Da der Barnabasbrief ca. 100 entstanden sein soll, stimmt Deine Datierung.
Er soll aber, z.B. nach Meinung von Ferdinand Prostmeier und Martin Hengel, 130-132 entstanden sein.
Vieles spricht also dafür, dass die Gnosis und das rechtgläubige Christentum gleichzeitig entstanden sind und zwar vor den Paulusbriefen.
Das Wort "rechtgläubig" ist für mein Empfinden zu wertend, so als sei der gemeinte Glaube faktisch "recht" (bzw. eine richtige Auslegung) in Bezug auf eine hypothetische Urlehre. "Orthodox" ist neutraler. Gemeint ist letztlich der Katholizismus des 2. Jahrhunderts.
Eine "gleichzeitige" Entstehung halte ich für unwahrscheinlich, da die diversen Christusvorstellungen in der Orthodoxie und der Gnosis sowie die theologischen Mythologien so stark voneinander abweichen bis hin zum absoluten Gegensatz (fleischgeworden vs. doketisch), dass ein gemeinsamer Ursprung dieser Vorstellungen kaum denkbar ist (was ja Voraussetzung für Gleichzeitigkeit wäre). Nach orthodox-katholischer Ansicht hat sich die Gnosis aus der Orthodoxie entwickelt wie eine ins Phantastische ausufernde Wucherung. Die antithetische Position ist, dass umgekehrt die Orthodoxie aus gnostischen Ideen entstand, indem sie die - in der Gnosis übernatürlich konzipierte - Jesusgestalt vermenschlichte und historisierte und deren Lehre stark vereinfachte, vor allem unter dem Aspekt der Transformation des genuinen Ideals der Gnosis (unmittelbare Erkenntnis, d.h Wissen) in das orthodoxe (katholische) Ideal des "Glaubens". In der gnostischen Typologie entsprachen diese Gläubigen den "Psychikern", die abgegrenzt wurden von den Hylikern (Materialisten) und den Pneumatikern (eben jene unmittelbar Wissenden, zu denen die Gnostiker sich selbst rechneten).
Da die Quellenlage für das 1. Jahrhundert sowohl, was die Gnosis, als auch, was den Katholizismus betrifft, praktisch zero ist, kann man über die Chronologie nur spekulieren - das aber mit Argumenten.
Was das EvThom betrifft, ist dessen "gnostischer" Charakter in einem wesentlichen Punkt anzweifelbar, festzumachen an Logion 114:
Simon Petrus sagte zu ihnen: "Mariham soll von uns gehen. Denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig!" Jesus sagte: "Siehe, ich werde sie ziehen, damit ich sie männlich mache, damit auch sie zu einem lebendigen Geist werden, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, wenn sie sich männlich machen wird, wird in das Königreich der Himmel eingehen."
Ich will nicht behaupten, dass die Gnosis eine theologische Gleichstellung der Geschlechter zur Gänze realisiert habe, aber sooo misogyn war sie nun wirklich nicht.
Weibliche Gottheiten (gnostisch: Äonen), vor allem Barbelo, mit welcher das männliche "Ur-Eine" die anderen Götter zeugt (darunter auch den himmlischen Christus), spielen entscheidende Rollen in der gnostischen Mythologie. Damit harmoniert obiges Logion überhaupt nicht. Ich weise auch auf Markellina hin, eine wichtige gnostische Lehrerin um die Mitte des 2. Jh., und auf das "Evangelium der Maria", in welchem Maria Magdalena eine bedeutendere religiöse Rolle zukommt als den männlichen Jüngern.
Wie also schätzt du dieses Logion ein?
Zu den Paulusbriefen: Sie treten erst ab etwa 140 nachweisbar in die Geschichte ein.