zwischenschieben, bevor ich auf Anregung jschmidts' über William James etwas poste, woran ich schon über eine Woche sitze...
 
Und bevor ich heute Abend hoffentlich noch den Beitrag über James poste, schon einmal diese Entgegnung:

Bücher zu diesem Begriff scheinen wie die Pilze aus der Erde zu schießen, wie ein kurzer Blick in die Kataloge zeigt. Hoffentlich bringt das Deine Zeitökonomie nicht in Unordnung, denn man kann dem ja unmöglich bis in die Verästelungen folgen.

Wie es bei Philosophie eben so ist (na eigentlich bei vielen Themen): ich muß mich gründlich in den Duktus der Diskurse einarbeiten, wesentlich Aussage verstehen und nach Standpunkten filtern, um mich dann irgendwann wieder emitionstheoretischen Ausgangsfragen zu widmen. Mehr oder weniger habe ich mir die einschlägige Literatur besorgt. Beginnend mit http://www.perlentaucher.de/buch/33088.html und einer Vielzahl der dort ausschnittweise publizierten Arbeiten (mindestens Griffith etwa fehlt mir noch - zumindest in einer Buchform). Ich werde jetzt anhand der Einleitung und Einführungen bei Sabine Döring nach und nach mein Verständnis erweitern...
Das bezieht sich jetzt allerdings auf die zeitgenössische Emotionsphilosophie. Wie meinst du das aber mit den Katalogen und dem Begriff der Feeling-Theorie - ich wüßte nicht, daß das schon als Schlagwort in Bibliothekskatalogen aufgenommen wurde. Und zumindest bei Google-Books zähle ich (allerdings nur Seite 1) für acht Jahre 5 Publikationen über 4 Jahre und einen Zeitschriftenartikel – letzterer aber auch sehr alt (siehe unten), worin der Begriff erwähnt wird, also darauf halbwegs eingegangen wird, was mit diesem Begriff gemeint ist. Die von dir angesprochenen "Pilze" sehe ich nicht.
Der Zeitschriftenartikel ist sogar einer aus dem angehenden 20. Jh. - danke daher für die indirekte Idee den Begriff bei Google-Bücher einzugeben, denn tatsächlich irrte ich also: mitnichten war es Solomon – wie ich gerade erst anstelle Lyons vermutet hatte:
http://books.google.de/books?id=tP4eAQAAIAAJ&q=Feeling-theorie&dq=Feeling-theorie&hl=de&ei=eplxTPqVC4qSswbni6m5Bg&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=3&ved=0CDkQ6AEwAg – der Literaturangabe folgend habe ich zwar das Magazin von 1906 online gefunden (http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit31957?), aber die entsprechende Seitenzahl scheint nicht zu stimmen: ich habe wenigstens die Rezension von Jodl durchgesehen, aber leider die Referenzstelle nicht gefunden. Trotzdem ist es schon alleine interessant zu sehen, wie selbstverständlich es damals war, daß eine psychologische Abhandlung, und sei es nur eine Rezension zentral auch den Beitrag eines Forschers und dessen Überlegungen zu den Emotionen (Gefühlen) referiert (vgl. dort etwa die Rezension von Wundts psychophysiologischen Lehrbuch von Ziehen) und die Zeitschrift für Psy u. Physiologie der Sinnesorgane ist somit eine Fundgrube für den Emotionsdiskurs der Jahrtausendwende.
 
...Begriff der Feeling-Theorie - ich wüßte nicht, daß das schon als Schlagwort in Bibliothekskatalogen aufgenommen wurde.
Ich könnte mich bei der hiesigen UB vergewissern, weil die das DFG-SSG für Psychologie betreut. :hmpf:

Und zumindest bei Google-Books zähle ich (allerdings nur Seite 1) für acht Jahre 5 Publikationen über 4 Jahre und einen Zeitschriftenartikel...
Das könnte auch daran liegen, dass Du tiefer im Thema drin bist und ein Menge Zeugs, das mir als Laie ins Auge fällt, schon als irrelevant aussortiert hast. [1]

Ich habe mich beeindrucken lassen von Fachkatalogen/Zusammenstellungen wie z.B. Mind Papers [2] oder PhilPapers [3]

Eben stoße ich noch auf das voluminöse Handbook of Emotions [4]: Gehen die ersten beiden Beiträge von Salomon und Stearns in Deine Forschungsrichtung?

[1] Wenn ich "feeling theory" bei Google eingebe, kriege ich 3660 Angebote, ohne Wiederholungen 570.
[2] MindPapers: 5.1f.2.4. Emotions and Feelings
[3] Emotions and Feelings - Bibliography | PhilPapers
[4] Handbook of emotions - Google Bücher
 
Über William James (I)

Von James aus kommt man zu einer relativ unbekannten Figur: Carl Georg Lange. Weiland Professor der pathologischen Anatomie [sic] in Kopenhagen, publizierte er 1885 ein schmales Werk, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien [1], worin er sich über die Beziehungen zwischen den psychologischen Affekten und ihren körperlichen Manifestationen äußert. Ich habe es nicht gelesen, finde aber interessant, dass später Lange und James in einem Werk zusammenkommen, was auf eine gewisse Affinität hindeutet. [2]
[…]
[1] Über Gemüthsbewegungen. Leipzig 1887. Ueber Gemüthsbewegungen: Eine Psycho-physiologische Studie
[2] The Emotions. Baltimore 1922. The Emotions



Wie ich es einmal gelesen hatte, vertrat der Däne einen etwas eingeschränkteren Physiologismus als James: So schreibt Schandry in seinem Lehrbuch (2006, Kp. 23):
Die Emotionstheorie von Lange „bezieht sich ausschließlich auf Prozesse des kardiovaskulären Systems, während James die Gesamtheit der körperlichen Vorgänge […] meinte“ (S.500); ferner sieht er „die Frage nach den Wahrnehmungen und Empfindungen aus den inneren Organen als peripher […] an“; Lange hätte demnach keine psychologische Emotionstheorie wie James vertreten, sondern sich lediglich „auf den rein physiologischen Aspekte emotionalen Geschehens [beschränkt].“ (ebd.)
Ich habe versucht, Schandrys Behauptung, daß Langes keine psychologishe Theorie vorlegt, anhand deines Linkes zu prüfen, allerdings ist mir die ausschließliche online Lektüre zu anstrengend.

Ich will im folgenden versuchen, James Ansatz zu skizzieren.* Schandry liefert ein sehr prägnantes Zitat aus dessen Artikel „What is an Emotion“ in der Zeitschrift Mind 19 (1884 - http://psychclassics.yorku.ca/James/emotion.htm):*
„An object falls on a sense-organ and is apperceived by the appropriate cortical centre; or else the latter, excited in some other way, gives rise to an idea of the same object. Quick as flash, the reflex currents pass down through their pre-ordained channels, alter the condition of muscle, skin and viscus; and these alterations, apperceived like the original object, in as many specific portions of the cortex, combine with it in conciousness and transform it from an object-simply-apprehended into an object-emotionally felt.“ (James zitiert nach Schandry, 2006, S.500 f)

Ich muß zugeben, für jemanden, dem die Theorie Damasios, derzufolge Emotionen nichts anderes als Körperzustandsveränderung seien, bekannt ist, klingt das wie eine ausgemachte Tatsache, völlig plausibel und man will ferner Damasio (Descartes Irrtum) zustimmen, daß dessen Worte „ihrer Zeit weit voraus waren“. Das Zitat scheint vielmehr sogar auch noch Damasios Konzept der Juxtaposition vorwegzunehmen. Daher ist es nicht ganz unsinnig, einen Blick auf den damaligen Stand der Wissenschaft (Neurologie; Physiologie) zu werfen:

In der Folge von Brocas Lokalisierung eines kortikalen Sprachzentrums Anfang der 1860er Jahre, soll sich zunächst (und zumindest in Frankreich) die Auffassung der linken Gehirnhälfte als „die intelligente, wohlerzogene, eigentlich menschliche Seite“ durchgesetzt haben, während man der rechten die „unzivilisierte, emotionale, dunkle Seite“ zuschrieb – möglicherweise auch unter dem Eindruck des Briten John Hughlings-Jackson, der evolutionär inspiriertes Gehirnmodell mit drei Stufen des Nervensystems entwarf und den Begriff der dominanten Gehirnhälfte entwarf. Nach Damasio (Ich fühle also bin ich) soll er gar die rechte Gehirnhälfte als zuständig für die Emotionen zuständig behauptet haben; aber dafür habe ich bisher keinen Beleg gefunden, zudem er mit Lokalisationsversuchen eher vorsichtig war. Immerhin aber hatte Jackson bereits 1874 die These vertreten, „daß die rechte Hemisphäre […] unmittelbar an Wahrnehmungsprozessen beteiligt und für die visuelle Gestaltung der Beziehung zur Außenwelt verantwortlich ist“ (Lurija, [1973] 1992)
Der Lokalisationsdiskurs griff bald nach Deutschland über, als man mit dem Einsatz bioelektrischer Experimente begonnen hatte, wofür etwa Eduard Hitzig & Gustav Fritsch stehen, und in der Folge wurde neben motorischen Regionen „nun auch nach sensorischen Arealen und möglichen Zonen für höhere geistige Funktionen gesucht.“ (Hagner, 1996, S.57) Hatte der Russe Vladimir Betz etwa „die Gehirnoberfläche in eine vordere motorische Region und eine den Temporallappen einschließende hintere sensorische Region ein[ge]teilt“ (ebd., S.63), so unterschied Munk bereits vor Beginn der letzten Jahrhundertdekade „das optische, das akustische und das somato-sensorische Zentrum im Cortex“ (ebd., S.60)


Wie paßt nun William James in dieses Bild?

Seine Abhandlung über die Emotionen beginnt er damit, daß sich die Erklärungsversuche der Gehirnfunktionen auf die kognitiven und willentlichen (volitional) Fähigkeiten (performances) beschränkt hätte, während die ästhetische Sphäre des Geistes/der Seele (mind) ignoriert worden sei. Bedenkt man, daß die neurophysiologische Forschung an sich noch gar nicht so weit war, klingt das zunächst etwas arrogant, zudem ich Hagner (1996) entnehme, daß ein gewisser Heinrich Lissauer erst nach der Beschreibung der Seelenblindheit durch Hermann Wilbrand Ende der 1890er Jahre den psychologischen Begriff der Apperzeption in den klinischen Diskurs einführte „und darunter die unmittelbare bewußte Wahrnehmung verstand.“ (S.63) James nennt wohl beliebig zwei Forscher (David Ferrier und Herman Munk) namentlich, die entweder überhaupt noch nicht gedacht hätten, Gelüste (longings), Freuden und Schmerzen (pleasures and pains) oder Emotionen zu untersuchen oder Hypothesen darüber für zu schwierig halten würden; nichts desto weniger nennt er verschiedene hypothetische Möglichkeiten:
  1. Emotionen haben separate und spezielle Zentren – diese schließt er aber insofern aus, als daß damit das neurologische Paradigma infrage gestellt werde, demnach der Kortex als Projektionsoberfläche für empfindliche [Körper-]Punkte und Körpermuskeln gilt. Dieses Argument erscheint mir aber trotz der oben erwähnten Tendenz zur Arroganz in der Tat als ziemlich genial. Es ist gewissermaßen der Reflexbogen, der hier für eine neurologische Theorie relevant wird, was James so prägnant erfaßt zu haben schien.
  2. Emotionale Prozesse erscheinen in bereits bekannten oder noch zu identifizierenden motorischen und sensorischen Zentren, wobei aber wiederum zwei Überlegungen möglich sind:
    2.1) es sind besondere sensomotorischen Zentren anzunehmen oder
    2.2) sie ähneln gewöhnlichen Wahrnehmungsprozessen oder sind mit diesen gar identisch –
Genau diese letztere These will James nun plausibel machen: „die emotionalen Gehirnprozesses ähneln nicht nur den gewöhnlichen sensorischen Gehirnprozessen, sondern sind in Wahrheit nichts anderes als solche verschiedenartig kombinierten Prozesse.“ (Übersetzung von mir)
In der Tat vereinfacht dieses Gehirnschema die Konzepte möglicher Komplikationen der Gehirnphysiologie. Allerdings ist das zugegebener Maßen nur eine zusätzlich Überlegung von James; seine zentralen Argumente seiner Emotionstheorie waren introspektiver Natur und er möchte diese auch zunächst nur auf von ihm als Standardemotionen bezeichnete Phänomene verstanden wissen: Überraschung, Neugier, Begeisterung, Angst, Ärger oder Gier. Bei solchen Emotionen werde gemeinhin angenommen, daß eine geistige Wahrnehmung die mentale Affektion selbst herrufe, die man als Emotion bezeichne; und ferner, daß also der (emotionale) Geisteszustand erst den körperlichen Ausdruck verursacht. Wohlgemerkt, James behauptet nicht, daß die damalige Psychologie diese Abfolge grundsätzlich vertritt, während ich bei Traxel tatsächliche eine solche Behauptung lese: „Die neuere Psychologie hatte sich sogar weitgehend die Auffassung zu eigen gemacht, daß die körperlichen Veränderungen die Folgen (→ Ausdruckserscheinungen) des Emotionserlebnisses sind.“ (S.15) Allerdings habe ich für diese (historische) Behauptung noch keinen Beleg gefunden. Eventuell vertrat beispielsweise Wilhelm Wundt eine solche Gegenposition, dann aber eventuell erst nach James Publikation. Wie dem auch sei, setzt James dieser Vorstellung die Idee entgegen, daß die körplichen Veränderungen direkt der WAHRNEHMUNG – genau genommen spricht James von der Wahrnehmung „mancher Tatsachen“ oder „erregender Gegebenheiten – folgen und daß das Gefühl (feeling) dieser Körperveränderungen die Emotion sei; James denkt dabei auch an kleinst mögliche Veränderungen.
Im Laufe seines Artikels kommt er auf Emotionen wie Scham, Scheu, Begehren, Melancholie und Bedauern zu sprechen, bei denen anscheinend anders als bei den angeführten Standardemotionen die körperlichen Veränderungen auf die Ideen folgen, anstatt sie zu verursachen; merkwürdigerweise erwähnt James nur nebenbei, daß dabei ein Fehler in der Argumentation (argument's failure) vorläge, nämlich eine Unterscheidung zwischen der Idee einer Emotion und der Emotion selbst. Obwohl er behauptet, diesen Gedanken nicht weiter ausführen zu wollen, verweist er auf die evolutionär-adaptive „nervöse Tendenz zur Entladung“ einerseits sowie andererseits auf eine „außerordentliche Sensitivität des Bewußtseins“ in bezug auf soziale Stimuli, die selbst als bedeutungsgeladen oder als absichtsvoll wahrgenommen wird, und genau das sei eben die emotion-erregende Wahrnehmung. Insofern antiziert James gar mit einem solchen Argumentation, daß eine Emotion eigentlich das Bewußtsein von körperlichen Reaktionen nicht nur durch eine direkte Wahrnehmung, sondern auch einen Gedanken verursacht werden kann, die moderne kognitive Theorie der Evaluation als Komponente, will diese nur nicht darauf reduziert verstanden wissen, insofern es ihm gleichzeitig um eine Wahrnehmungstheorie der Emotionen als Körperveränderungen geht. Allerdings scheint das ein Diskussionspunkt von James' Intepreten zu sein und ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß James sich mit dem Problem der „emotionalen Gedanken“ wohl noch in einem späteren Artikel eine Dekade später beschäftigt zu haben scheint, was bezeichnenderweise höchst selten, wenn überhaupt, ansonsten gar nicht erwähnt wird.
 
Zuletzt bearbeitet:
James (II)

Wie dem auch sei, muß ich mich nun auch fragen, ob die James'sche Wahrnehmungstheorie der Emotionen nun den Begriff der Feeling-Theorie füllen kann. Wenn ich diese Überlegung akzeptiere, muß ich schauen, welche Alternativen nun die Emotionsphilosophie zu bieten hat.

Döring etwa charakterisiert in ihrer allgemeinen Einleitung zur Emotionsphilosophie aus dem letzten Jahran einer Stelle den James'schen Ansatz – sowie den derjenigen Philosophen, die sich seine Tradition Stellen – durchaus zutreffend, daß die Phänomenologie der Emotionen demnach „das Bewußtsein körperlicher Veränderungen (wie etwa Muskelreaktion, eingeschlossen Änderungen des Gesichtsausdrucks, hormonelle Veränderungen oder Änderungen des vegetativen Nervnesystems)“ sei oder jedenfalls so involviere, „daß emotionale Gefühle wesentlich Körpergefühle sind“ (2009, S.20).
Die moderne Emotionsphilosophie scheint solch einer angeblich „traditionellen nonkognitivistischen Feeling-Theorie“ einen Kognitivismus entgegengesetzt zu haben, demnach die Selbstwahrnehmung kein Kriterium für distinkte Emotionen darstellen könne; die frühen Kognitivisten – namentlich nennt Döring als Kritiker (freilich nicht nur) an James Anthony Kenny & William Lyons - vermeinten vielmehr wesentlich in den Gegenständen der Emotionen, wofür sich in der Emotionsphilosophie der Begriff des „formalen Objektes“ eingebürgert hat, die differenzierenden Merkmale identifzieren zu können; gemeint ist damit in etwa, daß Emotionen weder verhaltensmäßig noch physiologisch eindeutig bestimmt werden können; vielmehr ist eine Differenzierung nur durch kognitive Evaluation möglich – so faßt Strongman (The Psychology of Emotions. 2003/ Fifth edition) diese Überlegung von William Lyons wie folgt zusammen: „In his view, we clearly seek clues to a person's emotional state from behavior or physiological, but to be sure we need to find the person's view or evaluation of the situation.“ (pg.260)

Wie dem auch sei, als Resumée meiner Beschäftigung mit James grundlegendem Artikel bestätigt gewissermaßen den Verdacht von Jan Slaby, „dass die Standardl-Lesart der Komplexität und dem philosophischen Gehalt der James'schen Theorie nicht gerecht wird“ (S.549 f).

Wie verhält es sich konkret mit Solomons Kritik?

Wie bereits in einem Beitrag zitiert, findet sich der Begriff „feeling-theory“ tatsächlich bei ihm; ich markiere mir auch vormals schon eine andere Stelle, wo er von „eine[r] althergebrachte[n] deskriptive[n] Interpretation des Gefühls [emotion] als eine Art Empfindung [feeling] oder 'Affekt' […] (begleitet von pulsierender Erregung, Angst, Anspannung, leichter Atemlosigkeit, Schwäche oder innerer Unruhe)“ spricht.

Der ganze Abschnitt ist mit „Das hydraulische Modell“ überschrieben und ist gewissermaßen ein psychologeschichtlicher Abriß. Nach Robert Solomon vertrat James ein hydraulisches Modell, da er in seinem Artikel über die Emotionen mögliche Fälle erwähnt, bei denen die „explosiven Energie“ gewisser Ledeinschaften [passions] daraus erwachse, daß sie sich aufgestaut hätten und in kritischen Situationen äußerten. Tatsächlich gibt es in James Artikel weitere Stelle, etwa wo er den Leser daran erinnert, „that the nervous system of every living thing is but a bundle of predispositions to react in particular ways upon the contact of particular features of the environment. […] The neural machinery is but a hyphen between determinate arrangements of matter ourtside the body and determinate impulses to inhibition or discharge within its organs.“ (http://psychclassics.yorku.ca/James/emotion.htm ) Dieses hydraulische Modell geht nach Solomon konzeptuell auf die Newtonsche Physik zurück, wie es etwa von Thomas Hobbes als psychologisches Schema adaptiert wurde (S.114); an späterer Stelle zitiert er auch Spinoza (S.122): Unter Affekt verstehe ich die Erregungen unseres Körpers, durch welche die Tätigkeitsvermögen eben dieses Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Erregungen.“

Allerdings hebt Solomons doch vor allem auch gegen Sigmund Freud ab, dessen Theorie doch „erheblich vielschichtiger angelegt [ist] als der schlichte Reduktionismus James'.“ Ob man allerdings solchen Theorien an sich die Verantwortung dafür aufbürden kann, daß der Einfluß des Bewußtseins auf ein mindestmaß reduziert wurde, mehr noch, daß man in der Psychologie bald auf den Bewußtseinsbegriff zu verzichten meinte, halte ich für sehr problematisch.
Alllerdings scheint William James einem philosophisch begründeten Behaviorismus tatsächlich vorgearbeitet zu haben: „In seinem neutralmonistischen Entwurf einer Erfahrungsmetaphysik, die er als 'radikalen Empirismus' bezeichnet, hatte James Seele und Bewußtsein […] zu 'Nichtentitäten' erklärt. Zum Entstehungszeitpunkt seiner radikalempiristischen Schriften kritisiert James rückwirkend seine eigene frühere Annahme der Realität des personalen Bewußtseins, die er noch in seiner Psychologie als methodische Setzung eingeführt hatte.“ (Felicitas Krämer, 2010,, S.272) So scheint das Bewußtsein nicht einmal mehr als Epiphänomen zu erscheinen, was Solomon an James kritisiert hat. Mag die fortlaufende Theoriebildung von James also betroffend kritisierbar zu sein, seine ursprünglichen Emotionstheorie ist es nicht und enthält darüber hinaus viele der Elemente, wie sie auch heute – sowohl in der empirischen Emotionsforschung als auch in der Emotionsphilosophie diskutiert werden.

Im Übrigen gibt Solomon selbst wenigstens heute zu, daß er „die Rolle der Physiologie und des Empfindens im Gefühlsleben“ gewissermaßen unterbewertet hatte.


* (den Link entnehme ich Oliver Walter: http://www.wer-weiss-was.de/theme57/article1630317.html)


Hagner, Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C – Theorie und Forschung Serie 1: Biologische Psychologie, Bd. 1: Grundlagen der Neuropsychologie. Göttingen: Hogrefe, 1996, S.1-101
Damasio, Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List, 1995 [dtv, 1997]
ders., Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins. München: List, 2000
Werner Traxel, Zur Geschichte der Emotionskonzepte. In: Euler/ Mandl (Hg.), Emotionspsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München u.a.: Urban & Schwarzenberg, 1983.
Schandry: http://www.forum-grenzfragen.de/aktuelles/34-schandry-biologische-psychologie.php
Krämer, William James über die Seele. In: Crone/Schnepf/Stolzenberg (Hg.) Über die Seele. Ffm: Suhrkamp, 2010
Lurija, Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,1992
Slaby, James. Von der Physiologie zur Phänomenologie. In: Landweer/ Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Berlin: De Gruyter, 2008
 
Zuletzt bearbeitet:
Das könnte auch daran liegen, dass Du tiefer im Thema drin bist und ein Menge Zeugs, das mir als Laie ins Auge fällt, schon als irrelevant aussortiert hast. [1]

Ich habe mich beeindrucken lassen von Fachkatalogen/Zusammenstellungen wie z.B. Mind Papers [2] oder PhilPapers [3]


Da scheint was dran, obwohl ich höchst beeindruckt bin, wie du immer so Datenbanken aus dem Arm schüttelst. Freilich geht es dabei allgemein um Emotionstheorien, mitnichten direkt um „Gefühlstheorien“ im angesprochenen Sinne der modernen Emotionsphilosophie. Warum ich das hier mit der Feeling-Theorie überhaupt postete, ging aus von der Überlegung von Landweer & Newmark, daß im kognitivistischen Emotionsdiskurs eine Gegenposition kreiert wurde, die es gar nicht gibt:
Hier interessiert mich gerade nicht ihr Hinweis auf die in Frage gestellte Dichotomisierung von Vernunft versus Gefühl, sondern vielmehr die vornehmlich von philosophischer Seite "unterstellte Polarisierung von eher 'kognitivistischen' und sogenannten 'Feeling'-Theorien. Mit letzteren sind zumeist solche Theorien gemeint, welche die Art und Weise, wie Gefühle erlebt werden [...], in den Mittelpunkt stellen oder aber darin das eigentlich Gefühlsspezifische oder gar das Differenzmerkmal zwischen verschiedenen Emotionen sehen [...]” (Landweer & Newmark, 2009, S.95 f)

Der Begriff der “Feeling-Theorie” erscheint tatsächlich in der Literatur: Ich würde gar vermuten, daß ihn William Lyons in seinem Buch über die Emotionen (1980) prägte.

Wie gesagt, ist meine Vermutung eher, daß er von Solomon geprägt wurde, zudem er an einer Stelle dazu auch schreibt: „However, this 'feeling' view of emotions does violence to our concept of the emotions, wether or not it is coupled with the hydraulic model as such“ (The Passions. Doubleday-Edition, 1977, pg.146) - vgl. dazu die miserable Übersetzung: „Dennoch tut die Gleichstellung von Gefühlen mit Empfindungen unserem Denken Gewalt an, ob sie nun mit einem hydraulischen Modell einhergeht oder nicht.“ (2000, S.121)

Nun, da ich gerade beim Thema der Begriffsprägung von "feeling theory" bin: ich habe zwischendurch geschrieben (http://www.geschichtsforum.de/518902-post28.html), daß der Begriff Feeling-Theorie anscheinend in einer Zeitschrift im ausgehenden 20. Jh. auftaucht; jetzt habe ich die Referenzstelle sogar doch noch gefunden; obwohl ich es mir ausgedruckt hatte, überlas ich sie. Was meint aber eigentlich Friedrich Jodl in seiner Rezension eines nordamerikanischen Lehrbuches damit? Die Autorin des von ihm rezensierten Buches erörtert an einer Stelle die Begriffe Lust (pleasantness) und Unlust (unpleasantness) und stellt diesbezüglich fest, daß es in der bewußten Erfahrung diese beiden verschiedenen unanalysierbaren Gefühle (feelings) als affektive Elemente gäbe; davon unterschied sie Empfindungselemente (sensational elements) und spricht von folgend wohl von „feelings of realness“, „feeling of wholeness“, Bekanntheitsgefühl oder gar „feeling of generality“, so daß ihre vorhergehende Reduktion Jodl gemäß hinfällig wäre, zudem sie den Begriff des Gefühls („feeling“) allgemein im Sinne von bewußter Erfahrung (conscious experience) erwende.
Jodel scheint also als das „Verengende der Feeling-Theorie“ bei der Autorin die Erweiterung des Wortgebrauchs von „Gefühl“ (feeling) für Bewußtseinsinhalte (ideas) zu meinen, übrigens denn „zu welcher auch in der deutschen Psychologie eine verhängnisvolle Neigung besteht“! Freilich ist damit aber keine „Gefühls-/Feeling-Theorie“ von Emotionen gemeint, wie sie James vorgeschlagen hat, wenn sich dessen Theorie im übrigen, wie ich zu zeigen versucht habe, eben nicht darauf reduzieren läßt.
Sofern man Solomon die Begriffsprägung in diesem Sinne zuschreiben kann, wie ich also nun doch vermute, dann ist ihm zugute zu halten, daß er immerhin zu Anfang seines Kapitel über das hydraulische Modell anmerkt, daß er gewissermaßen grob vereinfacht (wenn auch nur durch die Blume eines Austin-Zitates).


Muspilli schrieb:
Tatsächlich faßt dieser Autor alle möglichen Theorien, die keine kognitionspsychologische Stoßrichtung aufweisen, als eine solche aus und wirft nicht nur Descartes, Hume und Spinoza in einen Topf, sondern gleich William James, Freud und die Behavioristen mit rein. Sehr merkwürdig!

Das finde ich bei Lyons (The Emotions, 1980) in der Tat nach wie vor sehr merkwürdig, aber mir erscheint es seit der Lektüre von Solomons Passionsbuch wenigstens verständlicher. So ist es möglicherweise legitim Spinoza und die klassische psycholoanalytische Theorie gemeinsam abzuhandeln; und vielleicht ist eine gemeinsame Abhandlung von Descartes und James nicht einmal abwegig – dank der Datenbanken jschmidts weiß ich schon einmal, daß dieser Bezug schon eine eigene Studie behandelt: http://www.cis.upenn.edu/~hatfield/HatDJamesPP.pdf – und online verfügbar!); wie allerdings Hobbes und Hume einzuordnen wären, wüßte ich zur Zeit noch nicht. (Hobbes möglicherweise im Zusammenhang mit Instinktheorien?) Der Behaviorismus jedenfalls, der sich schließlich nur auf die Verhaltenserklärung beschränkte, wäre meiner Ansicht nach zumindest ebenfalls gesondert zu besprechen.
Eben stoße ich noch auf das voluminöse Handbook of Emotions [4]: Gehen die ersten beiden Beiträge von Salomon und Stearns in Deine Forschungsrichtung?


Der Artikel von Solomon hatte vor einigen Monaten schon meine Aufmerksamkeit und gleichzeitig auch mein Ärgernis erregt:

Nun habe ich zwar auch einen Überblick über die „Philosopie der Emotionen“von R. C. Solomon (1993)**, aber darin wird meiner Annahme gemäß der Begriff in anachronistischerweise verwendet [ ... ] Nichts desto weniger ist es meiner Ansicht nach aber nicht zulässig, auf terminologische Veränderungen überhaupt nicht einzugehen, vor allem dann nicht, wenn ein Philosophiehistoriker mit Blick auf Emotionstheorien behauptet: „the theories and debates of today cannot be understood or appreciated without some understanding of the philosphy's rich and convoluted past.“ (Solomon, 1993, pg.3)

Interessanterweise habe ich derzeit keine vollständige Literaturangabe gemacht. Mir liegt Solomons Artikel aus dem Handbuchvon Lewis & Haviland in der Version von 1993 vor (wohl erste Ausgabe ), wo er schreibt: “It would be a mistake, however, to put to much emphasis on the term 'emotion', for its range and meaning have altered significantly over the years, in part because of changes in theories about emotion.“ (Solomon, 1993, pg.4) Ich finde, als bekannter Emotionsphilosoph und späterer Philosophiehistoriker hätte er schon damals wenigstens erwähnen können, daß der Emotionsbegriff für die Zeit vor Descartes gewissermaßen problematisch ist oder zumindest sich erst später einbürgerte. Daß in der dritten Edition sein Artikel in dieser Hinsicht anscheinend auch nicht überarbeitet ist, obwohl mitlerweile ja die Arbeit Dixon bekannt, ist darüber hinaus bedauerlich, allerdings war Solomon derzeit wohl schon verstorben; zur Zeit der zweiten Auflage war ihm die Arbeit vielleicht auch noch nicht bekannt. Eine andere Sache ist noch, daß er in seinem Artikel den sog. Emotivismus erwähnt; während ansopnsten Philosphen beim Namen genannt werden, findet sich hierbei keiner; das hatte zwischenzeitlich auch ein wenig geärgert. Wo ich die Stelle freilich gerade nachlese, steht immerhin dabei, daß es sich um eine Bewegung handelt, die man ansonsten auch als logische Positivismus handelt. In einer Arbeit von Döring habe ich noch gelesen, daß sich der Wiener Kreis um eine klassische Gefühlsethik bemüht hatte; sie erwähnt nur Alfred J. Ayer.

Wie dem auch sei, den Artikel von Stearns habe ich auch zunächst mit Interesse gelesen; aber seinerzeit waren die referierten Ansätze noch sehr divergent und standen zum Teil sehr nebeneinander. Da hier gewiß die Forschungslage besser und möglicherweise auch aktualisierter ist, will ich mal schauen, ob ich mir bald einmal eine Kopie aus der neuesten Auflage besorge.
 
Zuletzt bearbeitet:
Freud I: Psychohydraulik & Angsttheorie

Was hat Freud denn zum Thema beizutragen?*
Ein Lehrbuchautor zur Emotionspsychologie schrieb 1973, daß er es besser mit einer kurzen Darstellung der psychoanyltischen Emotionstheorie, mit der er sich lediglich an David Rappaports allgemeiner Einführung orientiert, bewenden lasse als diese Diskussion weiterzuführen, denn sonst würde der Autor sich darin mehr verlieren, als es der Leser zweifellos jetzt schon sei: „It is best to let this discussion rest here, since if it is taken any further the writer will become more lost than the reader no doupt already is.“ (Strongman, 1973, S.31)
Um ehrlich zu sein: mir geht es nicht anders. Nichts desto weniger möchte ich hier etwas über Freuds Zugang zu den Emotionen schreiben. Ich suche zunächst meinen Ausgangspunkt von Robert C. Solomon (1993). Wie bereits erwähnt, führen Solomon und Lyons Freud als Vertreter der Feelingtheorie ein. Solomon ist hier gründlicher, insofern er sich gewissermaßen an Freud abarbeitet.
Bereits im Vorwort seiner Passionsstudie schreibt er Freud die schöne Zusammenfassung der zeitgenössischen Einstellung in psychoanalytischen Grundbegriffen wie folgt zu: „Der Sitz des Denkens sei das 'Ego', 'Ich' oder 'Selbst', während die Leidenschaften in dem seltsamen Triebkessel namens 'Es' angesiedelt seien, das […] eine gleichsam äußere Bedrohung für das Ego und seinen strengen Bundesgenossen, das 'Über-Ich', darstelle.“ Das klingt zunächst sehr eingängig, ist meiner Ansicht nach aber sehr verkürzt, was Solomon freilich selbst auch festgestellt haben dürfte, als er für seine „Passionsstudie“ das Freudsche Werk sichtete. Was auf der individuellen Ebene als ein intrapsychischer Konflikt erscheint, sei nach Freuds „Mythologie“ auf der kollektiven Ebene ein „Gefecht […] zwischen Vernunft und Kultur gegen die monströsen Leidenschaften.“ Der Freudsche „Mythos der Leidenschaften“ wird nach Solomon um einen „Mythos der Unschuld“ ergänzt, was im Zusammenhang mit Freuds Theorie etwas merkwürdig anmutet, ist er es doch der den Säugling für polymorph-pervers hielt und später auch „den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist“ (Das Unbehagen in der Kultur) bezeichnete. Schließlich erwähnt Solomon mit Verweis auf das von Freud psychophysiologisch postulierte Konstanzprinzip die durchgängig für das Freudsche Denken auch zentrale „Vorstellung, daß der Mensch ohne Leidenschaften im Zustand der Trägheit verharren würde“. Allemal bemerkenswert ist Solomons Bemerkung, daß der Begriff des Unbewußten zwar „theoretisch sozusagen völlig unmöglich“ sei, daß es aber „trotz seiner schweren metaphorischen Defizite [...] kaum ein besseres Modell des Seelenlebens“ gäbe. Die hier anklingende Hochschätzung der Psychoanalyse will mir angesichts der vehementen Polemik nicht eingehe, aber vielleicht hielt sich Solomon seinerzeit an die existenzielle Psychoanalyse Jean-Paul Sartres, der einerseits – so etwa in L'etre et le néant das Postulat des Unbewußten (mitsamt Triebreduktionismus) ablehnte, andererseits aber doch tatsächlich die ziemlich vulgäre-psychoanalytische Behauptung über sich aufstellte, daß er kein Überich hätte, weil er keinen Vater hatte. Solomon kritisiert vor allem das hydraulischen Modells, das er gewissermaßen auch als Feelingtheorie umschreibt, und dem entsprechenden Kapitel auch ein Freud-Zitat aus der metapsychologischen Arbeit über „Das Unbewußte“ (1915) voranstellt:
„während die Affekte und Gefühle Abfuhrvorgängen entsprechen, deren letzte Äußerungen als Empfindungen wahrgenommen werden.“
Das klingt nach einer gewissen Ähnlichkeit mit James Auffassung – und tatsächlich bemerkt Richard Wollheim (2001), daß sowohl Freud als auch James in ihren „Ansichten über die Natur der Emotionen einiges gemeinsam haben“ (S.27), wobei ich hinzufügen würde, daß beide wohl mit der einschlägigen Schrift Darwins über den Ausdruck der Gemütsbewegungen (Expression of Emotions) vertraut waren.1 Betrachten wir aber genauer, was hinter dieser Auffassung bei Freud steht. Dazu muß ich weit ausholen und beginne mit der durchaus berechtigte Unterstellung, daß Freud trotz gewisser Zweifel, „Zeit seines Lebens an einer neurologischen Verankerung psychischer Abläufe fest[hielt].“ (Solomon) Bereits in meiner Besprechung von James Emotionstheorie hatte ich erwähnt:
Emotionen haben separate und spezielle Zentren2 – diese schließt er [James] aber insofern aus, als daß damit das neurologische Paradigma infrage gestellt werde, demnach der Kortex als Projektionsoberfläche für empfindliche [Körper-]Punkte und Körpermuskeln gilt. Dieses Argument erscheint mir [...] in der Tat als ziemlich genial. Es ist gewissermaßen der Reflexbogen, der hier für eine neurologische Theorie relevant wird, was James so prägnant erfaßt zu haben schien.
Genau an einem solchen neurologischen Modell hat sich auch Sigmund Freud versucht, und wie er selbst an seinen damaligen Freud Wilhelm Fließ vor 115 Jahren schrieb, war er in seine „Psychologie für den Neurologen“ geradezu „verrant, die mich regelmäßig ganz aufzehrt, bis ich wirklich überarbeitet abbrechen muß“.3 Es war Sigfried Bernfeld, der in seiner Biographiearbeit über Freud den Einfluß der deutschen Physiologie herausarbeitete: Freud hatte unter Ernst von Brücke, einem Vertreter der sog. Helmholz-Schule in Wien (vgl. etwa Bernd Nitzschke: Freud und die akademische Psychologie), studiert; der im verlinkten Artikel erwähnte Sigmund Exner hatte gerade einen „Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen“ (1894) veröffentlicht. Bei Durchsicht dieser Einführung - ursprünglich in einen Band über Freuds Verhältnisse zur akademischen Psychologie (aber anscheinend mit leichten Abänderungen!), springt mir diese Aussage in Auge:
Bernd Nitzschke schrieb:
Freud meinte, die Psychoanalyse habe den „Primat im Seelenleben für die Affektvorgänge“ (1913, 402) erkannt. Nimmt man diese Aussage Freuds zum Ausgangspunkt einer näheren Bestimmung, so ließe sich sagen: Die Psychoanalyse beschäftigt sich als „Spezialwissenschaft“ mit den Derivaten intrapsychischer und interpersoneller „Affektvorgänge“.
Eine solche Aussage läßt mich ein wenig stutzen, angesichts einer von Freud an anderer Stelle mehr nur rhetorisch geforderten wünschenswerten Durchführung einer Analyse einer „Reihe anderer Affekte“ (Freud 1926). Freud selbst hat sich eben besonders mit der Angst befaßt - seine Konzeption einer Signalangst hat auch die Neurowissenschaftschaft anerkennen müssen. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, in der zunächst eine soziale Angst (Angst vor Bestrafung bzw. Liebesverlust) erlebt werde, leitete er bspw. das Schuldgefühl ab und erst nach der Verinnerlichung eines Über-Ichs, das „das Ich mit nämlichen Angstempfindungen [peinigt]“ sei es ihmgemäß möglich, von einem Gewissen zu reden (vgl. Freud, 1930). Verschiedenste Emotionen, wie etwa Ekel (Abscheu) oder Scham, Liebe und Haß, hat er weniger aus seiner Deutungsarbeit heraus theoretisch aufgegriffen, und hat sie vielmehr in einem abstrakten, fast metaphorischen Sinne gebraucht, etwa wenn er etwa feststellte: „Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspenden Außenwelt von seiten des narzißtischen Ichs“ (Triebe & Triebschicksale) Eine sehr verbeitete psychoanalytische Theorierichtung (die von Melanie Klein begründete) nahm ihren Ausgang von einem wörtlichen Verständnis dieser Freudschen Aussagen.
Ob Freuds theoretische Ansätze einen kohärente Entwurf einer Affektlehre ergeben ist zwar fraglich, aber es sollte auch nicht heißen, daß die klinische Psychoanalyse Emotionen praktisch vernachlässigt hätte; Psychoanalytiker jedenfalls, die sich theoretisch mit Affektproblemen beschäftigten, standen schließlich vor gewissen Schwierigkeiten, ihre klinischen Erfahrungen ins Freudsche Theoriegebäude zu integrieren. Wie dem auch sei, auf die frühen Freudschen Ausarbeitungen nimmt Solomon mehr oder weniger explizit bezug, wenn er diese Bezugnahme im Hinblick auf die spätere Theoriebildung Freuds denn auch durchaus zu Recht verallgemeinert, wenn er feststellt: „Freud mutmaßte, daß Gefühle [passions] – bei ihm gibt es 'Affekte', 'Impulse', 'Triebe', 'psychische' repektive 'libidinöse Energien' oder 'Kräfte' – nichts anderes seien als der Druck einer zu bestimmenden Quantität ('Q') seelischer Energie, die durch die neu eingeführten Kanäle oder Neuronen des Nervensystems zirkuliert.“ Tatsächlich hatte Freud Mitte der 1890er Jahre tatsächlich mit der Konzeptiualisierung dessen begonnen, was in die Wissenschaftsgeschichte als Triebtheorie eingehen sollte. Und aus ihrer Basis eine psychoanalytische Affektlehre abzuleiten, mußte wohl zu theoretischen Widersprüchen führen.
Eine zentrale Absicht seines „Entwurfes einer Psychologie“ – wie das posthum veröffentlichte Manuskript Freuds von den Herausgebern benannt wurde – war es „nachzusehen, wie sich die Funktionslehre des Psychischen gestaltet, wenn man die quantitative Betrachtung, eine Ökonomik der Nervenkraft, einführt“ (zit. nach a.a.O, S.377), um letztendlich das psychpathologische Phänomen der Abwehren wissenschaftlich erklären zu können. Hier sei zunächst an die Hysterie seines Zeitalters erinnert, das man als viktorianisch bezeichnet hat. Eine bekannte Symptomatik von Hysterien sind Konversationsstörungen. (In einem anderen Zusammenhang war ich darauf eingegangen, was unter solchen Symptomen zu verstehen sei: http://www.geschichtsforum.de/712438-post77.html)
Mit seinem Kollegen Joseph Breuer (vgl. auch http://www.geschichtsforum.de/284899-post7166.html) publizierte Freud bekanntlich über die Hysterie, von der sie behaupteten, daß sie ein Leiden an Reminiszenzen (=Erinnerungen) sei; gemäß ihrer Erfahrung verschwanden die Krankheitssymptome, wenn die Erinnerung an Ereignisse mit den dazugehörigen Affekten wieder durchlebt wurde. In dieser frühen Phase der Freudschen Theoriebildung ist es ein „eingeklemmter Affekt“, der krankheitsverusachend wirkt, der in einer ursprünglichen (traumatischen) Situation nicht abgeführt werden konnte; dabei sprechen Breuer & Freud in den „Vorläufigen Mitteilungen“ von energischen Reaktionen, die sowohl willkürliche als auch unwillkürlichen Reflexen umfassen, „in denen denen sich erfahrungsgemäß Affekte entladen“, sei es in Handlungen, durch sprachlichen Ausdruck (als „Surrogat“) oder auch Gedankenarbeit („Reproduktion in Zuständen ungehemmter Assoziation“). Affekte werden hier als Entladungsphänomene betrachtet.
Im Hinblick auf die später von Freud weiter ausgearbeitete Modellvorstellung der Seele ist es interessant, einen Blick auf den von Breuer verfaßten theoretischen Teil der Studien über Hysterie zu werfen: Im wagen Anschluß an Janet (Etat Mental II) heißt es im zweiten Abschnitt über die Annahme einer „Nervenspannung“, auch als „intrazerebrale tonische Erregung“ bezeichnet und die in den „Leitungsbahnen“ des Zentralnervensystem in einem gewissen Maß bestehe , heißt es, daß den Abstufungen vom Wachen bis zum Schlaf "niedrigere Erregungsgrade [entsprechen]“; der optimale Erregungsgrad, wie man im Anschluß an Breuer formulieren könnte, entspricht dem „arbeitsbereiten“ Gehirn, während sich Breuer eine tatsächliche „Arbeitsleistung“ dann so vorstellt, daß etwa „die Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein Sinnesgebiet die Leitungsfähigkeit der anderen Hirnorgane absinken macht, daß also das Gehirn mit einer wechselnden, aber begrenzten Energiemenge arbeitet.“ Er greift dazu übrigens auf Exners Begriff der „attentionellen Bahnung“ zurück, die demnach zu einer ungleichmäßigen Verteilung der Intrazerebralen tonischen Erregung führe. Während das, was man umgangssprachlich als Nervösität bezeichnet, noch einer „gleichmäßigen Erhöhung der tonischen Erregung“ entspricht, gibt es schließlich noch einen Zustand der „Aufregung“, der einer „ungleichmäßigen Überrerregung“ entspricht. Ferner nimmt Breuer einen „im Lebensprozess der Hirnelementen selbst begründet[en]“ Restitutionsprozess („Entwicklung von Energie“) an, der zur Freisetzung von funktionell verwertbarer Energie führt und die „intrazerebrale Erregung“ steigere; bleibt solch freie Energie aber unverwertet, etwa durch Versagung eines organismischen Bedürfnisses, werde ein Unlustgefühl erzeugt, was heißt, daß die „Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfnis des Organismus“ sei. Damit wird formuliert, was wohl Freud selbst als „Tendenz zur Konstanterhaltung der intrazerebralen Erregung“ verstanden wissen wollte, da es als Zitat gekennzeichnet ist. Alfred Hirschmüller (1978) mutmaßt aber, daß es bezüglich dieses Konstanzprinzips zwischen Breuer & Freud durchaus Meinungsverschiedenheiten gab: Während Breuer an ein Konzept dachte, das später unter den Begriff der Homöostase gefaßt wurde, konzeptualisierte Freud primär eher eine Neuronenträgheitstheorie mit der Zusatzannahme eines Konstanzprinzips: Die „Primärfunktion“ des Nervensystems besteht zunächst in der Tendenz, „sich eintreffender Erregung sofort zu entledigen und somit erregungsfrei zu bleiben“ (S.215) Dieser Trägheitsfunktion stellt Freud eine sekundäre Funktion zur Seite, nämlich die modifizierte Tendenz, „die Quantität (Qἡ) wenigstens möglichst niedrig zu halten und sich gegen Steigerung zu wehren, d. h. konstant zu halten.“
Man mag darüber streiten, ob es wirklich ein entscheidender Unterschied ist, wie Breuer „die Erhaltung eines optimalen Niveaus“ zu postulieren, oder wie Freud, eine „Tendenz zur Erniedrigung der Erregungssumme“, aber ich halte es persönlich gerne mit Hirschmüllers Ansicht, daß er fundamental ist, und zwar aus einem etwas komplizierteren Grund:
Freud arbeitete seinerzeit an einem Vorläufer seiner Triebtheorie, einer ziemlich simplen Sexualtheorie, in der Breuer ihm nicht folgen wollte. In bezug auf die Affektlehre spricht man auch von der ersten Angsttheorie Freuds, in der (neurotische) Angst als „mechanische Libidostauung“ (Mentzos) konzeptualisiert wird und die er erst kanpp 30 Jahre später zu revidieren begann, indem er seine frühere Auffassung, zurückweist, „die Besetzungsenergie der verdrängten Erregung werde automatisch in Angst verwandelt.“ (Freud, 1926) Obzwar sich Freud an dieser Stelle in das Argument flüchtet, daß er damit keine „metapsychologische Darstellung“, sondern lediglich eine „phänomenologische Beschreibung“ hatte geben wollen, revidiert er sich an späterer Stelle in der zitierten Arbeit sogar explizit: „Wenn ich mich früher begnügt hätte zu sagen, nach der Verdrängung erscheint an Stelle der zu erwartenden Äußerung von Libido ein Maß von Angst, so hätte ich heute nichts zurückzunehmen. […] Aber ich gestehe, ich glaubte mehr als eine bloße Beschreibung zu geben, ich nahm an, daß ich den metapsychologischen Vorgang einer direkten Umsetzung der Libido in Angst erkannt hatte.“
(Fotsetzung im Beitrag)
 
Freud II: Angst und Ubw Gefühle

Freud gab meiner Ansicht nach die Idee einer engen Beziehung zwischen Angst als Reaktion auf äußere Gefahren und Angst aufgrund von Triebgefahr nicht auf. Was in der Literatur als bedeutende Revision ein wenig übertrieben herausgestellt wird, wäre eigentlich eher als bedeutende Erweiterung zu bezeichnen; ich jedenfalls bezweifel angesichts des Zitates (vorhergehender Beitrag), daß er seine psychoökonomische Auffassung der Angst völlig aufgegeben haben sollte. In Laplanche & Pontalis Vokabular der PA findet sich ein Eintrag zur „automatischen Angst“, die als Reaktion auf eine Reizüberflutung definiert werde, wobei hingefügt wird, daß dabei noch keine definitive Aussage über die Quelle des Reizes (spricht innere oder äußere) getroffen werde, wenn auch erwähnt wird, daß es sich um einen alten Freudschen Gedanken handelt, den man in „seinen ersten Schriften über die Angst [findet], wo diese als das Ergebnis einer angehäuften und nicht abgeführten libidinösen Spannung definiert ist.“ (S.64) Diesen Gedanken hat Freud - so würde ich behaupten wollen, letztendlich nicht konsequent aufgegeben, wenn er auch schreibt: „Ich habe oftmals den Satz vertreten, durch die Verdrängung werde die Triebrepräsentanz entstellt, verschoben und dgl., die Libido der Triebregung aber in Angst verwandelt.“ (1926) „Daß es die Libido selbst ist, die dabei in Angst verwandelt wird, werden wir nicht mehr behaupten.“ (1933)

Ich möchte mich noch mit der Frage nach unbewußten Gefühlen beschäftigen und nehme als Ausgangspunkt Joseph Le Doux' Bezugnahme auf Freudsche Überlegungen, um bestimmte Fragen an die Psychoanalyse zu stellen und will schauen, was Freud dazu sagen würde.
Le Doux (1996, S.17) behauptet, bereits Freud hätte festgestellt, daß „Emotionen im Unbewußten angesiedelt und oft von den normalen Denkprozessen abgespalten sind“ (S.17); aus der neurowissenschaftlichen Erkenntnis, daß man nicht auf bewußte Empfindungen angewiesen sei, um emotionales Verhalten zu erklären, zieht Le Doux (S.20) ferner den Schluß, daß emotionale Reaktionen überwiegend unbewußt erzeugt würden, und stimmt Freuds Intuition über die Seele zu, daß diese mehr umfaßt als das Bewußtsein. Hieraus lese ich vornehmlich, daß die Neurowissenschaft Unterstützung bei der Psychoanalyse für ein Konzept unbewußter Prozessierung von Emotionen sucht. Nun ich bin fern davon, die mögliche Tatsache unbewußter Emotionen zu bestreiten, aber die Frage die mich hier beschäftigen soll, lautet: Behauptet Freud tatsächlich die Existenz unbewußter Gefühle? Eigentlich nicht, wie ich in diesem Thread schon einmal zitiert hatte:
es gibt nach Freud aber keinen unbewußten Affekt; der korrelierende Affekt(betrag) wird vielmehr verschoben - er spricht aber gelegentlich wohl auch von der Möglichkeit der Unterdrückung (vgl. Freud 1915d; Das Unbewußte, 1915e: "der Affekt bleibt bestehen und kann sich nun auf eine Vorstellung richten; er wird in einen anderen Affekt umgewandelt, besonders in die Angst; oder aber er wird unterdrückt" (Laplanche & Pontalis, S.136)
Peinlicherweise habe ich aber falsch zitiert: minder schlimm wenigstens die Seitenangabe im Vokabular der Psychoanalyse; es ist S.536 aus dem Eintrag „Triebrepräsentanz“, wo es eben heißt, Freud hätte einen analogen Begriff der affektiven Repräsentanz nicht verwendet. Tatsächlich meint Freud, daß nur die korrelierte Vorstellung als Triebrepräsentanz unbewußt sein kann. Der zweite Zitatfehler ist gravierender: so ist zwar bezüglich der „Schicksale des Affektbetrages“ vom Bestehenbleiben des Affekts die Rede, aber „sie kann sich nun auf eine andere Vorstellung richten.“
Wie sieht es nun mit der inhaltlichen Aussage aus? Wie steht es mit der Existenz unbewußter Affekte? Mit dieser Frage, nämlich der „nach den unbewußten Empfindungen, Gefühlen, Affekten“ beschäftigt sich Freud explizit in Das Unbewußte (1915) und in der Tat sei es auch in der Psychoanalyse üblich, Gefühle oder Affekte als unbewußt anzusprechen, obwohl es doch sehr wohl zum „Wesen eines Gefühls“ gehöre, „daß es verspürt, also dem Bewußtsein bekannt wird.“ Somit läßt sich philosophisch einwenden, daß das Reden über die Unbewußtheit von Gefühlen also „rechtfertigungsbedürftig“ (Hartmann 2010, S.34) sei.
Zumindest metapsychologisch hält Freud (1915) denn auch die Begriffskombination „unbewußtes Gefühl“/ „unbewußter Affekt für für eine contradictio in adjecto: „Es kann zunächst vorkommen, daß eine Affekt- oder Gefühlsregung wahrgenommen, aber verkannt wird. Sie ist durch die Verdrängung ihrer eigentlichen [Trieb-] Repräsentanz zur Verknüpfung mit einer anderen Vorstellung genötigt worden und wird vom Bewußtsein für die Äußerung dieser letzteren gehalten.“ Wenn hierbei von einer Unbewußtheit der ursprünglichen Affektregung gesprochen wird, bezieht sich das also auf eine verdängte Vorstellung; auf keinen Fall will Freud den Affektbetrag, den „quantitativen Faktor der Triebregung“ als unbewußt verstanden wissen, obwohl „die Unterdrückung der Affektentwicklung das eigentliche Ziel der Verdrängung ist und daß deren Arbeit unabgeschlossen bleibt, wenn das Ziel nicht erreicht wird.“ Der Sprachgebrauch scheint also doch in den Fällen gerechtfertigt, „wo der Verdrängung die Hemmung der Affektentwicklung gelingt“ (Hervorhebung von mir), allerdings erneut betonend, „daß die unbewußte [Trieb-] Vorstellung nach der Verdrängung als reale Bildung im System Ubw bestehenbleibt, während dem unbewußten Affekt ebendort nur eine Ansatzmöglichkeit, die nicht zur Entfaltung kommen durfte, entspricht.“ (meine Hervorhebung) Demgegenüber spricht er wiederum davon, daß es „sehr wohl im System Ubw Affektbildungen geben [kann], die wie andere bewußt werden.“
Ich will einmal den Gedankengang bis hier her resümieren: Das Reden von unbewußten Gefühlen bezieht sich auf die unbewußte Triebregungen, deren Vorstellung eigentlich nur verdrängt und deren Affektentwicklung gehemmt ist; daneben akzeptiert Freud freilich die Möglichkeit einer Affektbildung, die dann aber so etwas wie Bewußtheitsfähigkeit voraussetzt, denn wenn ich das richtig verstanden habe, kann es im Unbewußten aber nur den ersten Ansatz einer Affektentwicklung geben; die weitere Entfaltung des Affekts erfolgt anscheinend im Vorbewußten oder im Bewußtein. Aber nicht nur das wäre zu klären, es erscheint im weiteren noch ein Problem auf, denn plötzlich spricht Freud von besetzten Vorstellungen: „Strenggenommen […] gibt es also keine unbewußten Affekte, wie es unbewußte Vorstellungen gibt. [...] Der ganze Unterschied rührt daher, daß Vorstellungen Besetzungen – im Grunde von Erinnerungsspuren – sind, während Affekte und Gefühlen Abfuhrvorgängen entsprechen, deren letzte Äußerungen als Empfindungen wahrgenommen werden.“ (1915e) Bedauerlicherweise hat Freud anscheinend „die Besetzungsvorgänge nirgendwo in der Perspektive seiner psychologischen Theorie diskutiert“ (Negara, S.395); für die Freudsche Affektheorie wird das zum echten Problem, ob ich das aufzeigen konnte, mag eine andere Sache sein.
David Rapaport zitiert zur Klärung der Freudsche Affekttheorie allerdings noch eine „ganz bestimmte Annahme über die Natur der Affektentwicklung“ (Freud 1900) aus der Traumdeutung, demnach die dieselbe „als eine motorische oder sekretorische Leistung angesehen [wird], zu welcher der Innervationsschlüssel in den Vorstellungen der Ubw gelegen ist.“ Obzwar wir mit diesem Zitat wieder beim ungeklärten Besetzungsproblem der unbewußten Vorstellung angelangt sind, enthält dieses Zitat einen weiteren Aspekt der zugrundeliegenden Freudschen Affekttheorie; auch in seiner Studie über das Unbewußte bemerkt Freud, daß das „System Bw normalerweise die Affektivität wie den Zugang zur Motilität beherrscht“, allerdings schränkt er diese Angabe dahingehend ein, daß die bewußte Beherrschung der Willkürmotorik eindeutiger ausfällt als die der Affektivität, die „sich wesentlich in motorischer (sekretorischer, gefäßregulierender) Abfuhr zur (inneren) Veränderung des eigenen Körpers [äußert]“ (Anm.), so daß er schließlich auch von einem „Ringen der beiden Systeme Bw und Ubw um den Primat in der Affektivität“ spricht.
In Jenseits des Lustprinzips spricht Freud (1920) von diesen „zweierlei Formen der Energieerfüllung“, so daß „eine freiströmende, nach Abfuhr drängende, und eine ruhende Besetzung der psychischen Systeme oder ihrer Elemente) zu unterschieden ist.“ Diese Unterscheidung geht auf Freuds interessante Neuronentheorie der 1890er Jahren zurück, auf deren Darstellung ich verzichten möchte. Wenig überraschend jedenfalls führe das Bewußtsein gemäß Freud „keine gebundene und nur frei abfuhrfähige Energie“ (Freud 1920); dieses scheint nun aber das Bewußtsein zunächst mit dem Unbewußten gemein zu haben, denn auch dessen Tätigkeit sei „auf freies Abströmen der Erregungsquantitäten gerichtet“ (Freud 1900); aber anders als im Unbewußten, das ganz und gar dem sog. Lustprinzip unterworfen ist, wird „die Leistungsfähigkeit des psychischen Apparates vervollkommnet, indem sie“ - Freud meint „eine zweite und feinere Regulierung“ - „ihn [den psychischen Apparat] gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüpft ist, der Besetzung und Bearbeitung zu unterziehen.“ (Freud, 1900) Die Differenz des Unbewußten vom Bewußtsein besteht gemäß Freud also darin, daß die unbewußten seelischen Vorgängen dem Lustprinzip unterworfen seien, und d. h. sie „streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück“ (Freud 1911). Anders das Bewußtsein, das sich nach Freud dem Realitätsprinzip unterwerfen kann; hier ließe sich von „Unlustbindung" sprechen, der im Prozeß der Durcharbeitung von Versagungen und Ängsten möglich würde. Diese erfolgt gemäß Freud freilich nur unter Widerständen.

(Literaturangaben werden ggf. nachgereicht)
 
@Muspilli:

Freuds Triebtheorie wurde von der Objektbeziehungstheorie u.a. darin modifiziert, dass Triebe kein primärer, im Biologischen verankerter Faktor sind, sondern ein sekundärer Effekt, entstanden aus der ´Integration´ einer Vielzahl einzelner positiver, d.h. lustvoller Affekte und negativer, d.h. unlustvoller Affekte zu den Triebsystemen Libido und Aggression. Die ursprünglichen Einzelaffekte stellen das Maß an Lust oder Unlust der Beziehung von Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen dar, welche die Vorstellungen sind, die das Subjekt von sich selbst und dem Objekt (Mutter, Vater usw.) in interaktiven Situationen hatte. Die OBTh kehrt das Verhältnis von Trieb und Affekt also um: Affekte entstehen nicht aus Trieben, sondern umgekehrt die Triebe aus ´gebündelten´ oder ´summierten´ Affekten.

Ist das von mir korrekt dargestellt? Und wie siehst du das?
 
Zuletzt bearbeitet:
Freuds Triebtheorie wurde von der Objektbeziehungstheorie u.a. darin modifiziert, dass Triebe kein primärer, im Biologischen verankerter Faktor sind, sondern ein sekundärer Effekt, entstanden aus der ´Integration´ einer Vielzahl einzelner positiver, d.h. lustvoller Affekte und negativer, d.h. unlustvoller Affekte zu den Triebsystemen Libido und Aggression.

Vor allem auch Carl Gustav Jung kritisierte Freuds Libidobegriff, was bekanntlich zum Bruch zwischen beiden führte. Nach Jungs Meinung war es falsch, dem Geschlechtstrieb eine derart zentrale Bedeutung einzuräumen. Stattdessen wollte er die Psychoanalyse auf breitere Verhaltensmuster stützen, wobei unbewusste Schichten und Verdrängtes aufgedeckt werden sollten.
 
Vor allem auch Carl Gustav Jung kritisierte Freuds Libidobegriff, was bekanntlich zum Bruch zwischen beiden führte. Nach Jungs Meinung war es falsch, dem Geschlechtstrieb eine derart zentrale Bedeutung einzuräumen. Stattdessen wollte er die Psychoanalyse auf breitere Verhaltensmuster stützen, wobei unbewusste Schichten und Verdrängtes aufgedeckt werden sollten.

Nicht nur Freuds Theorie, auch die OBTh sowie Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse stehen in großem Gegensatz zu Jungs Archetypenlehre. Ich persönlich favorisiere Lacan und die OBTh (eingedenk ihrer Unterschiede), verkenne aber nicht die Genialität Freuds, der eine neue Wissenschaft komplett aus dem Boden gestampft hat. Jungs Archetypen sind, nach einem Wort Lacans, "Spiegelungen von Spiegelungen von Spiegelungen", also postnatal erworbene, imaginäre Gebilde.

Wir können auch gerne über Jung debattieren, vornehmlich bin ich z.T. aber an der OBTh interessiert, vor allem an Melanie Kleins und Otto Kernbergs Theorien.
 
Affekt & Trieb in der ichpsychologischen Objektbeziehungstheorie

Freuds Triebtheorie wurde von der Objektbeziehungstheorie u.a. darin modifiziert, dass Triebe kein primärer, im Biologischen verankerter Faktor sind, sondern ein sekundärer Effekt, entstanden aus der ´Integration´ einer Vielzahl einzelner positiver, d.h. lustvoller Affekte und negativer, d.h. unlustvoller Affekte zu den Triebsystemen Libido und Aggression. Die ursprünglichen Einzelaffekte stellen das Maß an Lust oder Unlust der Beziehung von Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen dar, welche die Vorstellungen sind, die das Subjekt von sich selbst und dem Objekt (Mutter, Vater usw.) in interaktiven Situationen hatte. Die OBTh kehrt das Verhältnis von Trieb und Affekt also um: Affekte entstehen nicht aus Trieben, sondern umgekehrt die Triebe aus ´gebündelten´ oder ´summierten´ Affekten.

Ich tue mich ein bißchen schwer mit der Bestätigung, insofern sie sich nicht auf die Objektbeziehungstheorie der Psychoanalyse schlechthin bezieht, sondern zunächt oder in erster Linie eine prägnante Zusammenfassung einer ganz bestimmten Abart der ichpsychologisch ausgeprägten Objektbeziehungstheorie, namentlich derjenigen von Otto Kernberg, an dessen Theorie du auch eingestander Maßen interessiert bist.
Kernberg vertritt einen systematischen Ansatz, seine stärke liegt unbestreitbar darin eine handhabbare Kategorisierung von Charakterpathologien entwickelt zu haben. Dadurch, daß er den Diskurs der "Schule", die ergewissermaßen vertritt, so sehr bestimmte, würde ich aber sagen, daß viele Einsichten seiner Vorgänger - ich denke insbesondere an Edith Jacobson - verloren gegangen sind.
Insgesamt mußten Theoretiker der PA starken Inkohärenzen feststellen; Morris Eagle verzichtete etwa eingestandener Maßen auf eine Darstellung, John Gedo (Evolution of PA, 1999, Ch. 13: "Relational Perspective") kritisiert an seinem Narzißmus-/Borderlinebuch von 1976 bspw., daß unklar bliebe, was Kernberg überhaupt meint, wenn er davon spricht, daß Es-, Ich- und Überich-Strukturen sich aus internalisierten Objektbeziehungseinheiten (internalized object relations units) bildeten.

Nach dem Hinweis auf einen Ausrutscher in einen Cartesianischen Dualismus kommt Gedo aufs Emotionsthema, daß das neurologische Konzept Kernbergs drei Systeme beinhalte: Lust/Unlust, Affektivität und neocortikale Funktion (=Kognitionen); die Affekte begründen das früheste kindliche Motivationssystem, wobei Affekte lediglich grob als "zentrale Zustände" definiert seien; den infrage stehenden Zusammenhang gibt Gedo mit Kernbergs (ebenfalls nicht näher erläuterten) Postulat so an, daß sich Libido und Aggression durch die vorhergehenden Operationen der Affektivität als Triebe organisieren.
Nur mit größter Einschränkung ließe sich Martin Dornes (Die frühe Kindheit, 1997) zustimmen, daß Kernbergs Triebkonzeption "meilenweit von der klassischen Sichtweise entfernt ist. Letzlich kehrt er sie völlig um. Affekte sind nicht mehr Abkömmlinge von Trieben, sondern Triebe [...] entstehen aus der 'Integration' von Affekten. Die Affekte sind das primäre, die Triebe das Abgleitete." (S.45) Diese Entwicklung zu begrüßen, wie es Dornes tut, halte ich persönlich sowie für übertrieben; läge Kernbergs Auffassung eine konsistente Theorie zugrunde, gaukelte er lediglich "termonologische Loyalität" (Dornes) vor.

Tatsächlich ist Kernbergs Theorie aber nichts anderes als eine affektpsychologisch umformulierte Triebtheorie: Seine Verhältnisbestimmung von Trieben & Affekten ist lediglich eine ekkletizistische Feinjustierung, die in hohem Maße von der kleinianischen Theorie abhängig ist und in der in einem streng metapsychologischen Sinne Aggression als eine Manifestation des Todestriebes konzipiert ist. Aufgrund dieses immanenten Widerspruches ergibt die Kernbergsche Konzeption für mich häufig keinen sinnvollen Ansatz.

In seiner Monographie über Wut & Haß (Stuttgart, 1997), in dem er sich im ersten Kapitel über "Neue Gesichtspunkte zur Triebtheorie" äußert, expliziert Kernberg, daß die von ihm vertreten Auffassung der Freudschen widerspreche, Affekte als Abfuhrphänomene aufzufassen (vgl. S.22); im Anschluß an die allgemeine Abgrenzung von Instinkten und Trieben spricht er Affekte als "Instinktstrukturen" an:
Der psychische Aspekt dieser Muster wird dann so organisiert, daß er die aggressiven und libidinösen Triebe bildet, die Freud beschrieben hat." (S.15) Am Ende des Absatzes nennt er Affekte aber auch noch "Brückenstrukturen zwischen biologischen Instinkten und psychischen Trieben" (S.15) oder es sei "ausgesprochen plausibel, daß Affekte das Bindelied sind zwischen biologisch determinierten Instinktkomponenten auf der einen Seite und der intrapsychischen Organisation übergreifender Triebe auf der anderen Seite." (S.20). Solche verwirrenden Einsprengsel finden sich ständig bei Kernberg.

Kernberg unterscheidet zwischen primitiven und abgeleiteten Affekten; Primitive Affekte zeigten bereits Kinder unter drei Jahren; sie seien "von intensiver, globaler Qualität und haben eine diffuse, wenig ausdifferenzierte kognitive Komponente." (S.16) Ursprüngliche Komponenten der primitiven Affekte, wie "psychochophysiologische und mimisch-kommunikative [Aspekte]" treten im Verlauf der Entwicklung hinter die "psychischen Aspekte" der abgeleiteten Affekte zurück, die "komplexer" seien: sie "bestehen aus Kombinationen der primitiven Affekte und sind kognitiv ausgestaltet." (ebd.) Ein bedeutendes Kernmerkmal nach Kernberg dürfte die "subjektive Qualität eines bewertenden Empfindens" sein. Des weiteren ist der Unterschied zwischen "ruhigen Zuständen mit geringer Affektintensität" und "Affektzuständen hoher Intensität" wichtig. Während die affektruhigen Zustände zum Strukturaufbau der primärautonomen Ichfunktionen beitragen, sind es zunächst nur "intensive Affekte", die "die Verinnerlichung primitiver Objektbeziehungen [begünstigen], die sich entlang der zwei Achsen von belohnenden oder nur-guten Objekten gegenüber aversiven oder nur schlechten Objekten gruppieren." (S.30) Gemäß Kernberg sind es diese beiden "parallelen Stränge aus befriedigenden und frustrierenden Erfahrungen" (S.33) bzw. "Stränge von belohenden und von aversiven Affektzuständen" (S.20), die "der dualen Entwicklungslinie von Libido und von Aggression" (S20) entsprechen und sie sind die Voraussetzung dessen, was als Abwehrmechanismus der Spaltung ist, die den kompletten psychischen Apparat durchzieht, weil die sich in der frühesten Kindheit (symbiotische Phase) erst ausbildenenden Selbst- und Objektrepräsentanzen noch nicht voneinander differenziert sind (vgl. Graphik).

Abschließend will ich noch zu klären versuchen, worin nach Kernberg überhaupt der Unterschied zwischen Affekt- und Triebkonzept sieht, denn er betont explizit, "daß sich Triebe nicht einfach nur in Affekten manifestieren, sondern daß sie eine spezifische Objektbeziehung mobilisieren, zu der ein Affekt gehört und in der der Trieb sich als ein spezifisches Begehren oder ein Wunsch äußert." (S.34) Was hier als Wunsch angesprochen wird, bezieht sich auf die unbewußte Phantasiebildung, die die klassischen Theorie, an der Kernberg hier festhält, bereits dem Säugling zugeschrieben wird; bei Kernberg heißt das mit deutlichen Anklang an Melanie Klein: "Die Lust, die mit der gegenwart der 'guten' nährenden Mutter zusammenhängt, steht im scharfen Kontrast zu den Qualen, die der Säugling der 'schlechten' Mutter zuordnet und denen er ausgesetzt ist, wenn ihn Frustration, Unbehagen oder Wut erfüllen. Ferner kommt bei der Umwandlung qualvoller Erfahrungen in ein symbolisches Bild, das 'schlechtes Selbst' und 'schlechte Mutter' nicht voneinander unterscheidet, offenbar auch eine Phantasiekomponente ins Spiel, die über den realitätsnahen Charakter der 'guten' Selbst/Objekt-Repräsentanzen hinausführt. Es kann daher sein, daß das ursprüngliche Phantasiematerial dessen, was später zum verdrängten Unbewußten wird, von aggressiven Bildern und Affekten beherrscht wird." (S.31) Was ich hier hervorheben möchte, ist die in der Kleinianischen Tradition betonte Bedeutung des Projektionsmechanismus, der insbesondere mit den kindlichen Zerstörungsneigungen in Zusammenhang steht und auf den Kernberg hier implizit anspielt.

Das ist aber noch kein hinreichender Grund, an der Triebtheorie festzuhalten; dieser könnte eher darin zu finden sein, daß eine Theorie, die die Bedeutung der Psychosexualität ignoriert, eventuell nicht mehr notwendigerweise als psychoanalytisch verstanden werden kann. (Als Beispiel solcher Entwicklung wäre zu allererst Jungs sog. analytische Psychologie zu nennen, deutlicher im affektpsychologischen Zusammenhang die Bindungstheorie Bowlbys oder später die von Heinz Kohut begründete Selbstpsychologie.) Dornes (1997, S.45) will Kernberg tatsächlich in diese Richtung verstehen, wenn er meint, dieser fordere "den Abschied von der Idee der erogenen Zonen", aber das erscheint mir nicht zwingend, zudem Kernberg im mir vorliegenden Text auch nicht eindeutig dazu Stellung bezieht; er schreibt lediglich von einer Eingrenzung der sexuellen Partialtriebe, die in seinem Modell "umschriebene Zusammenschlüsse von korrespondierenden Affektzuständen [sind], deren hierarchisch übergeordneter Zusammenschluß wiederum die Libido als Trieb ist - also die Integration aller erotisch zentrierten Affektzustände." (S.15) Daß das im Grunde unglücklich formuliert ist und schematisch nicht hinkommt, hätte Kernberg bei der Zusammenstellung der Texte zu seinem Buch - in dem es auch um sog. Perversionen geht - eigentlich merken müssen, aber das soll hier nicht mehr mein Problem werden.
 

Anhänge

  • Repräsentanzmodell nach Kernberg (Peter Kutter & Thomas Müller. PA. Einführung in die Psy ubw Pr.jpg
    Repräsentanzmodell nach Kernberg (Peter Kutter & Thomas Müller. PA. Einführung in die Psy ubw Pr.jpg
    130,5 KB · Aufrufe: 576
Zuletzt bearbeitet:
Freud & Jung

Vor allem auch Carl Gustav Jung kritisierte Freuds Libidobegriff, was bekanntlich zum Bruch zwischen beiden führte. Nach Jungs Meinung war es falsch, dem Geschlechtstrieb eine derart zentrale Bedeutung einzuräumen. Stattdessen wollte er die Psychoanalyse auf breitere Verhaltensmuster stützen, wobei unbewusste Schichten und Verdrängtes aufgedeckt werden sollten.
Der Bruch zwischen Sigmund Freud und seinem "Kronprinzen", wie er C. G. Jung nannte (Freuds früherer Kronprinz (Archiv)) hat zwar durchaus auch etwas mit der Sexualtheorie zu tun, im Hintergrund spielen aber auch Konkurrenz und traumatische Erfahrungen eine Rolle (vgl. ferner D2: Freud, Jung, and Psychoanalysis).
Während in der Freundschaft und Zusammenarbeit mit Jung seitens Freud daraus Probleme erwuchsen, daß sie an die Entfremdung vom einstigen Freund W. Fließ erinnerte, war es auf Jungs Seite - darüber ist man heute sehr gut informiert - ein "sexuelles Jugendtrauma", das ihm Unbehagen bereitete. Konkurrenz ergab sich auf theoretischer Ebene im Hinblick auf die Abgrenzung der Neurosen, dem Freudschen Spezialgebiet, von den Psychose, zu deren Analyse (damals noch als "Dementia praecox" bezeichnet) Jung hervorragende Beiträge geleistet hatte (vgl. The Trauma of Freud: Controversies in Psychoanalysis - Paul Roazen - Google Books).
Entzündete sich der Streit der beiden vielleicht an theoretischen Erklärungen der Schizophrenie? Nicht nur, denn in ihrem ihren Briefwechseln behandelten sie auch kulturtheoretische Fragen und beide publizierten auch zügig nach ihrem Bruch darüber.

Aus solch einer Perspektive wäre es simplizierend, hier nur der öffentlichen Kritik Jungs an Freuds Theorie zu folgen. Gerade die Geschichte der PA bietet die herausragende Möglichkeit auch tiefgehendere Schichten von Konflikten zu identifizieren. Die offizielle Kritik Jungs an Freud bekommt übrigens eine interessante Note, wenn E. Drewermann (Dogma, Angst & Symbolismus, 1993=Glaube in Feiheit. Bd. I) aus Jungs Autobiographie (Antwort auf Hiob, 1952) berichtet. daß er "seinerseits den Theologen vorwarf, sie verharmlosten in ihrer moralisierenden Art die enorme Hypothek an Triebregungen in der menschlichen Psyche, die mit den Forderungen der Kultur schwer oder gar nicht vereinbar schienen".

Wir können auch gerne über Jung debattieren.

Für den Fall, macht bitte einen historischen Streifzug mit Blick auf einen etwaigen emotionstheoretische Beitrag.

Was macht eigentlich Freud hier in einem Thread über Emotionsphilosophie? Aber bedürfte diese Frage einer Erläuterung? Näher läge gewiß, eher Lacan einzuführen, an dem hier in gewisser Andeutung Interesse bezeugt wurde, aber in seiner psychoanalytischen Philosophie ein mich interessierendes emotionsspezifisches Thema zu identifizieren, fiel mir bisher eher schwer. Soll ich berichten, falls ich mich schamthematisch in Lacan eingearbeitet haben sollte?
Aber nicht nur durch Lacan fanden Freuds Theorien Eingang in philosophische Diskurse; sofern man die kritische Theorie dazu rechnet - und sei es nur als Teildisziplin innerhalb der Sozialwissenschaften - so fanden seine Ansätze spätestens eine bedeutende Rezeption in den 1930er Jahren; später wurde die Psychoanalyse schließlich auch als hermeneutische Wissenschaft ausgewiesen. Mit Micha Brumlik ließe sich gar sagen, daß Freud der Theoretiker des letzten Jahrhunderts war, dessen Einfluß auch bedeutende anthropologische Implikationen hat. Das dürfte zur Rechtfertigung in einem Thread über die philosophische Behandlung eines Themas (Emotionen) zunächst hinreichen; aber tatsächlich ließe sich Freud schon allein mit dem Thema, für dessen Entdeckung er geradezu auch bekannt, sich längst in die Geschichte der Philosophie einreihen: Es geht dabei nicht, wie der eine oder andere fragend vermuten könnte, um die Sexualität, es geht ums Unbewußte, das schon Herbart, Schopenhauer und Nietzsche exploriert haben sollen.
 
@Muspilli:

Ich gehe die nächsten Tage auf deine Antworten ein. Bis dahin muss ich erst mal meine Enttäuschung über die völlig unverständliche Fehlentscheidung der Moderation verarbeiten, meinen IS-Thread abzuschließen.
 
Zurück
Oben