1. dass ich Dich noch ein bisserl mit dem Bullock ärgere
2. Sie merken aber an, dass auch Kershaw in seinem neuesten Werk "Wendepunkte" von "paranoider Fixierung" und von "kranken Ideen" Hitlers spricht.
3. Ich erlaube mir dennoch daran zu zweifeln, dass der von Dir beschriebene Konsense so monolithisch ist, wie er dargestellt erscheint.
1. Bullock ist ein anerkannter guter Historiker und seine Aussagen müssen im Kontext seines damaligen Erkenntnisstandes bewertet werden. Und zu dem damaligen Zeitpunkt war es eine sehr gute Darstellung der beiden Diktatoren.
2. Es ist durchaus das Recht von Kershaw, eine derartige Bewertung vorzunehmen. Er baut aber seine historische Darstellung nicht auf diesem Urteil auf. Insofern ist es eher eine "marginale Bewertung".
Unabhängig davon ist sowohl das politische und gesellschaftliche Programm der Umgestaltung der deutschen oder der sowjetischen Gesellschaft durch Hitler/Stalin in beiden Fällen durch "utopische" Vorstellungen / Philosophien gekennzeichnet gewesen. Das erklärt zumindest teilweise, warum Historiker, und andere, auf die angebliche "paranoide" Sichtweise hingewiesen haben, allerdings dabei auch übersehen, dass die beiden Diktatoren ihre Entscheidungen getroffen haben, ohne unseren heutigen Kenntnisstand zu besitzen.
In beiden Fällen sollten, im weberschen Sinne, eine gesellschaftliche Modernisierung vorgenommen werden und es sollten für beide Länder spezifische gesellschaftliche "Experimente" für eine "bessere Gesellschaft" durch einen "gesellschaftlichen Umbau" vorgenommen werden. Inklusive der Bereitschaft im Rahmen dieses "Umbaus" in beiden Fällen Millionen von Opfern (wenngleich auch in einer unterschiedlichen Art) zu intendieren oder zuzulassen.
Und dieses "Programm" war in den jeweiligen "revolutionären Eliten" als konsensuale Vorstellung verankert. Insofern trägt die individuelle Schuldzuweisung, der Hitler/Stalin war es, absolut nicht! Ohne ihren zentralen Anteil / Schuld an dieser Entwicklung und an den Opfern in Frage stellen zu wollen!!
zu 3. Natürlich gibt es keinen "monolithischen Konsens" in Bezug auf die Interpretation von Hitler/Stalin.
Im Prinzip lassen sich für die Darstellung und Erklärung von Stalin oder dem Stalinismus drei unterschiedlichen Ansätze idealtypisch erkennen.
- Die personenbezogene biographische Darstellung von Stalin, wie beispielsweise aktuell bei Service oder Radzinsky. Das "Böse" in Stalin (in Kombination mit der "bösen" ML-Ideologie) ist die Ursache für den Stalinismus. Wer diese Darstellung mag, ist damit gut bedient.
- Die Struktur-Ideologie bezogenen Ansätze, im Rahmen der Totalitarismustheorien erklären den Stalinismus aus dem Aufbau von poliziestaatlichen Organisationsstrukkturen, die durch eine menschenverachtende stalinistische (marxistisch- leninistische Philosophie) Ideologie angetrieben wurde.
Die beiden ersten Ansätze haben allerdings erkennbar ihre Wurzeln in der ideologischen Konfrontation aus dem "Kalten Krieg".
- Eher modernistische Ansätze, die als "revisionistische Schule um Fitzpatrick und anderen bekannt wurde, die sich deutlich gegen die beiden obigen Ansätze positioniert haben und die stalinistische Gesellschaft "ganzheitlicher" betrachten. Also die Interaktionswirkungen der einzelnen Teile des stalinistischen Systems.
Dieser letzte, revisionistische, Ansatz ist insofern durch den "Kalten Krieg" geprägt, als er die schablonenhaften Interpretationen, die auch eine Rolle in der politischen Auseinandersetzung gespielt haben, abgelehnt hat und sich aus der politischen Instrumentalisierung befreien wollte.
Und aus meiner persönlichen Sicht kommen aus dem letztgenannten Ansatz derzeit die bei weitem kompetentesten Darstellungen zum Stalinismus. Sie formulieren einen neuen Standard der Stalinismusforschung, da sie in einem deutlich !!!!! höheren Umfang auf Originalquellen aus russischen Archiven zugreifen und quellengesättigte Antworten geben können, wo andere lediglich spekulieren.
Wie beispielsweise die Beiträge in dem Buch zum Stalinismus
Stalin: A New History - Google Books
oder die Darstellung von Getty zum Herrschaftssystem Stalins in den dreißiger Jahren
Practicing Stalinism: Bolsheviks, Boyars, and the Persistence of Tradition - J. Arch Getty - Google Books
und von Khlevniuk zum inneren Machtzirkel und zum Gulag-System.
Master of the House: Stalin and His Inner Circle - O. V. Khlevni?u?k - Google Books
The History of the Gulag: From Collectivization to the Great Terror - Олег Витальевич Хлевнюк - Google Books