Historiker als historische Subjekte: Mommsen, Fischer....

Laut Aufzeichnungen von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1903 – Zitat:

„Die erste und Grundidee (des Kaisers sei es), die Weltstellung Englands zu brechen. Deshalb, das ist des Kaisers feste Überzeugung, brauchen wir eine Flotte, und um sie zu bauen, eine große Menge Geld. …“

Woher stammt das Zitat von Bethmann?

Bisher finde ich das nur im Tagebuch der Baronin Spitzemberg (das ist jedenfalls keine "Aufzeichnung von Bethmann Hollweg":

Danach täten die dem Kaiser Unrecht, die seine Politik eine schwankende nannten. Seine erste und Grundidee sei, Englands Weltstellung zugunsten von Deutschland zu brechen; dazu bedarf es einer Flotte, um diese zu haben, vielen Geldes, und da nur ein reiches Land dies geben kann, soll Deutschland reich werden; daher die Bevorzugung der Industrie und die Wut auf die Landwirte, die um nicht zugrunde gehen, sich gegen diese Politik wehren.

Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüler
 
Der Eintrag in dem Tagebuch ist vom 14.März 1903.

Die Baronin frühstückte mit Kurt Kessel. Der "erzählte über so mancherlei; Vorkommnisse aus der inneren Verwaltung und dem Parteileben, was sehr betrübend lautet, aber leider wahr sein wird, da er es zum größten Teile aus Theobald Bethmanns Munde hat".

Die Baronin hat also "nur" von Kessel gehört, das Bethmann etwas gesagt haben soll. Darüber hinaus war Bethmann zu jener Zeit Oberpräsident der Provinz Brandenburg und es ist fraglich, ob er in dieser amtlichen Tätigkeit engeren Kontakt zum Kaiser hatte.

Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, S.427
 
Fischers maßgebliche These war nicht, dass Deutschland am 1. Weltkrieg eine Mit- sondern dass es die Hauptverantwortung dafür trage, bzw. ihm die "Hauptschuld" zufiele, woraus die populäre Rezeption dann später die "Alleinschuld" machte, die Fischer in dieser Form nicht postuliert hatte.
Danke. Den Eindruck hab ich auch.
 
Fischer ist sehr lesenswert. (ich hab grad den "Krieg der Illusionen" bekommen.)

@Turgot: möchte ich empfehlen. (beide Bücher, "Griff nach der Weltmacht" und "Krieg der Illusionen")
..eine Einsteigerlektüre ist es nicht. Es treten so viele interessante Gedanken und Verbindungen auf der Bühne des DR der Vorkriegszeit auf, sorgfältig recherchiert und anständig distanziert.

Dass der Fischer fast nur diese spezielle Bühne beleuchtet, mag dazu beigetragen haben die Hauptschuld des DR postulieren.
(Aber Geschichte ist, .... wenn es noch schlimmer war als vermutet. )
 
Ein Einsteiger bin ich in diesem Thema ja nun wirklich nicht.
Beide Fischerbände stehen bei mir im Regal. Fischer hat sich sehr bemüht die Hauptschuld am Weltkrieg Deutschland zuzuweisen und diese These teile ich nicht.
Fischer hat sein Fokus auch lediglich auf Deutschland gerichtet; es gab aber noch in der Julikrise und den Jahren davor noch ein paar Mitspieler auf der Bühne.
 
Ein Einsteiger bin ich in diesem Thema ja nun wirklich nicht.
Sicher nicht..:D Ich dachte dadurch Dich locken zu können den Fischer zu lesen, dass es eben keine Einsteigerlektüre sei.
Beide Fischerbände stehen bei mir im Regal.
Hätte ich mir eigentlich denken können.
Fischer hat sein Fokus auch lediglich auf Deutschland gerichtet; ..
Ja, das ist der Schwerpunkt seiner Untersuchung.

Zum Thema des Fischers als "historisches Subjekt" eine Anmerkung.
Es wohl doch so, dass der "Griff nach der Weltmacht" bereits die Fischer-Kontroverse entstehen ließ.
In den ersten zwei Kapiteln bereits weist er dem Verhalten des DR die Hauptursache des Krieges zu. Er merkt dazu an, dass dazu eine weitere Begründung erforderlich sei. Diese liefert er dann mit "Krieg der Illusionen", wie er im Vorwort dieses Folgewerks darlegt.
Da scheint bereits eine Fischer-Kontroverse zu existieren.

(.. wie auch immer; auf die sorgfältige Arbeit Fischers kann man schwer verzichten und kaum ein Fach-Buch nach ihm zum Thema, das Fischer nicht zitiert. Auch wenn ein Fazit seiner Analyse als widerlegt gesehen werden muss.)
 
Fischers Arbeiten sind ohne Frage verdienstvoll. Er hat mit dem Märchen der deutschen Unschuld, wie es gern nach dem Krieg von interessierter Seite behauptet wurde, aufgeräumt.
 
"Historiker als historische Subjekte" und in einem Atemzug Mommsen und Fischer... was haben beide samt ihrer jeweiligen Zeitumstände gemeinsam?
Dazu habe schon in #3 und #6 was gesagt; Mommsen sah im Caesar einen großen Feldherrn und Politiker, der das Zeug hatte, das Volk zu einen. Das ist später erst seinem Großneffen Octavian gelungen, der ob seiner klugen Politik als Kaiser vom Senat immer mehr Macht übertragen bekam, die viele seiner Nachfolger zu ihrem eigenen Vorteil nutzten – das Übliche halt in einer Diktatur.

Und zu Fischer habe ich schon mehr gesagt, als es nötig war: Er wagte es, die Ursache des I. Weltkriegs anders zu sehen als Historiker vor ihm. Dafür wurde er zuerst als Vaterlandsverräter geschimpft, dann geehrt und neuerdings wieder kritisch gesehen, wie so vieles, was in der Aufbruchzeit der 1960er und 1970er Jahren geschaffen wurde – die Reaktionäre sind wieder am Werk, gemäß des Wortes eines gelernten Historikers und späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl von der geistig-moralischen Wende, die angeblich nötig sei, um diese Republik "wieder" auf Vordermann zu bringen. :D

Er hielt dem damaligen Bundeskanzler Schmitt „Kapitulation vor dem Zeitgeist“ vor, um einen neuen alten Zeitgeist zu etablieren: Den des 1950er Jahre oder gar des 19. Jahrhunderts, ergänzt um das von Kohl eingeführte Privatfernsehen, um das Volk durch 24 Stunden Unterhaltung vom Nachdenken über Politik abzuhalten. Ist es denn ein Wunder, dass die Generationen, die damals wie heute mit Shows, Galas, Lotterien, Glücksspielen, Ratespielen, etc. großgeworden sind bzw. werden, jetzt zunehmend die Rechte wählen, weil diese sie mit Politik, aller Erfahrung nach, in Ruhe lassen werden?
 
Ist es denn ein Wunder, dass die Generationen, die damals wie heute mit Shows, Galas, Lotterien, Glücksspielen, Ratespielen, etc. großgeworden sind bzw. werden, jetzt zunehmend die Rechte wählen, weil diese sie mit Politik, aller Erfahrung nach, in Ruhe lassen werden?
...Aha... -- es würde mich nicht wundern, wenn du den Umstand, dass Bananen krumm sind, auch noch dir unliebsamen Historikern samt Zeitgeist anlasten würdest... Aber lass dich nicht beirren: ich lese dergleichen mit Vergnügen :D

Inwiefern "Birne" als Historiker wirkmächtig war, wirst du sicherlich noch nachweisen (und vermutlich verblasst dagegen "Birnes" Wirkung in seinem kleinen politischen Nebenjob)
 
Er hielt dem damaligen Bundeskanzler Schmitt „Kapitulation vor dem Zeitgeist“ vor, um einen neuen alten Zeitgeist zu etablieren
Joa, treffender kann man eigentlich nicht beschreiben, was du in diesem Forum in einer Tour tust, bezeichnenderweise ohne es selbst zu bemerken:

Dafür wurde er zuerst als Vaterlandsverräter geschimpft, dann geehrt und neuerdings wieder kritisch gesehen, wie so vieles, was in der Aufbruchzeit der 1960er und 1970er Jahren geschaffen wurde – die Reaktionäre sind wieder am Werk, gemäß des Wortes eines gelernten Historikers und späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl von der geistig-moralischen Wende, die angeblich nötig sei, um diese Republik "wieder" auf Vordermann zu bringen.

In dem Universum in dem ich lebe hat seit der sagenumwobenen Umbruchszeit der 1960er und 1970er Jahre in mancherlei Hinsicht die Zivilisation Einzug gehalten.

Wenn Dinge, wie die Abschaffung von Systemen, die ihre Bevölkerung hinter Mauern, Minen und Selbstschussanlagen einsperrten, die Abschaffung der Möglichkeit innerhalb der Ehe legal oder wenigstens straffrei zu vergewaltigen, die Abschaffung der Praxis jeden der sich unliebsam äußert ohne weiteres ins Gefängnis werfen zu könen (DDR) die Abschaffung strafrechtlicher Belangung homosexueller Handlungen, die Abschaffnung von Berufsverboten auf Grund politischer Abweichung etc. etc. das Werk von Reaktionären sind, dann können die Reaktionäre nicht ganz so schlimm sein.

Und offengesagt, wenn unter diesen Umständen jemand Elogen auf die Zustäde der 1960er und 1970er Jahre ausbringt und was danach kam (wenn du schon zu politisieren beliebst) verteufelt, als wenn es der Leibhaftige wäre dann sollte sich dieser Jemand vielleicht mal überlegen, was er damit insinnuiert und ob er, der anderen, die aus guten Grüden die eigene Geschichtsdeutung nicht teilen vorwirft "Reaktionäre" zu sein, nicht vielleicht selbst derjenige ist, der reaktionäre Ansichten protégiert und archaische Zustände glorifiziert.

So, tut mir für die übrigen Diskussionsteilnehmer leid das Politisieren, aber die Replik musste an dieser Stelle einfach sein.

Damit in diesem Beitrag auch noch ein bisschen was historisches vorkommt:

Dazu habe schon in #3 und #6 was gesagt; Mommsen sah im Caesar einen großen Feldherrn und Politiker, der das Zeug hatte, das Volk zu einen. Das ist später erst seinem Großneffen Octavian gelungen, der ob seiner klugen Politik als Kaiser vom Senat immer mehr Macht übertragen bekam, die viele seiner Nachfolger zu ihrem eigenen Vorteil nutzten – das Übliche halt in einer Diktatur.

Ich verstehe ja nicht allzu viel, von der Antike, aber so ein grobes bewusstsein, dass sich Octavian seine Alleinherrschaft im römischen Reich letztendlich gegen Marcus Antonius blutig erkämpfte und sich in seinen Methoden darin nicht so sehr von Caesar unterschied ist schon vorhanden.
Octavian bekam nicht auf Grund irgendeiner klugen Politik immer mehr Macht vom Senat übertragen, er nahm sich die Macht kraft des Umstands, dass sein Rivale Marcus Antonius den Machtkampf gegenn ihn verloren hatte und kraft des Umstands, dass diejenigen Senatoren bzw. senatorischen Familien, die sich gegen Caesar erhoben hatten in Teilen der Vergeltung Octavians und Antoniu's zum Ofer gefallen waren und in Teilen so sie sich retten und Begnadigung erhalten konnten, nicht mehr in der Position waren sich allzu weit nach vorn wagen zu können ohne den eigenen Hals zu riskieren.

Welches Volk soll Octavian geeint haben? Das ist eine reichlich unsinnige Behauptung, Octavian hat das römische Reich pazifiziert, aber nicht irgendein Volk geeint und diese "Pazifikation" erfolgte in nicht geringenn Teilen durch das Schwert.



Ich bitte mich jetzt zu entschuldigen, da ich mich heute noch nicht von Helmuth Kohls Privatfernsehen habe einlullen lassen und dass deswegen unbedingt noch nachholen muss, weil ich sonst wieder zu viel denke und das meinem schwachenn Grips nicht gut tut. :D
 
Und zu Fischer habe ich schon mehr gesagt, als es nötig war:
Vor allem hast Du mal wieder mehr behauptet, als Du tatsächlich weißt.

Die These, Deutschland sei in den I. Weltkrieg hineingeschlittert, ist ein Märchen, denn die Vorbereitungen dazu fingen spätestens 1902 mit der Flottenbau an.
Kannst du das irgendwie belegen?
Das habe ich bereits getan – Zitat:
Laut Aufzeichnungen von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1903 – Zitat:

Die erste und Grundidee (des Kaisers sei es), die Weltstellung Englands zu brechen. Deshalb, das ist des Kaisers feste Überzeugung, brauchen wir eine Flotte, und um sie zu bauen, eine große Menge Geld. …"

Woher stammt das Zitat von Bethmann?

Auf diese Frage musstest Du dann passen. Du hast aus der Druckfassung eines Vortrags zitiert, bei dem auf Quellenbelege verzichtet wird. Es gibt dort nur eine einzige Fußnote, in der heißt es: "Quellen- und Literaturangaben wird eine ausführlichere Veröffentlichung bringen."

Ich habe den Quellenbeleg dann an anderer Stelle gefunden: Fritz Fischer, Hitler war kein Betriebsunfall, München 1992, S. 32.
Was Fischer hier als Bethmann-Hollweg-Zitat verkauft, ist, wie @Turgot bereits referiert hat, in Wirklichkeit ein Zitat aus dem Tagebuch der Baronin von Spitzemberg, die hier in eigenen Worten den Inhalt einer Frühstücksplauderei mit Kurt von Kessel wiedergibt, der ihr (natürlich wiederum in seinem Worten) allerhand erzählt hat, was er "zum größten Teile aus Theobald Bethmanns Munde" erfahren haben will. Nun hat Fischer immerhin seinen Quellenbeleg nachgereicht; man kann daher nachprüfen, dass es sich um ein Zitat aus dritter Hand handelt, und man kann dann auch die Meinung vertreten, dass Fischer sich auf recht dünnem Eis bewegt, wenn er auf so einem "Zitat" seine Argumentation aufbaut bzw. sogar auf einer bestimmten Formulierung herumreitet.

Deine eigene Erfindung ist die Fake-Quelle "Aufzeichnungen von Bethmann Hollweg", die ist bei Fischer nicht zu finden.
 
Nun hat Fischer immerhin seinen Quellenbeleg nachgereicht; man kann daher nachprüfen, dass es sich um ein Zitat aus dritter Hand handelt, und man kann dann auch die Meinung vertreten, dass Fischer sich auf recht dünnem Eis bewegt, wenn er auf so einem "Zitat" seine Argumentation aufbaut bzw. sogar auf einer bestimmten Formulierung herumreitet.

Da Bethmann Hollweg ja seinerseits den Kaiser zitiert bzw. paraphrasiert ist es ja im Grunde genommen sogar ein Zitat aus vierter Hand.

Bethmann Hollweg zitiert den Kaiser, von Kessel zitiert Bethmann Hollweg, die Baronin zitiert von Kessel und Fischer zitiert die Baronin.
 
Dein letzter Halbsatz widerspricht dem, was du in den ersten 2 zitierten Sätzen gesagt hast. Um es ganz deutlich zu sagen: Zu seiner Zeit gab es Grenzen des Sagbaren, und als er diese Grenze überschritten hatte, war das ein Tabubruch und er ein Vaterlandsverräter. Siehst du das anders?

Den Teil würde ich gannz gerne kurz einmal aufgreifen.

Ich würde dir widersprechen wollen. Der Umstand, dass sich Fischers Postulate, auch die Streitbaren über sehr schnell festsetzen konnten und über eine lange Zeit den Diskurs mindestens in Deutschland dominierten, belegen eigentlich, das ein großer Teil der Öffentlichkeit wie der akademischen Welt sehr wohl bereit war sich das anzunehmen.

Ich würde hier noch weitergehen wollen und behaupten, dass was Fischer seinerzeit schrieb damals wesentlich weniger die Grenzen des Sagbaren strapazierte, als es das heute tun würde, schon deswegen, weil man bei aller kritischen Haltung gegenüber der deutschen Politik und den Strukturen des deutschen Reiches nicht übersehen darf, dass die Überlegungen zu einem nicht geringen Teil auf einem Mindset aufbauen, dass de facto aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammte.

Nimm z.B. die ganze Vorstellung von der "zu spät gekommenen Großmacht/Kolonialmacht", die ihren kolonialen Besitzstand nur auf Kosten anderer Kolonialmächte ausbauen konnte* und daher zum potentiell kriegerischen Unruhestifter Europas avanciert sei.**
Die ganze Denkfigur von der bereits verteilten Welt, in die der Neuling nur mit Gewalt eindringen und sich ein Stück davon holen könne und das Werturteil, dass davon eine besondere Gefahr für die europäische Ordnung ausgegangen und dieses Bestreben hochproblematisch gewesenn sei, kann im Prinzip nur jemand präsentieren, der selbst Imperialist reinsten Wassers ist, da er, wenn er von der "verteilten Welt", in die der spätere Akteur "einzudringen sucht" letztedlich nur dann reden kann, wenn er die vorangegangene koloniale Landnnahme für legitim hält.

Damit müsste er im Prinzip die Vorstellung haben, dass der Akt der Kolonialmächte den kolonisierten Völkern ihr Land zu nehmen, vollkommen legitim sei, während ein Griff nach deren in dieser Sicht legitimen Besitz*** mehr oder weniger die Ursünde darstellte, die am Beginn des Zusammenbruchs der europäischen Zivilisaton stand.


Auch wenn es nicht explizit ausgedrückt wird, Denkfiguren wie diejenige der "Verteilten Welt" und der "zu spät gekommenen Großmacht" insinuieren das im Umkehrschluss.
Das konnte man vielleicht in einer Zeit, in der die kritische Kolonialforschung noch nicht besonders wirkmächtig war, es noch keine Diskurse über "Orientalismus", Kolonialgesichte aus Sicht der Kolonisierten etc. etc. gab und dafür kein Bewusstsein vorlag, vielleicht so postulieren und sagen.
Würde jemand derlei heute postulieren, würde ihm allein deswegen die ganze Zunft der Imperialismusforschung schon deswegen (und mit Recht) auf's Dach steigen, weil es im Prinzip die den Kolonialismus rechtfertigende Mythenbildung unterstreicht, dass die Kolonien um die es potentiell hätte gehen können, vor der kolonialen Landnahme mehr oder weniger "terra nullius" gewesen sein und sie sich damit im rechtmäßigen Besitzstand der kolonialen Mächte befunden hätten.


Dann kann man in der Sache weitergehen. Z.B. könnte man sich dann das Postulat der zu spät gekommenen Macht, die auf die verteilte Welt trifft einmal ansehen einmal näher ansehen und sich überlegen, ob dieses Postulat möglicherweise auf andere Akteure zutreffen könnte.
Würde man das tun und sich das Handeln der verschiedenen imperialen Akteure anschauen, würde man z.B. feststellen, dass die USA im 19. Jahrhundert genau das betrieben haben, was der deutschen Seite hier vorgehalten wurde, nämlich sich Kolonien durch Krieg mit anderen Kolonialmächten anzueignen, namentlich dadurch, dass die USA im Prinzip nach dem spanisch-amerikanischen Krieg bis auf Kuba und die an Deutschland abgetretennen Pazifikinseln das spanische Kolonialreich in der Karibik und auf den Philippinen übernahm.

Nun, müsste man jetzt an dieser Stelle überlegen, wenn das Streben nach einem Weltreich auf Kosten anderer Kolonialmächte ein entscheidender Faktor für die Destabilisierung des europäischen oder des Weltsystems darstellte, wäre zu hinterfragen, warum man dann Deutschland, dem man nicht nachweisen kann, dass es das tatsächlich vor dem Krieg betrieben habe, zum systemgefährdenden Unruhestifter erklärt und nicht etwa die USA, die das, was Deutschland in diesem Postulat nur vorgeworfen wird, tatsächlich umsetzten?

Könnte man letztendlich nur dann begründen, wenn man in irgendeiner Weise dem deutschen Handeln eine besondere außerordentliche Qualität beimessen könnte, die man bei anderen Akteuren, die genau so handelten aber nie so bewertet wurden, nicht finden kann.
Mit anderen Worten, es kann nur funktionieren, wenn man irgendeine Form von "Sonderweg" oder "Sonderzustand" konstruiert (oder moderner ausgedrückt in beachtlichem Maße "othering" betreibt).

Das erste Problem mit "Sonderwegen" ist natürlich, dass deren Postulat gleichzeitig auch das Postulat "normaler" Entwicklungen voraussetzt.
Schaut man sich an, in welche Richtungen im Hinblick auf angebliche strukturelle Besonderheiten des Deutschen Reiches so argumentiert wurde, kann man darüber in Teilen nur den Kopf schütteln.
Angefangen bei Postulaten, wie einem Defizit an Demokratie und eines extremen Obrigkeitsstaates in Deutschland gegenüber Teilen Westeuropa oder den Vereinigten Staaten als Vergleichsobjekte, die nur dann funktionieren, wenn man die koloniale Sphäre und diverse andere Dinge, wie z.B. die strukturelle Entrechtung der fabigen Bevölkerung in den USA bis in die 1960er Jahre hinein völlig außer acht lässt und den Vergleich mit anderen Teilen Westeuropas, z.B. auf der iberischen Halbinsel oder im Hinblick auf Russland überhaupt nicht bemüht.

Schaut man sich die Strukturen an, wird man in Deutschland zwar Dinge finden, die in der Tat sehr problematisch waren, wie etwa eine ungesunde Autonomie der Armee vom politischen Betrieb und eine mangelhafte/nicht vorhandene Kontrolle der zivilen Reichsleitung über die Arbeit und Planung der höheren Offiziere, aber nichts, was im Hinblick auf Deutschland einzigartig gewesen wäre (in Russland mischte das Militär in der Julikrise in ähnlich gefährlicher Weise mit, in dem es Druck auf den zaren in Richtung Mobilmachung ausübte).

Solche Sonderwegskonstruktionen, die sich im Prinzip bei umfassenden transnationalen Vergleichen nicht halten lassen (nicht etwa weil es keine Besonderheiten gäbe, sonder viel mehr, weil sich der gleichsam mit postulierte Normalweg nicht ohne reichliche Kunstgriffe ausmachen lässt), können im Prinzip nur dann verfangen, wenn:

1. Das Publikum bereit ist, irgendwelche Entwicklungen als "Normalzustand" zu akzeptieren, wie es in diversen ideologisch weit gefächerten Entwicklungstheorien vorkommt, die im 19. Jahrhudert populär wurden.
2. Das Publikum gewohnt ist, gleichzeitig die Vorstellung gesonderter Eigenschaften, die die eigene Gruppe vom Gegenüber abheben unhinterfragt zu akzeptieren (insofern ist eine rassistische Vorprägung dem Sonderweg-Denken sicherlich zuträglich gewesen).


Ich sehe da bei Fischer und einigen nachfolgern in dieser Richtung einiges, was man so heute nicht mehr erfolgreich postulieren könnte, weil die entsprechende Vorprägung des Publikums fehlt und sich Vorstellungswelten völlig verlagert haben.
Vom dem her, vielleicht war einiges, was Fischer unterstellte zu seiner Zeit nicht leicht vermittelbar. Einiges was er an Versatzstücken implizierte, war allerdings nur und ausschließlich in seiner Zeit so vermittelbar und wäre 50 Jahre später auf keine offenen Ohren mehr gestoßen, dafür aber auf berechtigte Entrüstung.



Im Hinblick auf die eigentliche Diskussion des Fadens wäre es vielleicht nicht uninteressant einmal zu hinterfragen, was uns eigentlich der Umstand, dass dass von Fischer in der populären Diskussion im Grunde fast nur noch das Hauptschuld-Postulat übriggeblieben ist (also der inhaltlich am wenigsten spannende Teil seines Wirkens) über Historiker als historische Subjekte sagt.



















*unabhängig davon, dass das inhaltlich Kokolores ist, siehe Verhandlungen mit den Briten über die portugiesischen Kolonien .
**unabhängig davon, ob diese Behautung besonders plausibel ist.
***unabhängig davon ob der in dieser Form stattgefunden hat.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bethmann Hollweg zitiert den Kaiser, von Kessel zitiert Bethmann Hollweg, die Baronin zitiert von Kessel und Fischer zitiert die Baronin.

Und das in jeweils verschiedenem Wortlaut, einmal wörtlich, einmal "sinngemäß":

Die erste und Grundidee (des Kaisers sei es), die Weltstellung Englands zu brechen. Deshalb, das ist des Kaisers feste Überzeugung, brauchen wir eine Flotte, und um sie zu bauen, eine große Menge Geld. Da nur ein reiches Land dies beschaffen kann, muß Deutschland reich werden; von daher die Ermutigung, die der Industrie gegeben wird, und der Ärger der Landwirte, die gegen diese Politik protestieren, um sich vom Ruin zu retten.

Seine erste und Grundidee sei, Englands Weltstellung zugunsten von Deutschland zu brechen; dazu bedarf es einer Flotte, um sie zu haben, vielen Geldes, und da nur ein reiches Land dies geben kann, soll Deutschland reich werden; daher die Bevorzugung der Industrie und die Wut auf die Landwirte, die, um nicht zu Grunde zu gehen, sich gegen diese Politik wehren.

Dabei gibt es eine Reihe von Bedeutungsverschiebungen, teilweise in Nuancen, teilweise sinnentstellender Art: Der Ärger der Landwirte ist doch etwas ganz anderes als die kaiserliche Wut auf die Landwirte.
 
Hans Filbinger erhielt das Großkreuz 1970, um nur mal einen zu nennen. Auch nach 1968 galten Personen mit problematischen Biographien mitunter noch als ehrbar. Aber wir sollten uns hier nicht auf einem Nebenkriegsschauplatz verzetteln, im Grunde stimme ich Dir ja zu.

Filbinger war 1970 ja auch noch unbelastet, er war seit 1937 in der Partei, er war mal Vorsitzender des Nationalsozialistischen Studentenbundes, es gab hin und wieder ein wissendes Raunen, bei Leuten, die ihn aus dieser Zeit kannten, aber Filbinger war nicht belastet, er war in Baden Württemberg durchaus so etwas wie ein Landesvater, ähnlich wie Strauß und er genoss in Baden Württemberg durchaus großes Ansehen und er fuhr satte Wahlerfolge für die CDU ein.

Seine Tätigkeit als Marine-Richter kam erst 1978 heraus, und Filbinger hat durch sein Verhalten und seine Äußerungen dazu beigetragen, dass die Filbinger-Affäre enorm große Wellen schlug- und Filbinger war dann nicht mehr haltbar, er musste zurücktreten.

Wenn Hans Filbinger damals zurückgetreten wäre, wenn er Reue für die Todesurteile, die er verhängt hatte gezeigt hätte und wenn er ein paar bedauernde Worte für die Hinterbliebenen gefunden, wenn er die noch lebende Mutter eines Verurteilten besucht hätte- dann hätte vermutlich die große Mehrheit der Bewohner Baden-Württembergs Filbinger verziehen.

Filbinger aber berief sich ausschließlich auf das positive Recht, sagte, was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein." Selbst wenn die Urteile nach Kriegsrecht formaljuristisch nicht zu beanstanden waren, hat Filbinger damit nicht nur seine politische Karriere, sondern auch seine moralische Integrität. Rolf Hochhut nannte ihn einen "furchtbaren Juristen", und es gab eine Gerichtsentscheidung, dass er ihn so nennen durfte.

Als die Vorwürfe damals herauskamen, und als Filbinger sich dann darauf versteifte, das sei alles rechtens gewesen, da war er als Ministerpräsident ganz schnell weg. Es hatte sich schon einiges in der politischen Kultur geändert in Deutschland. Die Zeiten, dass ein Hans Globke oder Theo Oberländer Leichen im Keller haben konnten und davon unbeschadet ganz munter Karriere machen konnten, waren dann glücklich doch vorbei.

Sicher, ein großer Teil der Bevölkerung verweigerte sich jeder Aufarbeitung und war schon immer der Meinung, dass "endlich mal Schluss sein musste." Filbingers Tätigkeit als Marinerichter, die Todesurteile und vor allem sein sich Versteifen auf positives Recht, die Verweigerung jeglicher Verantwortung hat ihn in Baden Württemberg nicht nur sein Amt, sondern auch seinen guten Ruf gekostet. Filbinger wurde über 90 Jahre alt, hin und wieder schrieb er mal einen Artikel, und er bemühte sich, seinen Ruf wieder herzustellen, aber für alles, was nicht gerade stramm rechts war, blieb er persona non grata. Filbinger war von da an nur noch der alte Nazi, der "furchtbare Jurist". manchmal hörte man verwundert, dass es ihn noch gab. Günter Öttinger erregte Ärgernis, als er ihn einen Nazi-Gegner nannte. Fast 30 Jahre kämpfte Filbinger vergebens darum, seinen Ruf zu rehabilitieren. Das muss für ihn schon ein harter Schlag gewesen sein. Er musste 1978 zurücktreten, und er lebte noch bis 2007, das waren fast 30 Jahre, in denen er am politischen Leben teilnahm, ohne je wieder seinen guten Ruf rehabilitieren zu können.

In den 1950er und 1960er Jahren konnten alte Nazis von denen man wusste, was sie gemacht haben, unbeschadet Karriere machen, ein wissendes Raunen regte sich meist erst, wenn Leute wie Werner Best den Bogen ein bisschen überspannten. In den 1970er und 1980er Jahren war vielerorts inzwischen ein Generationswechsel erfolgt, und wenn die NS-Vergangenheit herauskam, war das inzwischen doch ein Grund, dass man dann zurücktrat oder zurücktreten musste.
 
Filbinger aber berief sich ausschließlich auf das positive Recht, sagte, was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein."

Der Satz wurde oft zitiert; Filbinger ließ in der ZEIT vom 16. Juni 1978 verlauten, das habe er so nicht gesagt, das sei eine Interpretation der Spiegel-Journalisten:

"Sie legen mir jedoch einen Ausspruch zur Last, den ich nicht getan habe: '... was damals Rechtens war, kann heute nicht unrecht sein.' Ich habe alle meine Aussagen, Pressemitteilungen und Bänder überprüfen lassen mit dem Ergebnis, daß ich eine derartige Erklärung nicht abgegeben habe. Nur das Nachrichtenmagazin Der Spiegel legt ein Gespräch so aus, das am Himmelfahrtstag in meiner Wohnung geführt wurde. Damals habe ich mich aber nur gegen den Vorwurf der Journalisten gewehrt, ich hätte im Falle Gröger das damalige Recht gebeugt."​
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