Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 bis 1933

Ein paar kritische Gedanken zur Vermarktung von Historie im Allgemeinen und zur Nutzung von sozialpsychologischen Konstrukten im Speziellen.

Die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung von Thesen über die Vergangenheit, zu der vermeintlich ja schon fast alles gesagt wurde, hängt wesentlich von der Originalität der These ab. Und ebenso daraus abgeleitet der wirtschaftliche Erfolg eines Buchs für den Verlag und seinen Autor.

Die Arbeiten beispielsweise von Taylor zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieg waren in ihrem "revisionistischen Gehalt" "erfrischend" für die Historikerzunft, weil sie angeregt wurde, erneut kritisch über ihre Sichtweise nachzudenken.

Und Taylor hat es eine enorme Aufmerksamkeit eingebracht. Ähnliches gilt für die Thesen von Suworov alias Rezun. Und auch den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Bücher.

Die Thesen von Aly verfolgen im Prinzip ein ähnliches Ziel. Auch historische Aufklärung, aber auch "erzwungene Aufmerksamkeit" durch provokative Medienauftritte und somit der antizipierte wirtschaftliche Erfolg. Das sind einfach die Spielregeln der Vermarktung von Büchern!

Stellt sich die Frage, warum die Thematisierung von "Neid" in diesem Kontext als provokativ gelten kann. Neid ist zunächst mal kein historisches Konstrukt, sondern wird von Aly aus dem bereich der Sozialpsychologie entnommen. Und es ist ein sehr emotional belegtes Konstrukt, das entweder massive Zustimmung oder Ablehnung erzeugt und somit hochgradig, bewußt emotionalisiert.

Und "Neid" oder auch Wut auf Jemanden sind emotionale Äußerungen, die als die negative Seite der Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens eingeordnet werden können. Neid ist keine absolute Größe, sondern sie entsteht in dem Moment, wenn die Vorteile einer Person oder einer gesellschaftlichen Gruppe nicht ausreichend legitimiert sind.

In diesem Sinne basieren die Arbeiten von Marx und seine Prognose einer Revolution auch auf dem Mangel an Legitimation der gesellschaftlichen Vorteile einer kleinen Gruppe von Mitgliedern einer Gesellschaft, "den Kapitalisten". In diesem Sinne ist "Neid" sicherlich immer schon eine Triebkraft für Handeln.

Sie ist aber eine abgeleitete Größe aus der Verletzung von Gerechtigkeitsvorstellungen!

Gerechtigkeit ? Wikipedia

Gerechtigkeitsforschung ? Wikipedia

Vor diesem Hintergrund ist somit für den historischen Kontext zu fragen, welche Form das Gerechtigkeitsempfindens überhaupt im 19. Jahrhundert in Deutschland anzutreffen war. Eine Situation, die dazu geführt hat, dass die christliche Bevölkerung Deutschlands, die besseren Chancen des jüdischen Teils der Bevölkerung als nicht angemessen beurteilt hat.

Geht man kurz auf die Weberschen Thesen zur Bedeutung der protestantischen Ethik ein, dann überrascht es, warum ausgerechnet in Deutschland eine Gruppe mit einer erfolgreichen "Leistungsorientierung" per "Neid" ausgegrenzt worden sein sollte.

Zudem waren ja auch nicht-jüdische Eliten vorhanden, die durchaus einen privilierten Status hatten und auf die das "Neid-Konstrukt" keine Anwendung fand.

Interessant ist an diesem Punkt, dass Aly primär die positive Seite der erhöhten Chancen der jüdischen Bevölkerung thematisiert. Er geht nicht darauf ein, dass die jüdische Bevölkerung beispielsweise in Preußen einer massiven Benachteiligung ausgesetzt war in Bezug auf ihre Gleichstellung im Staat und die damit verbundenen Stellungen im Staatswesen (Verwaltung, Armee etc.).

Aus dieser Diasphora-Situation heraus mußte die jüdische Bevölkerung Strategien des Überlebens entwickeln. Vor diesem Hintergrund erscheint die soziale Position der jüdischen Bevölkerung, auch als Folge einer kollektiven selektiven Wahrnehmung durch die christliche deutsche Bevölkerung, in einer verzerrten Perspektive und verfestigt sich im Rahmen von Vorurteilen gegenüber der jüdischen Population.

Vorurteilsforschung ? Wikipedia

Es erscheint, als wenn die Thematisierung des "Neids" auch der "Griffigkeit" der Darstellung des Themas geschuldet.

Mir persönlich sagt die Art der Thematisierung nicht zu, nicht zuletzt, da die Radikalität der Protagonisten des 3. Reichs, die den Holocaust planten und initierten, nicht primär durch "Neid" gesteuert wurde.

An diesem Punkt muss sehr deutlich zwischen den "Primär-Tätern", den Mitläufern als Täter und der passiven Hinnahme des Holocaust in der Masse der Bevölkerung, aufgrund von historisch gewachsenene Vorurteilen gegenüber der jüdischen Bevölkerung deutlich unterschieden werden.

Wobei auch anzumerken ist, dass das alles Vermutungen sind, da aus dieser Zeit, soweit ich weiss, keine "Umfragen" zu den Themen vorhanden sind, um das Einstellungsbild der deutschen Bevölkerung wirklich angemessen zu beschreiben.

Es ist eher die Bereitschaft von gesellschaftlichen Gruppen in "in" und "out" zu denken und betrifft eher die schnelle Bereitschaft von Individuen und von Gruppen Fremdenfeindlichkeit zu empfinden.

Die Verletzung von Normen im Rahmen des Gerechtigkeitsempfindens bzw. der Selbst-Attribuierung ist dabei eher als Antrieb bzw. als Motivation zu verstehen.

Aly hat sich das "verkehrte" Konstrukt ausgewählt, dass zwar mediale Aufmerksamkeit sichert, aber systematisch als erklärendes Konstrukt in eine historische Sackgasse führt.

Und an diesem Punkt sehe ich persönlich systematische Defizite bei der Theoriebildung von Aly.
 
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Ich habe nun begonnen das Buch zu lesen.

Die ersten Seiten zeigen schon auf, dass sich Aly sich mit der Quellenthematik auskennt. Hier ein paar Zitate aus der Einleitung.

"Wer aus dem Mord an den europäischen Juden lernen will, sollte als Erstes damit aufhören, die Vorgeschichte mit Hilfe eines bipolaren Schemas in "gute" und "böse" Entwicklungslinien aufzuspalten. Geschichtsoptimisten mögen solche Konstruktionen. Sie sehen ihre Gegenwart an der Spitze der Zivilität und wären das Publikum an der Illusion, dass alles, was uns Heutigen richtig oder falsch erscheint, in der Vergangenheit ebenso richtig oder falsch gewesen sei. Analytisch führt solches Geschichtsdenken in die Irre. Es schafft Abstand und erklärt nichts.
Ziel dieses Buches ist es, einige Sichtblenden wegzuschieben, die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Nationalsozialismus zum Fremdkörper, zum im Grunde unbegreiflichen Fehltritt im Gang deutscher Geschichte wird. Deswegen nehme ich auch Männer in den Blick, die zwar als Reformer und Vorkämpfer freiheitlicher Ideen berechtigtes Ansehen verdienen, aber als Judengegner, ja Judenhasser hervortraten: zum Beispiel Karl von Stein, Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Ludwig Jahn, Peter Christian Beuth, Friedrich List oder Fran Mehring - darunter nicht wenige schwarz-rot-goldene Demokraten, auf die sich die heutige Bundesrepublik beruft.

Ferner scheint mir für das Verständnis des deutschen Antisemitismus wicht zu sein, die verschiedenen Seiten gespeisten antiliberalen Strömungen in Deutschland in Betracht zu ziehen (...)

Aly beschreibt auch sehr genau wie er gearbeitet hat und welche Quellen er für dieses Buch verwendet.

Er schrieb das Buch in Yad Vashem, der Grund dafür ist sicherlich das es in Yad Vashem die grösste Sammlung an Quellen und Literatur über den Holocaust gibt. Zu den Quellen schreibt er:

"In Anbetracht des grossen Zeitrahmens, den die folgende Untersuchung umfasst, benutze ich fast ausschliesslich gedruckte Quellen, seien es Streitschriften, Petitionen, Lebensbeschreibungen, Zeitungsartikel oder Parlamentsprotokolle. So unterschiedlich und oft gegensätzlich diese Texte sind, so verbindet sei eines: Sei wurden von Zeitgenossen verfasst, die nicht wussten, was die Deutschen den Juden Europas zwischen 1933 und 1945 antun würden. Das scheint mir methodisch ratsam. Die Autoren, die 1820, 1879, 1896 oder 1924 über den Antisemitismus und die Minderwertigkeitsgefühle von Deutschen schrieben oder den Judenhass und die Selbsterhöhung der arischen Rasse propagandierten, die 1930/32 die politisch bedrohlichen Folgen von Wirtschaftskrise oder die Anziehungskraft Hitlers und seiner Partei analysierten, kannten die Folgen nicht. (...)"

"Nur ausnahmsweise ziehe ich ungedruckte Quellen heran, namentlich solche aus dem sieben laufendes Meter umfassenden Archiv der Familie Aly. Ich habe die Papiere 2007 geerbt und neu geordnet. Einige Urkunden reichen bis zum Dreissigjährigen Krieg zurück. Doch enthält das Archiv vor allem Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen und Fotos, überwiegend aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts."

Wie jeder Historiker stellt auch Aly Fragen an die Quellen, denn erst mit der Fragestellung kann man eine Forschungsarbeit beginnen. Hier die Fragen die sich Aly gestellt hat:

  • Wenn der deutsche Antisemitismus eine Massenerscheinung gewesen ist, die man vor 1933 nicht verstecken musste, dann muss er in den Briefen und Lebenserinnerungen deutscher Familien seinen Niederschlag gefunden haben.
  • Wie, wann und warum wurden Deutsche zu tatbereiten Antisemiten?
  • Welche Motive, welche psychosozialen Dispositionen, welche inneren und äusseren Faktoren begünstigten diese Entwicklung?

Die Zitate stammen aus: Götz Aly. Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. S. Fischer Verlag. 2011 . S. 7 -23
 
Meine ehrliche Meinung zu diesem Buch: Es läuft unter dem Motto " Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht von allen." :pfeif:
 
Hast du des bereits gelesen?
Ich habe mir die Interviews und Rezensionen durchgelesen und zitiere aus einer davon:

"Man mag einwenden, dass sich ähnliche Thesen in den meisten neueren Gesamtdarstellungen zur Deutschen Geschichte fänden. Aber es ist Alys Verdienst, diese Zusammenhänge luzide und breit belegt erläutert und plausibel gemacht zu haben. "


Mit dem ersten Teil dieser Aussage bin ich einverstanden, mit dem zweiten nicht ganz. Das sind alles bekannte Tatsachen, nur dass sie sich nicht auf Deutschland beschränken. Ich habe es schon an anderer Stelle geschrieben: Weder Neid noch Antisemitismus sind exklusive deutsche Eigenschaften.
 
Ich habe mir die Interviews und Rezensionen durchgelesen und zitiere aus einer davon:

"Man mag einwenden, dass sich ähnliche Thesen in den meisten neueren Gesamtdarstellungen zur Deutschen Geschichte fänden. Aber es ist Alys Verdienst, diese Zusammenhänge luzide und breit belegt erläutert und plausibel gemacht zu haben. "


Mit dem ersten Teil dieser Aussage bin ich einverstanden, mit dem zweiten nicht ganz. Das sind alles bekannte Tatsachen, nur dass sie sich nicht auf Deutschland beschränken. Ich habe es schon an anderer Stelle geschrieben: Weder Neid noch Antisemitismus sind exklusive deutsche Eigenschaften.

Stimmt Neid und auch Antisemitismus ist keine exklusive deutsche Eigenschaft. Das behauptet Aly ja auch nicht wirklich. Sondern er versucht zu hinterfragen weshalb ausgerechnet Deutschland der Antreiber und Motor des Holocaust war und nicht zum Beispiel England.

Aly zitiert Siegfried Lichtenstaedter, der 1937 schrieb: "Wer um 1900 in Deutschland vorhergesagt hätte, dass vom Jahre 1933 ab Tausende von uns nach Palästina fliehen würden, um nicht unterzugehen, wäre zweifellos als reif für das Irrenhaus betrachtet worden".

Quelle: S. 8 des Buches. Oder Siegfried Lichtenstaedter. Zionismus und andere Zukunftsmöglichkeiten, Herausforderung zu einer Diskussion. 1937. S. 37
 
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Aly zitiert Siegfried Lichtenstaedter, der 1937 schrieb: "Wer um 1900 in Deutschland vorhergesagt hätte, dass vom Jahre 1933 ab Tausende von uns nach Palästina fliehen würden, um nicht unterzugehen, wäre zweifellos als reif für das Irrenhaus betrachtet worden".
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Ich habe, vor über zwanzig Jahren in Südamerika, bei einer Gedenkfeier zum Aufstand des warschauer Ghettos, von einem polnisch-jüdischen Professor eine ähnliche Aussage gehört, als er über den alltäglichen Antisemitismus in Polen referierte: "Wir hätten so etwas (wie den Holokaust) jederzeit von den Polen erwartet, nicht aber von den Deutschen". In Osteuropa waren sehr gewaltsame Pogrome an der Tagesordnung. Deutschland galt im Gegensatz als offenes und "zivilisiertes" Land wo man als Jude Rechte hatte und in Sicherheit lebte.
 
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