Freie Reichsstadt Riga?

Simplicius

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Ich habe gerade auf der englischen Wikipedia ein interessantes Zitat gefunden:

As the influence of the Hansa waned, Riga became the object of foreign military, political, religious and economic aspirations. Riga accepted the Reformation in 1522, ending the power of the archbishops. In 1524, a venerated statue of the Virgin Mary in the Cathedral was denounced as a witch, and given a trial by water in the Daugava River. The statue floated, so it was denounced as a witch and burnt at Kubsberg. With the demise of the Livonian Order during the Livonian War, Riga for twenty years had the status of a Free Imperial City of the Holy Roman Empire before it came under the influence of (...)

Stimmt das wirklich? Ich wäre sehr dankbar, wenn jemand eine Originalquelle geben könnte, z. B. die Urkunde, die Riga in den Rang einer Reichsstadt erhob.

Riga - Wikipedia, the free encyclopedia
 
Stimmt das wirklich?

Ja; das ist exakt - allerdings muß dazu der entsprechende Kontext bzw. Hintergrund beachtet werden:
Kulturgeschichte Riga schrieb:
...
Die Reformation fand, auch unter dem Eindruck der ordensfeindlichen Stimmung, ab 1520 Widerhall in R.; schon 1522 bekannte sich die Mehrheit der Bürger zu Luthers Lehre. Kunstwerke aus vorreformatorischer Zeit im Inneren der Kirchen wurden während der Bilderstürme des Jahres 1524 fast ausnahmslos vernichtet (bemerkenswertestes Ausstattungselement eines R.er Sakralbaus aus heutiger Sicht ist der imposante Orgelprospekt des Doms aus der Zeit um 1600).

Nach Ausbruch des Livländischen Krieges 1558 und der Auflösung der Livländischen Konföderation 1561/62 folgte die Stadt nicht unmittelbar der Entscheidung des Erzbischofs und des Ordens, sich Polen-Litauen zu unterwerfen, sondern favorisierte besonders in den 70er Jahren eine Zukunft als freie Reichsstadt des Heiligen Römischen Reichs. Erst als dessen erhoffte Hilfe ausblieb, brachten neuerliche russische Vormärsche R. dazu, 1581 Polens König Stefan Batory zu huldigen.
...
Von Riga (Stadt) - EEO

Riga gehörte zwar genaugenommen gar nicht zum Reich, hatte jedoch vor dem genannten Hintergrund (s.o.) einen politischen Sonderstatus erlangt.

In der deutschen Geschichtsschreibung einerseits und in der polnischen Geschichtsschreibung andererseits ist dies übrigens eine ziemlich kontroverse Thematik:
Nordosteuropa in Geschichte und Geschichtsschreibung schrieb:
...
Die nächste Doktorandin, Anna Ziemlewska (Torun), trug zum Thema „Riga im polnisch-litauischen Staat (1581-1621)“ vor. Diese Phase der Stadtgeschichte wurde bisher recht stiefmütterlich behandelt und stellt daher ein Forschungsdesiderat dar. Frau Ziemlewska betrachtet die Stadtgeschichte im Spiegel der Außenpolitik – besonders zur polnisch-litauischen Adelsrepublik. Die deutsche Geschichtswissenschaft betrachtete Riga in dieser Phase als freie Reichsstadt, während die polnische Geschichtswissenschaft Riga seit 1561 (Unterwerfung von dem letzten Landmeister von Livland und dem Erzbischof von Riga) als polnische Stadt sah. Der Vertrag mit Stephan Báthory führte zu besonders religiös motivierten Konflikten in der Stadt (Kalendarunruhen waren nur Ausdruck der allgemeinen Ablehnung der Jesuiten in der Stadt).
...
Von Nordosteuropa in Geschichte und Geschichtsschreibung - H-Soz-u-Kult / Tagungsberichte

Ich wäre sehr dankbar, wenn jemand eine Originalquelle geben könnte, z. B. die Urkunde, die Riga in den Rang einer Reichsstadt erhob.

Ich selbst kenne zwar keine Urkunde o.ä., jedoch ein zwischen 1567 und 1571 (möglicherweise aber auch erst um 1574 - jedenfalls ist es zeitgenössisch) verfaßtes Gedicht des Danziger Stadtschreibers Hans Hasentöter (alternativ geschrieben auch Hans Johann Hasentödter, Johann Hasentödter, Hans Johann Hasentödter, Johann Hasentöter, Hans Johann Hasentöter, Hans Hasentödter, Johannes Hasentödter); nämlich Eyn newes liedlein:
Vers 2 schrieb:
O Riga, nichts beginne,
fah jo kein newes an,
und dich gar wol besinne,
wem du bist underthan!
Gott hat dir eitern geben,
fürs erst das römisch reich,
die christlich kirch darneben,
darunter du solt leben,
ob man drumb zürnet gleich.
Vgl. dazu bspw. http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/10062/8854/4/mackenzenbw.pdf (S. 108)
 
Stimmt das wirklich? Ich wäre sehr dankbar, wenn jemand eine Originalquelle geben könnte, z. B. die Urkunde, die Riga in den Rang einer Reichsstadt erhob.

Meines Wissens gibt es keine solche Urkunde.

In einer Schrift von 1918 [1] heisst es zwar unter der Überschrift "Riga als freie deutsche Reichsstadt (1562-1582)", dass die Stadt 1576 von Kaiser Maximilian II. "eine Bestätigung ihrer Rechte" erhielt und "in dieser sogenannten Freiheitszeit eine vollständig selbständige Hansestadt" war. Hierbei könnte allerdings der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein.

Andernorts wird die Sache so dargestellt [2]: Die Rigaer führten zwar 1576 Verhandlungen in Wien mit dem Ziel, Reichsstadt zu werden, d.h. man "favorisierte" diese Sache (timotheus). Aber die Gesandten "erhielten vom Kaiser zwar Audienz, aber keinen bestimmten Bescheid. Am 12. October starb Maximilian und mit ihm gingen die Hoffnungen der Stadt Riga zu Grunde".


[1] Löwis of Menar: Riga. Kurzer geschichtlicher Führer. S. 10 f.
[2] Richter: Geschichte der dem russischen Kaiserthum einverleibten Ostseeprovinzen..., Theil II, 1. Band, Riga 1858, S. 64

PS: Siehe auch den folgenden Auszug http://www.google.com/books?id=FUQC...=100&as_brr=3&hl=de&cd=1#v=onepage&q=&f=false
 
Zuletzt bearbeitet:
Wie kann der Kaiser den Status einer außerhalb des Reichsgebiets liegenden Stadt verändern? Für Riga hatte er doch keinerlei Kompetenzen?
 
...und ich bin wieder mal darüber erschrocken, dass der falsche Begriff so inflationär verwendet wird. Entweder eine Stadt ist eine freie Stadt, oder sie ist eine Reichsstadt, tertium non datur. Den kann man wohl nie ausrotten.
 
Wie kann der Kaiser den Status einer außerhalb des Reichsgebiets liegenden Stadt verändern? Für Riga hatte er doch keinerlei Kompetenzen?
Ich kann beide Fragen nicht beantworten. Es ist jedenfalls unlogisch, eine Stadt außerhalb des HRRdN als deutsche "Reichsstadt" zu betiteln.

Warum die Rigaer sich trotzdem um diesen Status bemühten, ist ebenso unklar wie die Frage, was mit dem Titel für Riga reichs- bzw. "völker"rechtlich hätte verbunden sein können - vielleicht nur eine "moralische" Rückendeckung gegen polnische Souveränitätsansprüche?

Entweder eine Stadt ist eine freie Stadt, oder sie ist eine Reichsstadt, tertium non datur.
Es gibt eine kleine "Vorgeschichte" zu den Ereignissen um 1570, die ich z. B. bei Cröger [1] gesehen habe:
Um 1330 gab es Händel zwischen Stadt, Orden und Erzbischof. Der Orden hatte u.a. dem Bistum Güter in Riga weggenommen, worauf der Papst intervenierte und Rückgabe verlangte. Der Orden verweigerte das mit dem Argument, Riga sei "keine Erzbischöfliche, sondern eine deutsche Reichsstadt" [sic].

Was mich zu der Erwägung bringt, ob es seinerzeit überhaupt feste Begriffe oder gar Legaldefinitionen gab. Heusler [2] legt in seiner scharfen Polemik gegen Altmeister Maurer [3] dar, dass der Sprachgebrauch um 1300 denkbar unterschiedlich war.

"Zu den Städten des Reichs oder Königsstädten, den civitates regiae, imperiales, imperii, werden aber ununterschieden gezählt sowohl die Pfalzstädte als die Städte der geistlichen Fürsten... [Es könne gesagt werden], dass bis auf Karl IV. die Pfalz- und die bischöflichen Städte als Reichsstädte galten."

Auch der Unterschied zwischen Frei- und Reichsstadt war längere Zeit unklar. "In der Mitte des 14. Jahrhunderts setzt sich der Ausdruck Freistadt fest für alle diejenigen Städte, welche der landesherrlichen Vogtei entwachsen, dennoch aber nicht in das enge Pflichtverhältnis zu dem Reich zurückgetreten sind, in welchem sie ursprünglich gestanden hätten und in welchem z.B. die Pfalz-, jetzt Reichsstädte standen."

Wer tiefer einsteigen will - viel Glück! :winke:


[1] Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands, Erster Theil, St. Petersburg 1867, S. 244
[2] Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, Weimar 1872, S. 235 ff.
[3] Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 4 Bände, Erlangen 1869-71
 
Ich kann beide Fragen nicht beantworten. Es ist jedenfalls unlogisch, eine Stadt außerhalb des HRRdN als deutsche "Reichsstadt" zu betiteln.

Das ist doch ein Zirkelschluss: Wenn sie eine Reichsstadt gewesen sein sollte, war sie in dieser Zeitperiode ja nicht außerhalb des Reiches.

Im Übrigen danke ich für die Beiträge!
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Baltikum gehörte nie zum Reich. So weit war das Völkerrecht damals auch schon entwickelt, dass der Kaiser eine fremde Stadt nicht einfach annektieren konnte, indem er sie zur Reichsstadt erhebt.
 
Das ist doch ein Zirkelschluss: Wenn sie eine Reichsstadt gewesen sein sollte, war sie in dieser Zeitperiode ja nicht außerhalb des Reiches!
Das ist ärgerlich, aber wahr!:winke:
Meine Argument ist "nur" ein tatsächliches, kein logisches:
Riga liegt von der Ostgrenze des HRRdN (14./16. Jh.) so weit entfernt, nämlich ca. 480 km, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass es Reichsstadt hätte werden können. (Die am östlichsten gelegene Reichsstadt ist immer Regensburg gewesen.)

Es kann doch eine städtische Exklave gewesen sein, so wie heute das spanische Ceuta.
Soweit ersichtlich, hat es niemals eine Reichsstadt als Exklave des HRR gegeben. Aber korrigiere mich ggf.
 
So sehr sich @Luki auch über die Bezeichnung erregen mag: Der Begriff "freye und H.R. Reichsstadt" existierte schon, als es das Reich noch gab.
Gründliche Nachricht von der Kaiserl ... - Google Bücher

Reichsstadt war Riga nur 20 Jahre lang. Ist vielleicht deshalb nicht so geläufig.

Das Baltikum gehörte nie zum Reich. So weit war das Völkerrecht damals auch schon entwickelt, dass der Kaiser eine fremde Stadt nicht einfach annektieren konnte, indem er sie zur Reichsstadt erhebt.

Das weiß ich wohl. Es geht hier aber auch nicht ums Baltikum, sondern ein altes, im Gegensatz zum Umland deutsch geprägtes, Erzbistum.
 
Zuletzt bearbeitet:
... dass der Kaiser eine fremde Stadt nicht einfach annektieren konnte, indem er sie zur Reichsstadt erhebt.
Es wäre ja keine Annektion gewesen (also eine Inbesitznahme fremden Gebiets), sondern eine freiwillige Unterstellung der Stadt unter die Oberhoheit des Kaisers.
Und da das Reich in erster Linie immer noch ein Lehnsverband war, hätte der Kaiser das m. E. sehr wohl machen können.
Daß er aber sehr wohl die praktischen Schwierigkeiten (Entfernung!) gesehen hat wird ja dadurch belegt, daß die Idee ausführlich verhandelt wurde.
 
Das Reich war ein Lehensverband, richtig, aber Riga gehörte eben nicht zum Reich. Und "freiwillig unterstellen" konnte sich Riga dem Reich eigentlich nicht, da die Stadt nicht frei war, sondern fremde Souveränitätsrechte achten musste.
 
Das Reich war ein Lehensverband, richtig, aber Riga gehörte eben nicht zum Reich.
Genau das wollten die Rigaer ja wohl ändern, wenn ich die hier zitierten Quellen richtig verstehe.
Und bei einem Lehnsverband war es völlig normal, daß Herrschaften dazukamen oder wegfielen, das war grundsätzlich auch beim Reich möglich.

Natürlich gab es dafür kein formalisiertes Verfahren. Es gab keinen Antrag auf Reichszugehörigkeit mit Genehmigungsstempel - das war ein sehr individueller Prozeß, der eine gewisse Zeit brauchte.
Grundsätzlich war es dem Kaiser m. E. sehr wohl möglich, Lehnsherr eines neuen Gebiets zu werden, es dann als Reichsgebiet zu behandeln und dann über eine gewisse Zeit der Gewöhnung zu erreichen, daß dies auch von den übrigen Reichsteilen akzeptiert wurde.

Und "freiwillig unterstellen" konnte sich Riga dem Reich eigentlich nicht, da die Stadt nicht frei war, sondern fremde Souveränitätsrechte achten musste.
Da gilt dann das Umgekehrte: Diese fremden Rechte wären gegenstandslos geworden, wenn der Kaiser seine Autorität vor Ort durchgesetzt hätte (eben durch die Anerkennung durch die Rigaer selber) und sich gewohnheitsrechtlich die neue Souveränitätszuordnung durchgesetzt hätte.

Konkret war es ja so, daß die alten Souveränitätsrechte (des Erzbischofs von Riga) durch die Reformation erledigt waren und ad hoc kein neuer Souverän klar war.
Der Anschluß ans Reich wäre eine Option gewesen, ein Anschluß an Polen war auch möglich - letztlich durchgesetzt haben sich die Schweden mit dem deutlichsten Mittel der Souveränitätsgewinnung, nämlich der Eroberung.
 
Auch wenn das Thema hier schon ein paar Tage "liegt" habe ich noch etwas mittelalterliches/vor-reformatorisches dazu gefunden:

In Riga wurde 1201 oder 1202 ein Dom mit einem eigenen Kapitel errichtet. Der Papst erklärte die Stadt zum Marienland, das als Grundlage zur Belehnung von Kreuzrittern diente und damit zur Entstehung eines livländischen Vasallentums beitrug. (...) Als Bischof Albert den Stauferkönig Philipp von Schwaben (1198-1208) im Jahre 1207 als Lehnsherr gewann, wurde das Livenland ein Lehen des Heiligen Römischen Reiches.

Tuchtenhagen, Ralph: Geschichte der baltischen Länder, München 2005, S. 16
 
[Zitat:] Als Bischof Albert den Stauferkönig Philipp von Schwaben (1198-1208) im Jahre 1207 als Lehnsherr gewann, wurde das Livenland ein Lehen des Heiligen Römischen Reiches.
Ja, wenngleich es dafür nur eine etwas umstrittene Quelle gibt und sich Philipp seines Lehnsherrenstatus' nur ein Jahr und elf Tage erfreuen konnte. Die Beleihung wurde jedenfalls 1225 von Heinrich VII. erneuert und Albert "in den Reichsfürstenstand" erhoben. [1]

Freilich bin ich unsicher, was dieser Lehensstatus praktisch bedeutet hat und ob er "international" akzeptiert war. Zeitweise beherrschten ja die Dänen faktisch das Gebiet und später die Deutschordensritter (beide ihrerseits nicht zum HRR gehörig.)


[1] So jedenfalls Croeger: Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands. Teil 1. St. Petersburg 1867, S. 76
 
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