Nochmal Thema "Marsch nach Italien".
Ich lese grade von Dexter Hoyos "Hannibal's Dynasty", das ein wahrer Augenöffner ist. Der Mann hat ein Talent, althergebrachte Deutungen auszuklammern und die Dinge völlig neu zu betrachten, ohne irgendetwas umzukrempeln.
Seine Schilderung des Marsches nach Italien löst elegant und ohne große Dreher jedes Problem, das sich bietet. Warum Abmarsch erst im Mai? Warum die zeitraubende Eroberung Nordspaniens? Warum ließ er sich auf dem Marsch so viel Zeit, obwohl er wusste, dass die Alpen im Oktober schwer passierbar wurden? Warum kein Gefecht mit Scipio? Wo blieben die ganzen Soldaten?
Das Entscheidende, was Hoyos vorbringt, ist, dass Hannibal nichts tat, ehe er nicht wusste, was der Gegner tut. Allein diese These fand ich so verblüffend wie einleuchtend. Man stellt sich immer Hannibal vor, der das gesamte Jahr 218 so, wie es war, vorausgeplant hatte; dabei wissen wir, wie sehr Hannibal seine Aktionen an denen des Gegners ausrichtete, zwar vor allem taktisch, aber hier durchaus auch strategisch. Das nimmt seinem Abenteuer etwas von der Kühnheit, aber es gewinnt an Planung.
Laut Hoyos erfolgte die römische Kriegserklärung im März, sobald die Schifffahrt möglich war und die beiden Konsuln des Vorjahres abkömmlich waren. Hannibal erfuhr davon spätestens im April. Trotzdem marschierte er nicht sofort los, sondern unterwarf erst einmal Nordspanien. Auf einmal, im Mail geht es über die Pyrenäen. Einige moderne Autoren folgern, dass hier erst der Krieg erklärt wurde (durch den Ebroübergang), aber das hat mich noch nie überzeugt - warum Rom so lange brauchte, und warum Hannibal erst so spät handelte (und den Krieg durch eine Flussüberquerung provoziert haben soll, wo Sagunt schon nicht gereicht hatte). Nein - im Mai wusste er, dass zwei konsularische Heere unterwegs waren, eins nach Spanien, eins nach Afrika. Das war zwar keine Überraschung, aber nun hatte er Gewissheit und konnte gezielt agieren.
Hoyos meint, Hannibal habe vorgehabt, Scipio in Gallien abzufangen, und zwar spätestens im Juli. Hannibals Plan sah vor, Scipios Armee auszuschalten - und zwar nicht auf eigenem Gebiet - und damit die Gefahr für Spanien zu bannen, und dann weiterzuziehen nach Italien. Daher hatte er es nicht eilig, als er Scipio entgegenzog. Was Hannibals kompletten Plan umschmiss, war, dass sich die Kelten in der Poebene erhoben hatten und Scipio daher erst viel später als geplant, nämlich im August, an der Rhone stand. Ab hier greift dann wieder das, was oben schon diskutiert wurde - eine Schlacht gegen Scipio wäre zwar möglich gewesen, aber hätte viel Zeit gekostet und ein schnelles Erscheinen in Italien wäre durch den Winter vereitelt worden. Hannibal musste komplett umdisponieren und die Alpen überqueren, bevor das Jahr weiter fortschritt.
Und die ganzen Soldaten? Hoyos vermutet Desertion und/oder Nachhauseschicken. Ich habe den Eindruck, dass moderne Autoren Desertion unter allen Umständen wegdiskutieren wollen - das wäre doch einem Hannibal nicht passiert! - aber wer war denn dieser Hannibal von Mitte 218? Ein junger Heerführer mit einem erfolgreichen Feldzug und einer mühsamen Belagerung, mit einem Heer, dass auf einmal auf einen Feldzug nach Italien soll, wo man bisher immer nur von einer zeitlich begrenzten Kampagne in Südgallien ausgegangen ist - da wird man trotz persönlichen Charismas von heftigen "Abgängen" ausgehen müssen. Der Alpenübergang hat das sicher hingebogen - abgesehen davon, dass man dann nicht mehr so einfach desertieren könnte (oh Gott, den ganzen Weg wieder zurück?), band dieses Unternehmen die Überlebenden eng an ihn.
Hoyos geht allerdings so weit zu sagen, dass der Marsch nach Italien in dieser Form Hannibal den Sieg gekostet hat. Wenn es Hannibals Plan war, mit einem starken Heer eines der römischen zu vernichten und dann in Italien zu stehen, dann konnte man es nicht als Erfolg werten, wenn im Herbst 218 beide römische Heere noch da waren, eins davon weiterhin auf dem Weg nach Spanien, und Hannibals eigenes von knapp 100,000 auf 26,000 eingeschmolzen.
Andererseits - irgendwo mussten die Weggeschickten oder Desertierten ja hin. Sie werden sich kaum ne Gallierin genommen und in der Provence Lavendel angebaut haben. Also fand ein Großteil von ihnen ihren Weg wieder zutück zu Hasdrubal, der sie gut gebrauchen konnte. Dass das bei den antiken Autoren so nicht zu finden ist, macht auch Sinn - Silenos und Sosylos werden kaum offen darüber berichtet haben, dass Hannibal sein halbes Heer abhanden kam, selbst wenn er das kleinere Übel wählte und die Männer zurück nach Spanien schickte, statt sie auf eigene Faust ziehen zu lassen.