Glatz widerspricht dieser Vermutung und führt an, dass erst die Abnutzung der „frischen Kräfte“ der Roten Armee vor Moskau den deutschen Einheiten die Möglichkeit eröffnete, auf Moskau Ende 41 noch vorzustoßen.
Ob die Südfront bzw. die Südwestfront vor diesem Hintergrund, vor dem Eindrehen der Panzergruppe 2, noch zu einer Gefährdung von HG Mitte fähig war,ist sicherlich auch eine spannende Frage.
Um den Gedanken aufzugreifen:
Die Kesselschlacht von Kiew (auf Hitlers Eingriff zurückzuführen) erfuhr 1941 eine beachtliche propagandistische Aufpeitschung und ist als "Schlagwort" - jedenfalls bis DRZW 4 Mitte der 80er - weit mehr präsent als die die Doppelschlacht von Wjasma und Brjansk vom Oktober 1941. Letztere war Beginn und unmittelbare Voraussetzung für den Vormarsch auf Moskau. Nur am Rande ist interessant, dass der "TAIFUN" schließlich nicht den direkten Stoß auf Moskau wählte, sondern ebenfalls als weiträumige Umfassung angesetzt war.
Aber diese "Gewichtung" muss nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist tatsächlich, welches operative Gewicht die Südwest- und Brjansker Front im August 1941 tatsächlich entfaltet hat. Dafür ist deren Zustand entscheidend. Zieht man als erstes die Wehrmachts-Siegesfanfaren heran, scheinen beide Kesselschlachten gleichgewichtig: es werden um die 600-700.000 Gefangene gemeldet, dazu jeweils fast 1000 zerstörte Panzer.
Ansatz: die Panzerzahlen (als Maßstab für die Gewichtung der sowjetischen "Fronten" im September 1941). Danach sind Zweifel an den Wehrmachtsberichten angebracht. @thanepower hat bereits die Zahlen von Mitte Juli dargestellt, die erhebliche Verluste der Panzertruppen gegenüber der Heeresgruppe Süd widerspiegeln (Basis Glantz, Stumbling Colossus). Gleiches ergeben die Zahlen vom 2.7.1941 (Stärkemeldungen der sowjetischen Mechanisierten Korps von Süd- und Südwestfront: nur noch zwischen 10-40% der Ausgangsstärke vom 22.6.1941). Diese Überlegung wird durch die Aufstellung der materiellen Verluste bei Krivosheev gestützt:
Kiev Defensive Operation (7.7. - 26.9.1941): 411 Panzer.
Die Zahl weicht erheblich von den deutschen Meldungen ab, die vermutlich die Brjansker Front mit einbeziehen. Das erklärt die Differenz aber nur zum Teil. Die entscheidende Relativierung erfährt die Angabe aber durch die folgende Verlustmeldung:
Moscow Defensive Operation (30.9.-5.12.1941): 2.785 Panzer.
Zum Vergleich
Baltische Verteidigungskämpfe 1941: 3.561 Panzer
Weißrußland 1941: 4.799 Panzer
Westukraine 1941: 4.381 Panzer
Leningrad 7-9/1941: 1.492 Panzer
Die Schlußfolgerung: bei den Kräftegruppen nördlich Kiew, Brückenkopf Kiew, Dnjepr-Linie handelte es sich überwiegend um Infanterieeinheiten ohne große Beweglichkeit. Die motorisierten und die Panzerverbände waren in diesen Bereichen durch die Grenzschlachten in der Westukraine sowie nach der Kesselschlacht Uman weitgehend ausgebrannt. Operative Bewegungen in die Tiefe (damit auch in den Rücken der Heeresgruppe Mitte) waren diesen Verbänden nicht mehr möglich. Zudem bestand eine frontale Fesselung durch die deutsche Heeresgruppe Süd.
(Zahlen nach Krivosheev: Soviet Casulaties and Combat Losses in the 20th Century)
These: Die Kiewer Kesselschlacht richtete sich gegen eine weitgehend immobile Truppe, allerdings noch stark an Geschützausstattung. Die rüstungswirtschaftlichen Ziele waren entscheidend; andere Argumente wurden zur Durchsetzung bei der Generalität vorgeschoben, u.a. die angekündigte Kräfteverlagerung zur Heeresgruppe Mitte.
Dazu ergänzend: die Anweisungen an die HG Süd von Anfang September 1941 führten zu den früheren Argumenten für die Richtung Kiew nun Folgendes auf: die Abgabe von Panzer- und motorisierten Verbänden an die HG Mitte zum Angriff auf Moskau. Frühere Anweisungen berücksichtigten nur die starke Kräftegruppe am Dnjepr (Kiew etc.), sowie die rüstungswirtschaftlichen Erwägungen: Stoß in das Donezk-Gebiet, Charkow, sowie Abschneiden der sowjetischen Ölzufuhr (!)
Klapdor: Der Ostfeldzug 1941 - eine vorprogrammierte Niederlage? Die Panzergruppe 1 zwischen Bug und Don, ab S. 358.