Rollands ´ozeanisches Gefühl´ zielt - im Sinne einer Mystik ohne personale Gottheit - auf die Auflösung der Ich-Grenzen zugunsten eines Bewusstseins ohne Subjekt-Objekt-Dualismus. Freuds Rekonstruktion dieses Phänomens als Symptom eines primären Narzissmus ist nicht falsch, aber ein Paradebeispiel für Reduktionismus. Keiner hat diesen Reduktionismus besser analysiert und korrigiert hat als der amerikanische Philosoph Ken Wilber.
[…] Das ´ozeanische Gefühl´ kann sich Wilber zufolge also auf zwei Ebenen manifestieren: erstens auf der von Freud besprochenen, also der prä-personalen, und zweitens auf einer der trans-personalen spirituellen Ebenen, auf welcher sich das Bewusstsein zunehmend für die feinstoffliche Natur des Geistes öffnet, d.h. es öffnet die Ich-Grenzen und transzendiert den Subjekt-Objekt-Dualismus, welcher - gemäß der spirituellen Philosophie - nicht der Realität entspricht, sondern ein Bewusstseinsprodukt ist (wie es auch Kant so schön herausgestellt hat und von Hegel aufgegriffen wurde).
Ich vergaß gestern anzumerken, dass Freud - wie auch in diesem Wiki-Zitat erkennbar - historisch inkorrekt davon ausgeht, dass die Götterentstehung auf ´Vatersehnsucht´ basiert. Im vorletzten Beitrag schrieb ich:
Ursprünglich wurde (...) ausschließlich eine Muttergottheit bzw. Urmutter verehrt, d.h. die Fruchtbarkeit der Frau hatte eine quasi kosmische Dimension (von Vaterschaft hatten die Menschen damals höchstwahrscheinlich keine Kenntnis).
Auch wenn diese verbreitete These nicht voll verifizierbar ist, spricht anhand der archäologischen Befunde doch viel für sie, während Freuds Urvater-These unhaltbar ist. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die ersten Götter männlich waren. Anhand des prähistorischen archäologischen Materials, aber auch anhand von Rekonstruktionen, die das mythologische Material aus historischer Zeit erlaubt, sollte man vielmehr die ´Muttersehnsucht´ - genauer: die Verehrung der weiblichen Fruchtbarkeit - als primären Auslöser der Götterbildung in Betracht ziehen. Es brauchte dann noch Jahrzehntausende (!!), bis man, aufgrund der erst im Neolithikum erkannten männlichen Zeugungskraft, die ersten männlichen Götter ersann - und auch diese waren zunächst keine Ur-Väter, sondern Sohn und Gefährte der Muttergöttin.
Also die Kritik an den Freudschen Spekulation eines in Urzeit ermordeten Vaters teile ich durchaus, ebenso die Vorstellung einer „matriarchalen“ Alternativ-Urgeschichte, die freilich manchenteils ebenfalls als spekulativ angesehen werden kann, auch im Hinblick auf eine narzißmustheoretisch fundierbare Muttersehnsucht. Gar nicht folgen kann ich aber Wilbers strikter Trennung. Ich will transpersonale Erfahrung damit nicht in Abrede stellen, aber ich würde – sofern eine präpersonale Erfahrung zu akzeptieren wäre – grundsätzlich eine gewisse Mischung behaupten wollen. (zur Diskussion Deines mir sehr zusagenden Hinweises auf die idealistischen Philosophien, s. unten)
Eine rein psychologistische Deutung religiöser Motivation erfasst meines Erachtens nicht die reale Komplexität der Religionsentstehung - Stichwort "Schamanismus". Der (im Ganzen gesehen) wichtigste Impuls für die Ausbildung komplexerer religiöser Systeme ging nicht von simplen natur-animistischen Vorstellungen aus, sondern von nachweislich drogeninduzierten schamanistischen Bewusstseinsexperimenten. Die Entwicklung religiösen Denkens unterlag immer dem Einfluss und Wechselspiel prä- und transpersonaler Faktoren, das lässt sich vor allem bei den indischen Religionen sowie beim Zoroastrismus und der ägyptischen Religion nachweisen. Was die ägyptische Religion betrifft, wurde für dieses Phänomen der Ausdruck "religio duplex" geprägt. Auch in Indien entstanden religiöse Systeme, die auf der mythologischen Ebene das Volk ansprachen und auf der spirituellen Ebene die (geistige) Elite. Das setzte sich, wenn auch zum Ärger der jeweiligen Autoritäten, in den monotheistischen Systemen fort: Im Judentum, Christentum und Islam bildeten sich mystische Richtungen heraus, die sich dem trans-Aspekt des Religiösen widmeten statt dem volksnahen mythologischen, also anthropomorphen prä-Aspekt.
Deine Kritik erscheint meiner Andeutung einer psychoanalytischen Kultutheorie, die ich übrigens im impliziten Anschluß an Herbert Marcuses Konzept der „repressiven Entsublimierung“ formulierte, nicht ganz gerecht zu werden, die ich aber auch nicht intensiv verteidigen wollte, weil sie im Grunde in die Gegenwartsgeschichte hineinreicht; aber erstens unterstellst Du meiner Psychologisierung einen phylogenetischen Naturanimismus, obwohl dieser durchaus einen Aspekt darstellen dürfte; zweitens sprach ich im entsprechenden Zusammenhang gar nicht von der Entstehung religiöser Systeme. Davon abgesehen, unterstütze ich aber durchaus deine dialektische Entstehung solcher religiöser Komplexe. Ich würde nur den Schamanismus nicht nur auf substanzinduzierte Bewußtseinserfahrungen zurückführen, da es auch alternative Modelle zur Bewußtseinsmodifikation gibt, wie z. B. ekstatischer Tanz oder psychotische Dispositionen und nicht zuletzt vielleicht auch Meditationstechniken. (Daß ich die Begrifflichkeiten „prä- und trans-Aspekt“ nicht vollends teile, habe ich schon oben angesprochen).
Zu deiner Formulierung "Glücksversprechen (Spiritualismus)": ´Spiritualismus´ verbinde ich eher mit Okkultismus im Sinne von Geisterbeschwörung, was mit ´Spiritualität´ nichts zu tun hat, bei welcher es auch nicht um ein ´Glücksversprechen´ geht, denn dieser Ausdruck impliziert eine (nach Glück strebende) Ichlichkeit, welche gemäß echter Spiritualität rein imaginär ist. In dem Maße, in dem ein Ich nach ´Glück´ strebt, klebt es an dualistischen, also un-spirituellen Denkmustern. Das eigentliche Ziel ist nicht Glück, sondern Erkenntnis.
Du schreibst oben: "das Göttliche (Transzendentale)". ´Transzendental´ als Synonym von ´transzendent´ ist vor-kantische, nämlich scholastische Terminologie. Seit Kants "Kritik der reinen Vernunft" ist ´transzendental´ gleichbedeutend mit ´Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis´, was mit ´transzendent´ (den Horizont der Sinneswahrnehmung überschreitend) nichts zu tun hat. ´Transzendental´ sind laut Kant die Verstandeskategorien und die Anschauungsformen Raum und Zeit.
Deine Unterscheidung von Spiritualismus und Spiritualität gefällt mir. Aber ich sehe nicht ein, an einem vorgeblich nicht-egologischen Begriff der Erkenntnis festzuhalten, der einem emotionalen Phänomen entgegengestellt wird. In diesem Zusammenhang möchte ich denn auch Deinen terminologischen Hinweis diskutieren und akzeptiere ausdrücklich Deine Korrektur; so rezipiert Wikipedia mutmaßlich in Deinem Sinne: „Was jenseits dieser Erkenntnisfähigkeit liegt, das Transzendente, kann nicht Gegenstand des Wissens, sondern nur des Glaubens sein.“ (
Transzendenz ? Wikipedia) Ich sehe das als Argument für meine Kritik an dem von Dir favorisierten Ken Wilber, denn Glaube dürfte sich als ein fundamentaler Bestandteil von Religiösität herausstellen lassen.
Allerdings sehe ich mit der Berufung auf die Transzendentalphilosophie ein anderes Problem: Nämlich das der Konzeption einer Vernunftreligion. Zunächst erlaube ich mir, da Du (weiter oben zitiert) selbst auch Hegel mit ins Spiel bringst, auf einen älteren Beitrag (
http://www.geschichtsforum.de/621083-post7.html) von mir hinzuweisen; dort zitiere ich Ottfried Höffe, daß der Naturbegriff in Kants Geschichtsphilosophie dem entspreche, „was die vorkantische Philosophie Vorsehung, Hegel in seiner Geschichtsphilosophie aber den Weltgeist nennt“ (
Immanuel Kant - Otfried Höffe - Google Books, S.252) und ich fügte derweil hinzu daß „mir bisher gar nicht klar [war], wie konsequent Hegel tatsächlich auf Kant zurück geht.“ Tatsächlich bildete meiner Ansicht nach Hegel seine Philosophie auf einem von Kant gelegten Fundament einer Vernunftreligion aus. Allerdings gibt es dabei eine gewisse Aporie, die Kant bis zum Ende seines Lebens nicht gelöst haben könnte:
die Natur [habe] schließlich gewollt, „daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat.“ [Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht]
Diese Zweckhaftigkeit der Natur ist im Kantischen System aber eine regulative Idee, wie die Gottevorstellung selbst. Hegel sprach daher später von der „List der Vernunft“, um die Verwirklichung eines solchen Anspruchs zu rechtfertigen. Ich denke, keiner hat diese Aporie zuletzt so deutlich kritisiert wie Theodor W. Adorno; um nur ein Zitat aus seiner Negativen Dialektik [1966] zu bringen, das gewissermaßen als Gegenstück zum (letzten) Kantzitat stehen kann:
„Nicht bloß hat Vernunft genetisch aus der Triebenergie als deren Differenzierung sich entwickelt: ohne jedes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung von den passiven, »rezeptiven« Momenten des Subjekts, wäre dem eigenen Sinn nach kein Denken.“ (Ffm: Suhrkamp tb, 1982/3. Aufl., S.229)
Vielleicht hat Schleiermacher (Über die Religionen. 1799) aber auch die Probleme einer Vernunftreligion schon gesehen, indem er dem gegenüber „die Religion insgesamt als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« bestimmte“ (zit. nach Drewermann, Glaube in Freiheit Bd. I: 1993, S.506 ), als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« oder als »Anschauung des Unendlichen im Endlichen, des Ewigen im Zeitlichen«: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen“ (ebd., S.674, Anm.10). Und damit wäre ich wieder bei der Gefühlsgrundlage von Religiösität angelangt, die ich hier im Anschluß kurz als "radikale Heteronomie" (Richard Wollheim) ansprechen möchte, die ich psychoanalytisch auf die früheste Kindheit zurückführen wage, eine unbedingte Angewiesenheit auf einen Anderen.
Als fundamentalste emotionale Basis der Religionsentstehung sehe ich nicht ein "Urvertrauen", sondern ganz im Gegenteil die Angst. Die Angst, nicht ausreichend Wild zu erlegen, und die Angst, von den ´Geistern´ der getöteten Tiere heimgesucht zu werden, führte zu magischen Praktiken, die durch Höhlenmalereien rekonstruierbar sind. Die Angst vor dem ungewissen Schicksal im ´Jenseits´ führte schon vor über 100.000 Jahren zu vorsorglichen Grabbeigaben von Blüten psychoaktiver Pflanzen. Die Angst, nicht wiedergeboren zu werden, führte zu einer Vergöttlichung des Weiblichen im allgemeinen und der Vulva im besonderen. Die ersten ´Tempel´ waren mit Menstruationsblut ausgemalte Höhlen, die dem Kult der Urmutter dienten. Ich sehe bei all dem kein "Vertrauen" am Werk. Vielmehr waren komplizierte, z.T. Blutopfer beinhaltende Riten nötig, um das Erwünschte, vor allem die Fruchtbarkeit der Frauen, zu sichern. Wer solche Riten (und überhaupt Riten) veranstaltet, vertraut nicht in das Erwünschte, sondern fürchtet sein Ausbleiben.
Was mich hierbei überrascht ist, daß Du hier in gewisser Weise eine bestimmte Emotion zur Religionsbasis machst, die in hohem Maße – wenn auch von einer anderen Seite her - mit denjenigen von Eugen Drewermann übereinstimmt, wenn ich auch wieder einwenden muß: Ich sprach nicht von der emotionalen Basis der Religionsentstehung. Meine These war vornehmlich, daß religiöse Phänomene etwas mit Emotionen zu tun haben, wenn ich auch hinsichtlich des hinlänglich diskutierten „ozeanischen Gefühls“ auch von „Urvertrauen“ sprach. Mit Drewermann wären im übrigen Angst vs. Vertrauen eben diejenigen polaren Themen die wesentlich für den Menschen wären. Beide müssen jedenfalls einander nicht zwangsläufig ausschließen. Im Rückgriff auf meine Idee der Heteronomie können aber individualgeschichtlich auch noch andere Emotionen bedeutsam werden.
Darüber hinaus sehe ich in der Kombination von Mutter, Menstruationsblut und Angst eher problematische Geschlechterzuschreibungen, quasi als Ausdruck eines männlichen „Gebährneids“ (Bettelheim), um es metaphorisch auszudrücken. Aber ich muß auch zugebe, wie selbstverständlich Du solche Thesen lancierst, gefällt mir und insbesondere zum Zusammenhang von Wiedergeburtsglaube und Vulvaverhehrung einerseits, andererseits zum Hinweis auf die nachweisliche Grabbeigabe von psychoaktiven Pflanzen (deren Beleg für die Angstthese mir übrigens nicht einleuchtet) würde mich deine Literatur sehr interessieren, wenn die Liste nicht zu lang wird; denn im übrigen: Dieser Thread, das möchte ich wenigstens auch noch anbringen, befaßt sich eben nicht mit der Frage nach der Entstehung von Religion, da gibt es schon einige andere (z. B.
http://www.geschichtsforum.de/f78/religionsursprung-44329/), wie Dir im Grunde auch bekannt ist.
Die von Dir gezogenen Bezüge zwischen Stoa und indischen Lehre finde ich übrigen auch hoch interessant, so daß ich mich freue, einen „Vergleich“ angeregt zu haben! Und schließlich, was das Qualia Thema betrifft resp. die Gottesgen-Frage; behalte ich mir erst einmal eine Antwort.