Dein letzter Halbsatz widerspricht dem, was du in den ersten 2 zitierten Sätzen gesagt hast. Um es ganz deutlich zu sagen: Zu seiner Zeit gab es Grenzen des Sagbaren, und als er diese Grenze überschritten hatte, war das ein Tabubruch und er ein Vaterlandsverräter. Siehst du das anders?
Den Teil würde ich gannz gerne kurz einmal aufgreifen.
Ich würde dir widersprechen wollen. Der Umstand, dass sich Fischers Postulate, auch die Streitbaren über sehr schnell festsetzen konnten und über eine lange Zeit den Diskurs mindestens in Deutschland dominierten, belegen eigentlich, das ein großer Teil der Öffentlichkeit wie der akademischen Welt sehr wohl bereit war sich das anzunehmen.
Ich würde hier noch weitergehen wollen und behaupten, dass was Fischer seinerzeit schrieb damals wesentlich weniger die Grenzen des Sagbaren strapazierte, als es das heute tun würde, schon deswegen, weil man bei aller kritischen Haltung gegenüber der deutschen Politik und den Strukturen des deutschen Reiches nicht übersehen darf, dass die Überlegungen zu einem nicht geringen Teil auf einem Mindset aufbauen, dass de facto aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammte.
Nimm z.B. die ganze Vorstellung von der "zu spät gekommenen Großmacht/Kolonialmacht", die ihren kolonialen Besitzstand nur auf Kosten anderer Kolonialmächte ausbauen konnte* und daher zum potentiell kriegerischen Unruhestifter Europas avanciert sei.**
Die ganze Denkfigur von der bereits verteilten Welt, in die der Neuling nur mit Gewalt eindringen und sich ein Stück davon holen könne und das Werturteil, dass davon eine besondere Gefahr für die europäische Ordnung ausgegangen und dieses Bestreben hochproblematisch gewesenn sei, kann im Prinzip nur jemand präsentieren, der selbst Imperialist reinsten Wassers ist, da er, wenn er von der "verteilten Welt", in die der spätere Akteur "einzudringen sucht" letztedlich nur dann reden kann, wenn er die vorangegangene koloniale Landnnahme für legitim hält.
Damit müsste er im Prinzip die Vorstellung haben, dass der Akt der Kolonialmächte den kolonisierten Völkern ihr Land zu nehmen, vollkommen legitim sei, während ein Griff nach deren in dieser Sicht legitimen Besitz*** mehr oder weniger die Ursünde darstellte, die am Beginn des Zusammenbruchs der europäischen Zivilisaton stand.
Auch wenn es nicht explizit ausgedrückt wird, Denkfiguren wie diejenige der "Verteilten Welt" und der "zu spät gekommenen Großmacht" insinuieren das im Umkehrschluss.
Das konnte man vielleicht in einer Zeit, in der die kritische Kolonialforschung noch nicht besonders wirkmächtig war, es noch keine Diskurse über "Orientalismus", Kolonialgesichte aus Sicht der Kolonisierten etc. etc. gab und dafür kein Bewusstsein vorlag, vielleicht so postulieren und sagen.
Würde jemand derlei heute postulieren, würde ihm allein deswegen die ganze Zunft der Imperialismusforschung schon deswegen (und mit Recht) auf's Dach steigen, weil es im Prinzip die den Kolonialismus rechtfertigende Mythenbildung unterstreicht, dass die Kolonien um die es potentiell hätte gehen können, vor der kolonialen Landnahme mehr oder weniger "terra nullius" gewesen sein und sie sich damit im rechtmäßigen Besitzstand der kolonialen Mächte befunden hätten.
Dann kann man in der Sache weitergehen. Z.B. könnte man sich dann das Postulat der zu spät gekommenen Macht, die auf die verteilte Welt trifft einmal ansehen einmal näher ansehen und sich überlegen, ob dieses Postulat möglicherweise auf andere Akteure zutreffen könnte.
Würde man das tun und sich das Handeln der verschiedenen imperialen Akteure anschauen, würde man z.B. feststellen, dass die USA im 19. Jahrhundert genau das betrieben haben, was der deutschen Seite hier vorgehalten wurde, nämlich sich Kolonien durch Krieg mit anderen Kolonialmächten anzueignen, namentlich dadurch, dass die USA im Prinzip nach dem spanisch-amerikanischen Krieg bis auf Kuba und die an Deutschland abgetretennen Pazifikinseln das spanische Kolonialreich in der Karibik und auf den Philippinen übernahm.
Nun, müsste man jetzt an dieser Stelle überlegen, wenn das Streben nach einem Weltreich auf Kosten anderer Kolonialmächte ein entscheidender Faktor für die Destabilisierung des europäischen oder des Weltsystems darstellte, wäre zu hinterfragen, warum man dann Deutschland, dem man nicht nachweisen kann, dass es das tatsächlich vor dem Krieg betrieben habe, zum systemgefährdenden Unruhestifter erklärt und nicht etwa die USA, die das, was Deutschland in diesem Postulat nur vorgeworfen wird, tatsächlich umsetzten?
Könnte man letztendlich nur dann begründen, wenn man in irgendeiner Weise dem deutschen Handeln eine besondere außerordentliche Qualität beimessen könnte, die man bei anderen Akteuren, die genau so handelten aber nie so bewertet wurden, nicht finden kann.
Mit anderen Worten, es kann nur funktionieren, wenn man irgendeine Form von "Sonderweg" oder "Sonderzustand" konstruiert (oder moderner ausgedrückt in beachtlichem Maße "othering" betreibt).
Das erste Problem mit "Sonderwegen" ist natürlich, dass deren Postulat gleichzeitig auch das Postulat "normaler" Entwicklungen voraussetzt.
Schaut man sich an, in welche Richtungen im Hinblick auf angebliche strukturelle Besonderheiten des Deutschen Reiches so argumentiert wurde, kann man darüber in Teilen nur den Kopf schütteln.
Angefangen bei Postulaten, wie einem Defizit an Demokratie und eines extremen Obrigkeitsstaates in Deutschland gegenüber Teilen Westeuropa oder den Vereinigten Staaten als Vergleichsobjekte, die nur dann funktionieren, wenn man die koloniale Sphäre und diverse andere Dinge, wie z.B. die strukturelle Entrechtung der fabigen Bevölkerung in den USA bis in die 1960er Jahre hinein völlig außer acht lässt und den Vergleich mit anderen Teilen Westeuropas, z.B. auf der iberischen Halbinsel oder im Hinblick auf Russland überhaupt nicht bemüht.
Schaut man sich die Strukturen an, wird man in Deutschland zwar Dinge finden, die in der Tat sehr problematisch waren, wie etwa eine ungesunde Autonomie der Armee vom politischen Betrieb und eine mangelhafte/nicht vorhandene Kontrolle der zivilen Reichsleitung über die Arbeit und Planung der höheren Offiziere, aber nichts, was im Hinblick auf Deutschland einzigartig gewesen wäre (in Russland mischte das Militär in der Julikrise in ähnlich gefährlicher Weise mit, in dem es Druck auf den zaren in Richtung Mobilmachung ausübte).
Solche Sonderwegskonstruktionen, die sich im Prinzip bei umfassenden transnationalen Vergleichen nicht halten lassen (nicht etwa weil es keine Besonderheiten gäbe, sonder viel mehr, weil sich der gleichsam mit postulierte Normalweg nicht ohne reichliche Kunstgriffe ausmachen lässt), können im Prinzip nur dann verfangen, wenn:
1. Das Publikum bereit ist, irgendwelche Entwicklungen als "Normalzustand" zu akzeptieren, wie es in diversen ideologisch weit gefächerten Entwicklungstheorien vorkommt, die im 19. Jahrhudert populär wurden.
2. Das Publikum gewohnt ist, gleichzeitig die Vorstellung gesonderter Eigenschaften, die die eigene Gruppe vom Gegenüber abheben unhinterfragt zu akzeptieren (insofern ist eine rassistische Vorprägung dem Sonderweg-Denken sicherlich zuträglich gewesen).
Ich sehe da bei Fischer und einigen nachfolgern in dieser Richtung einiges, was man so heute nicht mehr erfolgreich postulieren könnte, weil die entsprechende Vorprägung des Publikums fehlt und sich Vorstellungswelten völlig verlagert haben.
Vom dem her, vielleicht war einiges, was Fischer unterstellte zu seiner Zeit nicht leicht vermittelbar. Einiges was er an Versatzstücken implizierte, war allerdings nur und ausschließlich in seiner Zeit so vermittelbar und wäre 50 Jahre später auf keine offenen Ohren mehr gestoßen, dafür aber auf berechtigte Entrüstung.
Im Hinblick auf die eigentliche Diskussion des Fadens wäre es vielleicht nicht uninteressant einmal zu hinterfragen, was uns eigentlich der Umstand, dass dass von Fischer in der populären Diskussion im Grunde fast nur noch das Hauptschuld-Postulat übriggeblieben ist (also der inhaltlich am wenigsten spannende Teil seines Wirkens) über Historiker als historische Subjekte sagt.
*unabhängig davon, dass das inhaltlich Kokolores ist, siehe Verhandlungen mit den Briten über die portugiesischen Kolonien .
**unabhängig davon, ob diese Behautung besonders plausibel ist.
***unabhängig davon ob der in dieser Form stattgefunden hat.