Hannibal: Warum Alpenüberquerung?

DAS ist ein guter Punkt! Natürlich. Er war ja ohnehin schon erheblich später dran als geplant. Und eine von einer Schlacht (auch gewonnenen) angeschlagene Armee hätte in den Alpen sicher noch erheblich mehr Probleme bekommen.
 
Meinen Faden jetzt weiterzuspinnen wird immer spekulativer…: :grübel:



Ich kann Seiberts Annahme wenig abgewinnen, dass Hannibal bei seinem Marsch auf Italien so etwas wie eine mehr oder weniger „offene“, vielleicht sogar mit „Etappen“ versehene „ständige Verbindung“ nach Spanien aufrecht erhalten habe. Bei dieser Annahme konnte er sich keine große, intakte römische Armee in seiner exponierten Flanke wünschen. Für den Anmarsch hatte Hannibal vorgesorgt, durch Abkommen mit Einheimischen für Nachschub an Nahrung und Verbrauchsmaterialien. Bei seinem langen Treck dürfte es mehr als nur einfache Abnutzungserscheinungen gegeben haben, ganz abgesehen von den Anforderungen einer Alpenüberquerung… Aber nach seinem Durchmarsch eine gewisse „Infrastruktur“ aufrecht erhalten zu wollen? :nono: Diplomatische Kontakte, Botendienste… hmm… Ja? Aber mehr? Diese Verbindungen wären m.E. wohl mehr als Aufwändig (falls ständig), wenig nutzbringend und viel zu anfällig & bedroht gewesen… (Meine Charakterisierung von Seiberts Gedanken ist sehr verkürzend)

Ein Sieg in Südfrankreich hätte Hannibal wohl kaum einen größeren Blumentopf zugespielt. Vielleicht nicht einmal ein Mauerblümchen – um im Bilde zu bleiben. An einer generell bedrohten „Verbindung“ hätte sich nichts Wesentliches geändert. Da kaum davon auszugehen ist, dass er neben der römischen Armee auch Marseille irgendwie in seine Hand hätte bekommen können – ohne unverzeihliche Verluste! Auch so sollte sich Rom in der Lage zeigen ihm nach Überquerung der Alpen beeindruckende Neuaufstellungen entgegenzustellen. Der ganze Zug basierte auf Schnelligkeit und Überraschung! Zu Recht hat Ravenik auf die fortgeschrittenen Jahreszeit für eine Alpenüberquerung hingewiesen, auch ohne eine direkte Konfrontation mit den Römern an der Rhone. Dabei dominierten Roms Flotten das angrenzende Meer…

Dass die Römer auf seinen Vorbeimarsch mit einer Schwächung ihrer Armee reagieren würden, war doch vielleicht eher ein Vorteil für die Karthager! Die später in Spanien einfallende Armee war somit schwächer als geplant. Die Barkiden hatten dort ohnehin nicht unbeträchtliche Truppen für einen solchen Fall vorbereitet. Von ihren spanischen „Verbündeten“ konnten sie „Heimatnah“ doch eher angemessene Verstärkungen einfordern. Wie die weitere Geschichte zeigen sollte, konnte sich Karthago in Spanien auch gewisse Rückschläge leisten, solange man keine Katastrophe erlitt. Eine komplette Verlegung nach Italien wäre wohl gefährlicher gewesen für Hannibals Pläne! Aber dass ein ehrgeiziger Konsul die Chance für Beute und Ruhm im Ausland gegen einen langwierigen Kampf gegen eine Armee im eigenen Lande fahren ließ…?

Natürlich zielte der Zug der Scipionen nach Spanien auf die gleichen Effekte, auf die Hannibal in Italien baute: Den Feind schwächen und Verbündete zum Überlaufen bringen, aber vornehmlich die Quellen des karthagischen Reichtums zu gewinnen! Doch hatte Hannibal nach Kräften vorgesorgt, soweit es das italienische „Abenteuer“ erlaubte. Nun ließen die Römer zumindest Teilkräfte zurück… Ob Hannibal die mögliche Schwächung der eigenen Lage in Spanien als wichtig genug angesehen hätte, um seinen eigenen Eröffnungsschlag in Italien aufzuhalten oder gar substantiell zu gefährden, darf bezweifelt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein spektakulärer früher Sieg über Rom, die Römer über die Dimension der Gefährdung Italiens unzeitgemäß früh aufgeklärt hätte. Ganz allgemein unterschätzte man zu Beginn des Krieges die karthagische Stärke und Widerstandskraft wohl ganz erheblich, wie Seibert [„Hannibal“] m.E. gut ausführt. Man war eher der Meinung es mit einem unkriegerischen und leichten Gegner zu tun zu haben… Ein Eindruck, der durch eine Reihe erfolgreicher Erpressungen zwischen den ersten beiden punischen Kriegen nur gefördert sein musste… Wie weit ein solcher Eindruck auch innerhalb des karthagischen Rates vorbreitet war, muss unklar bleiben. Zu Kriegsbeginn erscheinen die Anstrengungen teils eher wie ein Privatkrieg der Barkiden, denn gesamtkarthagisches Anliegen zu sein. Aber hier können die sehr tendenziellen Quellen noch mehr täuschen als üblich! Sollte dies aber ein zu berücksichtigendes Politikum gewesen sein, wären dann Erfolge in Italien nicht beeindruckender?
 
Ich sehe das wie du, tejason - ich stehe Seiberts Stützpunkt-Vermutung sehr skeptisch gegenüber. Sie hakt für mich auch an zu vielen Ecken und Enden - man kann Südgallien nicht im Vorbeigehen besetzen und offen halten, schon gar nicht gegen römischen und einheimischen Widerstand, mit dem Hannibal fest rechnen konnte. Da finde ich Seiberts späteren Einwand, Hannibal habe auf der Erztafel seine "Ankunftsszahlen" in Italien heruntergespielt, um seine Siege größer wirken zu lassen, schon plausibler.

Den Eindruck, dass Hannibal an den scipionischen Legionen quasi vorbeischlüpfte, um seinen großen Trumpf auf italischem Boden auszuspielen, habe ich auch (verstärkt sicher auch durch die Behandlung in der Belletristik). Der völlig unterschätze "Krämergeneral" Hannibal, der die Römer völlig überrascht trifft, ist ja quasi schon ein literarischer Topos.

Die Frage nach dem barkidischen Privatkrieg ist spannend. Die Hinweise in den Quellen, dass Karthago in irgendeiner Weise involviert war, sind ja mehr als dürftig (wenn auch präsent, indem es Hannibal hinsichtlich des Vorgehens gegen Sagunt eine komplette carte blanche ausstellte). Beide Varianten lassen sich sicher argumentieren. Dass Hannibal zwar sehr autark agierte, aber in all der Zeit nichts gegen den Willen oder (falls wichtig genug) ohne Zustimmung des Rates unternahm, lässt mich trotzdem eher gegen das den Barkiden gerne unterstellte Streben nach semi-Königswürde argumentieren. Die Tatsache, dass unsere Quellen erstens römisch, zweitens im Bezug auf den karthagischen Rat Hannonisch (über die Beziehungen der Hanno-Partei zu römischen Handelspartnern) geprägt sind, lässt aufgrund ihrer Einseitigkeit viel mehr als vorsichtige Vermutungen kaum zu (aber das gilt ja für fast alles an der Überlieferung zu den punischen Kriegen).
 
Nochmal Thema "Marsch nach Italien".

Ich lese grade von Dexter Hoyos "Hannibal's Dynasty", das ein wahrer Augenöffner ist. Der Mann hat ein Talent, althergebrachte Deutungen auszuklammern und die Dinge völlig neu zu betrachten, ohne irgendetwas umzukrempeln.

Seine Schilderung des Marsches nach Italien löst elegant und ohne große Dreher jedes Problem, das sich bietet. Warum Abmarsch erst im Mai? Warum die zeitraubende Eroberung Nordspaniens? Warum ließ er sich auf dem Marsch so viel Zeit, obwohl er wusste, dass die Alpen im Oktober schwer passierbar wurden? Warum kein Gefecht mit Scipio? Wo blieben die ganzen Soldaten?

Das Entscheidende, was Hoyos vorbringt, ist, dass Hannibal nichts tat, ehe er nicht wusste, was der Gegner tut. Allein diese These fand ich so verblüffend wie einleuchtend. Man stellt sich immer Hannibal vor, der das gesamte Jahr 218 so, wie es war, vorausgeplant hatte; dabei wissen wir, wie sehr Hannibal seine Aktionen an denen des Gegners ausrichtete, zwar vor allem taktisch, aber hier durchaus auch strategisch. Das nimmt seinem Abenteuer etwas von der Kühnheit, aber es gewinnt an Planung.

Laut Hoyos erfolgte die römische Kriegserklärung im März, sobald die Schifffahrt möglich war und die beiden Konsuln des Vorjahres abkömmlich waren. Hannibal erfuhr davon spätestens im April. Trotzdem marschierte er nicht sofort los, sondern unterwarf erst einmal Nordspanien. Auf einmal, im Mail geht es über die Pyrenäen. Einige moderne Autoren folgern, dass hier erst der Krieg erklärt wurde (durch den Ebroübergang), aber das hat mich noch nie überzeugt - warum Rom so lange brauchte, und warum Hannibal erst so spät handelte (und den Krieg durch eine Flussüberquerung provoziert haben soll, wo Sagunt schon nicht gereicht hatte). Nein - im Mai wusste er, dass zwei konsularische Heere unterwegs waren, eins nach Spanien, eins nach Afrika. Das war zwar keine Überraschung, aber nun hatte er Gewissheit und konnte gezielt agieren.

Hoyos meint, Hannibal habe vorgehabt, Scipio in Gallien abzufangen, und zwar spätestens im Juli. Hannibals Plan sah vor, Scipios Armee auszuschalten - und zwar nicht auf eigenem Gebiet - und damit die Gefahr für Spanien zu bannen, und dann weiterzuziehen nach Italien. Daher hatte er es nicht eilig, als er Scipio entgegenzog. Was Hannibals kompletten Plan umschmiss, war, dass sich die Kelten in der Poebene erhoben hatten und Scipio daher erst viel später als geplant, nämlich im August, an der Rhone stand. Ab hier greift dann wieder das, was oben schon diskutiert wurde - eine Schlacht gegen Scipio wäre zwar möglich gewesen, aber hätte viel Zeit gekostet und ein schnelles Erscheinen in Italien wäre durch den Winter vereitelt worden. Hannibal musste komplett umdisponieren und die Alpen überqueren, bevor das Jahr weiter fortschritt.

Und die ganzen Soldaten? Hoyos vermutet Desertion und/oder Nachhauseschicken. Ich habe den Eindruck, dass moderne Autoren Desertion unter allen Umständen wegdiskutieren wollen - das wäre doch einem Hannibal nicht passiert! - aber wer war denn dieser Hannibal von Mitte 218? Ein junger Heerführer mit einem erfolgreichen Feldzug und einer mühsamen Belagerung, mit einem Heer, dass auf einmal auf einen Feldzug nach Italien soll, wo man bisher immer nur von einer zeitlich begrenzten Kampagne in Südgallien ausgegangen ist - da wird man trotz persönlichen Charismas von heftigen "Abgängen" ausgehen müssen. Der Alpenübergang hat das sicher hingebogen - abgesehen davon, dass man dann nicht mehr so einfach desertieren könnte (oh Gott, den ganzen Weg wieder zurück?), band dieses Unternehmen die Überlebenden eng an ihn.

Hoyos geht allerdings so weit zu sagen, dass der Marsch nach Italien in dieser Form Hannibal den Sieg gekostet hat. Wenn es Hannibals Plan war, mit einem starken Heer eines der römischen zu vernichten und dann in Italien zu stehen, dann konnte man es nicht als Erfolg werten, wenn im Herbst 218 beide römische Heere noch da waren, eins davon weiterhin auf dem Weg nach Spanien, und Hannibals eigenes von knapp 100,000 auf 26,000 eingeschmolzen.

Andererseits - irgendwo mussten die Weggeschickten oder Desertierten ja hin. Sie werden sich kaum ne Gallierin genommen und in der Provence Lavendel angebaut haben. Also fand ein Großteil von ihnen ihren Weg wieder zutück zu Hasdrubal, der sie gut gebrauchen konnte. Dass das bei den antiken Autoren so nicht zu finden ist, macht auch Sinn - Silenos und Sosylos werden kaum offen darüber berichtet haben, dass Hannibal sein halbes Heer abhanden kam, selbst wenn er das kleinere Übel wählte und die Männer zurück nach Spanien schickte, statt sie auf eigene Faust ziehen zu lassen.
 
Und die ganzen Soldaten? Hoyos vermutet Desertion und/oder Nachhauseschicken. Ich habe den Eindruck, dass moderne Autoren Desertion unter allen Umständen wegdiskutieren wollen - das wäre doch einem Hannibal nicht passiert! - aber wer war denn dieser Hannibal von Mitte 218? Ein junger Heerführer mit einem erfolgreichen Feldzug und einer mühsamen Belagerung, mit einem Heer, dass auf einmal auf einen Feldzug nach Italien soll, wo man bisher immer nur von einer zeitlich begrenzten Kampagne in Südgallien ausgegangen ist - da wird man trotz persönlichen Charismas von heftigen "Abgängen" ausgehen müssen.
Seibert argumentiert genau in die andere Richtung. Ihm zufolge sei es erstaunlich, dass es - vor allem nach Cannae - keine Meutereien in Hannibals Heerlager gab. Er erklärt das letztlich damit, dass Hannibal in jeder Waffengattung eine Ausbildung hatte und durch sein Leben mit Soldaten verschiedener Völker seit frühester Jugend deren Bedürfnisse gut kannte und auf sie eingehen konnte.

Seibert meint im Übrigen auch, dass Hannibal auf die Idee über die Pyrenäen und Alpen zu ziehen gekommen sei, weil er sich am Herakles-Mythos orientierte.
Herakles war ja der punische Gott Melkqart (gräkisiert Melikertes, Bedeutung: 'König der Stadt') und hatte in seiner zehnten Aufgabe die Rinder des Geryon gestohlen, die dieser in der Umgebung von Cádiz weidete (bzw. weiden ließ).
Ich kann Seibert hier nicht ganz folgen, da die Route die Herakles nach Cádiz nahm, ihn über Afrika (Lybien) führte und auf der Route zurück er Sizilien schwimmend erreichte... :confused:
 
Seibert argumentiert genau in die andere Richtung. Ihm zufolge sei es erstaunlich, dass es - vor allem nach Cannae - keine Meutereien in Hannibals Heerlager gab. Er erklärt das letztlich damit, dass Hannibal in jeder Waffengattung eine Ausbildung hatte und durch sein Leben mit Soldaten verschiedener Völker seit frühester Jugend deren Bedürfnisse gut kannte und auf sie eingehen konnte.

Ich finde, das ist kein Widerspruch. Meutereien sind auch noch einmal eine ganz andere Sache als Leute, die nasse Füße kriegen und sich verdünnisieren. Das, was nach Cannae noch übrig war und Hannibal treu ergeben, war (neben knapp 50% keltischen Neuzugängen) Hannibals Elite, die ihn vermutlich im Feldlager mit großgezogen hatte. Um die hatte er sich nie Sorgen machen müssen. Aber von den fast hunderttausend Soldaten, die er Ende des Winters 219/218 in Cartagena versammelt hatte, waren jede Menge Neuanwerbungen der letzten Monate. Da kann die Bindung so stark noch nicht gewesen sein. Ich denke, sobald klar war, dass es über die Alpen ging, gab es noch einmal demonstrative Entlassungen in die Heimat.

Dass Hannibal mit seinem Herr meisterhaft umging und es verstand, die Soldaten an seine Person zu binden, das steht außer Frage, auch schon vor dem Alpenübergang. Aber auch hier denke ich, dass es die Sache zu sehr vereinfacht, eine Beziehung zu sehen, die sich in all den Jahren nicht veränderte.

Der Melqart-Mythos steht den o. g. Ausführungen auch nicht entgegen. Und nach Italien zu schwimmen wäre natürlich die einfachste Lösung gewesen. (Ich stell mir grad ein paar murrende Balearen in den Alpen vor... "Wir hätten schwimmen sollen...") Seibert meint aber vor allem das Wagnis der Alpen als solche, wenn ich mich recht entsinne, und nicht die komplette Strecke als unverrückbare All-inclusive-Tour. :D
 
Der Melqart-Mythos steht den o. g. Ausführungen auch nicht entgegen. Und nach Italien zu schwimmen wäre natürlich die einfachste Lösung gewesen. (Ich stell mir grad ein paar murrende Balearen in den Alpen vor... "Wir hätten schwimmen sollen...") Seibert meint aber vor allem das Wagnis der Alpen als solche, wenn ich mich recht entsinne, und nicht die komplette Strecke als unverrückbare All-inclusive-Tour. :D

Was ich meinte ist, dass Melkqart/Herakles ja dem Mythos zufolge Pyrenäen und Alpen überhaupt nicht überquerte, da er zunächst über Afrika kam und dann übers Meer verschwand.
 
Seibert meint im Übrigen auch, dass Hannibal auf die Idee über die Pyrenäen und Alpen zu ziehen gekommen sei, weil er sich am Herakles-Mythos orientierte.
Das halte ich schon für arg an den Haaren herbei gezogen. Wenn man mit einem Heer von Spanien nach Italien will, gibt es schließlich nur zwei Möglichkeiten: Übers Meer oder über die Pyrenäen und die Alpen. Auf die Idee zu kommen, dass man über das Land marschieren könnte, ist keine so bahnbrechende geistige Leistung, dass Hannibal nicht selbst darauf kommen konnte, sondern auf einen griechischen Mythos angewiesen war, von dem er abkupfern konnte. Und wenn man ihm das schon nicht zutraut, könnte man ebenso gut annehmen, dass er aus dem Umstand, dass Kelten sowohl in Gallien als auch in der Poebene als auch in Spanien lebten, seine Schlüsse gezogen haben könnte.

Herakles war ja der punische Gott Melkqart (gräkisiert Melikertes, Bedeutung: 'König der Stadt') und hatte in seiner zehnten Aufgabe die Rinder des Geryon gestohlen, die dieser in der Umgebung von Cádiz weidete (bzw. weiden ließ).
Dass die Griechen den phönizischen Gott Melqart mit ihrem Herakles gleichsetzten, bedeutet aber nicht automatisch, dass auch die Karthager den Mythos um Herakles für ihren Melqart übernahmen. (Ich nehme an, es wird keine Belege dafür geben?) (Im Übrigen gab es griechische Autoren, die von zwei verschiedenen Männern namens Herakles ausgingen: Dem aus der griechischen Mythologie und dem der Phönizier.) Wenn aber die Karthager nicht den griechischen Mythos übernommen hatten: Hannibal war zwar sicher griechisch gebildet, aber ob seine Kenntnisse der griechischen Mythologie wirklich so weitreichend waren? (Es war auch nicht so, dass Geryon von allen Autoren weit im Westen verortet worden wäre.)

Ich kann Seibert hier nicht ganz folgen, da die Route die Herakles nach Cádiz nahm, ihn über Afrika (Lybien) führte und auf der Route zurück er Sizilien schwimmend erreichte...
Es existierten offenbar verschiedene Überlieferungen.
Laut Diodor, der sich auf ältere Autoren stützte, segelte Herakles nach Kreta und von dort nach Afrika, das er entlangzog, während ihm seine Flotte folgte, und setzte bei Gadeira nach Spanien über. Von Spanien zog er durch Gallien (wo er Alesia gründete) und über die Alpen nach Italien. Von Süditalien aus setzte er dann schwimmend über die Straße von Messina nach Sizilien, wobei er obendrein nicht selbst schwamm, sondern sich am Horn eines Stiers festhielt. Nach einigen Abenteuern in Sizilien kehrte er nach Italien zurück und zog um die Adria herum nach Hause.
Bei Pseudo-Apollodor kam Herakles ebenfalls durch Afrika nach Spanien, von dort nach Tyrrhenien (ob auf dem See- oder Landweg, schreibt er nicht). Bei Rhegion büxte ihm ein Stier aus und schwamm nach Sizilien, weshalb Herakles ihm folgte.
 
Mythos und Feldherren

@Hoyos-Buch: Interessante Überlegungen, vielleicht erfahren wir noch mehr von dir darüber?

@Melqart
Der ganze Melqart/Herakles – Mythos war wohl kaum Grundlage für einen Plan. Eher war der Gott wohl für Hannibal eine wichtige Gottheit, der er sich verbunden fühlte. Als er dann gegen Italien zog und wusste, dass sowohl in Italien, als auch bei den Griechen etc. der Mythos mit den Rindern... bekannt war, baute er zusätzlich darauf und nutze ihn geschickt für seine Propaganda. Damit stand er ganz in der hellenistischen Tradition von Alexander dem Großen, der sich auch diesem Gotte sehr verbunden gesehen hatte. So sehr, dass Alexander die Verweigerung eines Opfers im Haupttempel des Melqart innerhalb der Inselstadt durch Tyros (trotz prinzipieller "Unterwerfung", also der Abkehr der Stadt vom achämenidischen Perserreich) "reichte", ihn die Stadt angreifen zu lassen. Er belagerte die Stadt, verband sie mit einem Damm mit dem Festland und stürmte sie – um anschließend eine feierliche Opferung im Tempel vornehmen zu können. Wie weit hierbei sowohl das königliche Opfer (des Herkules-Sprosses), als auch dessen Ablehnung politisch motiviert war, sei einmal dahingestellt...

Also der Bezug zum größten aller hellenistischen Feldherren (auch Hannibal war eigentlich ein hellenistischer Feldherr) kann als gewollt vorausgesetzt werden! Die Episode war nicht nur in den zukünftigen Zielorten seines Feldzugs bekannt, sondern auch in Karthago (als Tocherstadt von Tyros!) und sicherlich äußerst populär im hellenistisch geprägten, „internationalen“ Söldnerwesen des Mittelmeerraumes… Der ganze Mythos war also wenigstens ein geschickter Propagandazug im Hinblick auf seine Soldaten, seinen Selbstanspruch, die Menschen im zukünftigen „Operationsgebiet“ Italien und zur politischen, wie persönlichen Bindung diverser Kräfte auf ihn als Person. Ob er nun die griechische Gleichsetzung der punisch/phönizischen Gottheit mit jener der Griechen nun glaubte ist dabei m.E. unerheblich. Ein Mythos gründet sich ohnehin nicht allzu sehr auf Fakten, denn auf Suggestionskraft.

Danke für die Übersicht zu den älteren Mythen, auf denen Hannibal aufbaute.

Eine interessante Episode in Erinnerung an Alexander (und Hannibal) ist auch das Klagen des großen Korsen Napoleon darüber, dass er sich nicht wie einst jene einer entsprechen göttlichen Herkunft bedienen könne. (Details wissen vielleicht die Napoleon-Experten im Forum, ich habe das nur schwach in Erinnerung). Nicht nur die antiken Feldherren (später auch römische!) bedienten sich gerne solcher Mythen und Abstammungsgeschichten um die eigenen Truppen enger an sich zu binden….

Kurz: Ich halte die entsprechenden Erzählungen vor dem Hintergrund der hellenistischen Zeit für unbedingt nachvollziehbar – ungeachtet jeglicher „theologischer“ Interpretation. Eine den heutigen theologischen Kategorien entsprechende „Kirche“ mit „absoluter Durchsetzungskraft“ für die polytheistischen Götterwelten gab es in der Antike schlichtweg nicht. Viele Erzählungen über die Götterwelt die heute als klassisch gelten widersprechen sich in zahlreichen Details…

@Soldatenbindung:
Wie sehr Soldaten an ihren Feldherren hängen, sobald sie gemeinsame Schlüsselerlebnisse und Strapazen ausgestanden hatten zeigt gerade die antike Militärgeschichte zuhauf. Anfangs, wenn die Bindungen neu und nicht eingespielt waren, konnten sich die Führer auf ihre Truppen weniger verlassen, als nach diesen Schlüsselerlebnissen. Die Überlegungen, die Eichelhäher schildert im Kontext mit Desertationen sind nur zu bestätigen. In Italien selbst war die Bindung der Truppen (wenigstens der Veteranen) an Hannibal so groß, dass er sich unbedingt auf sie verlassen konnte, wozu ihm sein erworbenes Ansehen und sein persönliches Geschick im Umgang mit seiner „multinationalen“ Truppe zusätzlich befähigte. Ich glaube Seibert deutet auch an, dass es unter Hannibals Truppen in der italischen „Spätphase“ fast schon etwas wie eine religiös verbrämte Treue gegeben habe, die ich salopp mit dem Wort „Sekte“ umschreiben möchte – freilich eine polytheistische!

Wie Eichelhäher sehe auch ich keinen Widerspruch zwischen wahrscheinlichen Desertationen zu Beginn des Feldzuges laut Hoyos und dem Geschick Hannibals in Italien, Meutereien zu verhindern – eben indem er die Soldaten an sich zu binden verstand.

@“Wegschicken von Soldaten“
Das besagte „Wegschicken“ vor dem Alpenübergang alleine als Verbrämung massiver Desertationen mag nicht ganz von der Hand zu weisen sein. Aber ich möchte zu bedenken geben, dass Hannibal eine gemischte Armee von Söldnern und Verbündeten mit sich führte. Erst recht, wenn die Überlegung von Hoyo zutrifft,der ursprüngliche Plan habe einen Sieg in Südgallien über die Römer zum Ziel gehabt! Gerade in diesem Fall mag die Heeresfolge verschiedener Hilfskontingente, die gerade iberische Stämme zu stellen hatten auch an bestimmte Bedingungen gebunden gewesen sein, die jenseits der Alpen nicht mehr unumstritten gewesen sein mögen? Etwa, wenn Kontingente nur für gewisse Zeit oder mit einem konkreten Operationsziel/Heimatentfernung gekoppelt gewesen wären. Gerade politische Koalitionen auf Goodwill-Basis mussten/müssen oft mit derartigen Restriktionen leben: So wie die Finnen in ihrem „Parallelkrieg“ 1941 gegen die UdSSR nicht über die finnischen Grenzen von vor 1940 hinaus weitermarschieren wollten..., siehe Leningrad. Man kann aber auch einwenden, dass derartige, wenig gefestigten Koalitionen in der Antike eher unüblich waren, sondern der Stärkere „Partner“ hier generell zu unbedingter Dominanz tendierte. Politische Klugheit schließen derartige Einwände aber nicht aus. Auch gebe ich hier wieder Alexander zu bedenken, der ab einem bestimmten Punkt seines Feldzuges, die ihm unterstehenden griechischen Kontingente des thessalischen Bundes nach Hause entließ… Hier möchte ich nicht entscheiden müssen, welche [oder in Kombination?] Variante nun damals zugetroffen haben mag...?
 
Gerade in diesem Fall mag die Heeresfolge verschiedener Hilfskontingente, die gerade iberische Stämme zu stellen hatten auch an bestimmte Bedingungen gebunden gewesen sein, die jenseits der Alpen nicht mehr unumstritten gewesen sein mögen? Etwa, wenn Kontingente nur für gewisse Zeit oder mit einem konkreten Operationsziel/Heimatentfernung gekoppelt gewesen wären.

Guter Punkt, tejason; das würde perfekt ins Bild passen.

Wenn Hoyos noch etwas bahnbrechend Neues parat hat, teile ich es gerne. Das war bisher so der große Augenöffner; ich bin grade mitten im Italienfeldzug, der wird bisher recht kurz abgefrühstückt. Ausführlicher geht's dann wieder mit der Nachkriegszeit zu. Ich melde mich. :)
 
Und die ganzen Soldaten? Hoyos vermutet Desertion und/oder Nachhauseschicken. [...] mit einem Heer, dass auf einmal auf einen Feldzug nach Italien soll, wo man bisher immer nur von einer zeitlich begrenzten Kampagne in Südgallien ausgegangen ist - da wird man trotz persönlichen Charismas von heftigen "Abgängen" ausgehen müssen. [...]
Hoyos geht allerdings so weit zu sagen, dass der Marsch nach Italien in dieser Form Hannibal den Sieg gekostet hat. Wenn es Hannibals Plan war, mit einem starken Heer eines der römischen zu vernichten und dann in Italien zu stehen, dann konnte man es nicht als Erfolg werten, wenn im Herbst 218 beide römische Heere noch da waren, eins davon weiterhin auf dem Weg nach Spanien, und Hannibals eigenes von knapp 100,000 auf 26,000 eingeschmolzen.

Andererseits - irgendwo mussten die Weggeschickten oder Desertierten ja hin. Sie werden sich kaum ne Gallierin genommen und in der Provence Lavendel angebaut haben. Also fand ein Großteil von ihnen ihren Weg wieder zutück zu Hasdrubal, der sie gut gebrauchen konnte. [..]

Interessante Aspekte! Tejason's Ergänzung bezüglich der Bedingungen der Truppenstellungen sind ebenfalls nur schwer von der Hand zu weisen, wobei ich hier dennoch mit einem kleinen Dorn stechen möchte [was folgt ist jedoch sämtlich Spekulation meinerseits, da mir zu der Thematik keine Quellen zugänglich sind :cry:]:

Sollten die mutmaßlich zurückgeschickten Kontingente den jüngst unterworfenen Stämmen angehört haben, hätte doch die Gefahr bestanden, dass ihre Rückkehr in ihre Heimat die barkidische Herrschaft destabiliseren konnte. Bei frisch unterworfenen Stämmen dürfte doch noch nicht davon auszugehen gewesen sein, dass gegenüber der Fremdherrschaft nun eitel Lieb und Sonnenschein geherrscht haben - insbesondere nicht in der Ex-Führungsschicht. Die zurückgekehrten Truppenkörper hätten ihren Stammesoberen nun eine eingeübte und mit der Kampfesweise der Karthager vertraute Waffe in die Hand gegeben...

Für die enorme Reduzierung der Truppen Hannibals zum und/oder nach dem Alpenübergang möchte noch drei zusätzliche mögliche Thesen anführen, die sich m. E. nicht einmal gegenseitig ausschließen:

These 1:
Hannibal hat bereits vor Überquerung der Alpen sein Heer aus logistischen Gründen auf seinen Kern reduziert. Ein solches Expeditionskorps beinhaltete schlicht nicht so viele Mäuler & Mägen, die in den unwirtlichen Alpen zu füllen waren. Weniger Füße, die aufgeweichte Wege durch Zertrampeln gänzlich unpassierbar machten. Weniger Zelte, die in einem gegebenen engen Tal aufgebaut werden mussten. Höhere Marschgeschwindigkeit durch die Alpen auf Grund der geringeren Größe des Heeres. Hannibal wollte ja überraschend in Italien auftauchen und nicht nach langer Irrfahrt das letzte Tal von einem eingegrabenen römischen Heer gesperrt auffinden. Ab einer bestimmten Größe wäre m. E. ein Heer nicht mehr in der Lage gewesen, die Alpen schnell und ohne extreme Verluste zu überqueren, da man sich schlichtweg selbst im Weg gestanden hätte.
Für den Fall, dass Hannibal die politische Lage in der Po-Ebene bekannt war, dürfte er zu Recht darauf vertraut haben, sein Heer nach dem Übergang über die Alpen wieder aufwachsen zu sehen.

These 2:
Wie Du richtig anführst, war das für die iberische Halbinsel bestimmte römische Heer noch intakt. Womöglich hat Hannibal deshalb einen erheblichen Teil seines ursprünglichen Heeres dorthin gesandt, wo sie mehr nutzten: nämlich zur Verteidigung der Position in Iberien! Besser dort, als dass sie seinen Kerntruppen schlotternd auf einem Alpenpfad im Weg rumzustanden.

These 3: (die eigentlich keine These mehr ist)
Praktisch jedes große Heer auf dem Marsch schwindet zusammen aus einem Gemisch aus allen o. a. Gründen: Fußkranke, Detachments, Desertion (u. a. im Einzelfall auch, um die hübsche Gallierin vom zuletzt passierten Hof zu freien), ggf. Hinrichtungen wegen Plünderns oder Messerstecherei, Krankheit & Epidemien, wegen denen die Erkrankten zurückgelassen werden mussten, Verletzung, Verluste bei kleinen, aber vielen Flanken-, Vorhut-, Nachhutgefechten. Viele wenige ergeben im Verlauf einer Feldzugssaison auch schon ein Viel...
 
Passt alles hervorragend zusammen, Neddy - gute Ausführungen!

Zu These 1 wäre interessant zu wissen, an welchen Punkten die Abgänge zu verzeichnen waren. Wir wissen nur von denen in Nordspanien (durch Kämpfe), und an den Pryenäen (Entlassungen der Mutlosen).

Ein größeres Kontingent an der Rhone - dem Punkt, an dem die weitere Planung feststand - zurückzuschicken, ist reizvoll und militärisch äußerst sinnig, aber aus zwei Gründen problematisch - es war für Hannibal schon nicht einfach, eine Armee von Scipio abzusetzen und in nördlicher Richtung zu führen; man musste eine Verfolgung befüchten. Eine zweites großes Kontingent wieder nach Westen zu schicken, wäre riskant gewesen. Vermutlich hätte man auch davon gehört; das hätte Scipio kaum verborgen bleiben können.

Man muss diese großen Abgänge wohl vor der Rhone annehmen (Polybios meldet die Heeresstärke an der Rhone als etwas über 50,000).

Es sei denn, man verortet sie nach Abschüttelung der Verfolgung durch Scipio und erklärt damit auch die horrenden Alpenverluste für falsch, indem man gute 10,000 Mann zu denen erklärt, die zur Sicherungs Spaniens zurückgeschickt wurden. Höchst verlockend aus so vielen Gründen - Verkleinerung der Armee vor dem unwegsamen Marsch; Schutz Spaniens; Siegessicherheit Hannibals - leider jedoch jeglicher Textgrundlage entbehrend und pure Spekulation...

Dass er in hohem Maße Neuzugänge aus dem frisch eroberten Teil Spaniens in seinem Heer hatte und dann genau die zurückschickte, kann ich mir nicht vorstellen; das widerspricht allem, was ich über Hannibals Umgang mit seinen Truppen weiß (insbesondere den Truppenverschiebungen Anfang des Jahres, als er iberische Kontingente nach Afrika, afrikanische nach Iberien entsandte). Es mögen einige gewesen sein, aber nicht in einem Maße, um die Ränge der Anti-Karthago-Fraktion anschwellen zu lassen.

Um die Verhältnisse in Norditalien wusste Hannibal: er rechnete fest damit, sein Heer dort wieder aufstocken zu können; soviel ist sicher. Trotzdem ist es natürlich eine ziemliche Milchmädchenrechnung, wenn man annimmt, er habe 20,000 Mann an höchst zuverlässigen Iberern und Afrikanern in Kauf nehmend geopfert, um sie dann mit der gleichen Zahl an Fremden wieder aufzustocken.

Hoyos hat für die Verluste des Alpenübergangs - den er übrigens für ein planungstechnisches Fiasko hält - noch eine weitere Theorie, die ebenfalls gut ins Bild passt. Hannibal hatte ja den Weg vorher erkunden lassen und die dortigen Kelten auf seine Seite gezogen - so glaubte er. Hoyos stellt die Vermutung auf, dass Hannibal die falschen Ortsansässigen auf seine Seite zog und dann - aus Ortsunkenntnis, durch Verrat oder durch Unpassierbarkeit - gezwungen war, einen Pass weiter nördlich zu nehmen, der ihn nicht dort durchführte, wo er eigentlich hinwollte. Das würde meines Erachtens einiges erklären.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich bin etwas skeptisch, ob Hannibal wirklich so "hellenistisch" und von entsprechendem Denken geprägt war. Er wurde vom Spartaner Sosylos in griechischer Literatur unterrichtet, aber das macht ihn noch nicht zum Hellenisten. Letztlich wissen wir eigentlich recht wenig über die Person Hannibal und sein Denken. Aber seine Sozialisation hatte er nicht in einer griechischen Akademie oder einem griechischen Gymnasion erhalten und auch nicht in Diensten eines hellenistischen Herrschers, sondern in seiner frühen Kindheit in Karthago und dann im Kriegsgebiet Spanien, unter Karthagern, Iberern und Söldnern verschiedenster Herkunft. Er hatte dann auch eine Ibererin geheiratet.
 
Zumindest seine Kriegsführung ist zumindest in Einzelheiten eher hellenistisch geprägt als karthagisch (Erzwingen einer Entscheidungsschlacht, um dann einen Frieden zu diktieren; Einsatz der Kavallerie zum Überflügeln des Gegners; Kriegselefanten; natürlich, die Phalanx fehlt). Persönliches ist natürlich kaum mehr greifbar. Eine weitere These zum Heeresschwund auf dem Marsch fand ich jüngst in Robert L. O' Connells ""The Ghosts of Cannae": Militärischer Darwinismus. Klartext: Wer in Oberitalien noch dabei ist, der taugt was. Ob Hannibal wirklich derart zynisch zu Werke gegangen ist (von 105.000 auf 26.000?!!), ist sicher fraglich und steht im Widerspruch zu anderen überlieferten Aktionen.
 
Zumindest seine Kriegsführung ist zumindest in Einzelheiten eher hellenistisch geprägt als karthagisch (Erzwingen einer Entscheidungsschlacht, um dann einen Frieden zu diktieren; Einsatz der Kavallerie zum Überflügeln des Gegners; Kriegselefanten; natürlich, die Phalanx fehlt).
Die Frage ist: Was ist "hellenistische" Kriegsführung? Vieles ergibt sich logisch (z. B. setzt man Kavallerie, sofern sie nicht eine explizite Schockkavallerie ist wie Kataphrakten, nun einmal besser zum Überflügeln ein als für Frontalangriffe auf die gegnerische Infanterie), vieles haben die hellenistischen Reiche selbst von anderen übernommen. Die hellenistischen Armeen waren eine Art "Best of" der militärischen Traditionen ihres Einzugsbereichs. Die schwere Phalanx, das Erbe der klassischen Griechen bzw. der sie fortentwickelnden Makedonier, die das Herzstück auch der hellenistischen Armeen bildete, fehlte, wie Du selbst schon festgehalten hast, bei Hannibal ohnehin. Auch für Peltasten/Agrianer gab es bei Hannibal kein echtes Äquivalent. Den Einsatz von Kriegselefanten hatten sich die hellenistischen Heerführer von den Indern abgeschaut. Bei Gaugamela versuchten auch die Perser mit ihrer Kavallerie das makedonische Heer zu überflügeln. Von den klassischen griechischen Armeen, bei denen der Fokus meist (Ausnahmen wären z. B. die Thessalier) klar auf der Phalanx lag, unterschieden sich die hellenistischen Armeen vor allem durch das Zusammenwirken verschiedener Truppengattungen, aber das war auch keine hellenistische Innovation, die Perser z. B. machten das immer schon.
Entscheidungsschlachten zu erzwingen zu versuchen ist auch nicht so ungewöhnlich, das versuchten schon die Hethiter, als sie bei Kadesch überraschend das große, aber unvorbereitete ägyptische Heer angriffen. Ein anderes Beispiel wäre die Schlacht bei Megiddo zwischen den Ägyptern und den versammelten aufständischen Fürsten Palästinas. Auch Dareios III. strebte bei Issos und Gaugamela nach einem entscheidenden Sieg über Alexander.

Von der hellenistischen Kriegsführung unterschied sich Hannibal vor allem durch seine Versuche, den Gegner einzukesseln: In Schlachten zwischen hellenistischen Heeren versuchte man meist zunächst die gegnerische Kavallerie zu schlagen, anschließend griff man mit der siegreichen Kavallerie das gegnerische Lager an oder fiel der gegnerischen Infanterie irgendwo in die Flanken, aber echte Versuche einer kompletten Einschließung gab es eigentlich nicht. Die Art "Treffentaktik", die Hannibal bei Zama anwandte, war auch nicht typisch hellenistisch.

Über die "karthagische" Kriegsführung ist eigentlich eher wenig bekannt. Die Karthager verwendeten bis ins 4. Jhdt. Streitwagen, aber damit war zu Hannibals Zeiten längst Schluss. Elefanten verwendeten sie schon vor ihm. Umgekehrt aber wird oft vermutet, die Heilige Schar, die Hannibal nicht hatte, habe als Phalanx gekämpft. Wenn das stimmen würde, wären die früheren karthagischen Armeen in gewisser Weise sogar "hellenistischer" als die Hannibals gewesen.
Die antiken Berichte über Schlachten zwischen Karthagern und Griechen sind leider großteils eher unbrauchbar, da sie meist von einer (vermutlich unhistorischen) enormen zahlenmäßigen Überlegenheit der Karthager ausgehen.

Eine weitere These zum Heeresschwund auf dem Marsch fand ich jüngst in Robert L. O' Connells ""The Ghosts of Cannae": Militärischer Darwinismus. Klartext: Wer in Oberitalien noch dabei ist, der taugt was. Ob Hannibal wirklich derart zynisch zu Werke gegangen ist (von 105.000 auf 26.000?!!), ist sicher fraglich und steht im Widerspruch zu anderen überlieferten Aktionen.
Von dieser These halte ich gar nichts. Krieger kosten und müssen versorgt werden, wodurch sie einen hohen logistischen Aufwand verursachen. Hohe Verluste können außerdem demoralisierend wirken. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass Hannibal bewusst mit einer Riesenarmee aufbrach in der Hoffnung, dass nur die besten übrigbleiben würden. (Auf einem anderen Blatt steht, dass er natürlich unvermeidliche Verluste durch Desertion, Strapazen und Feindkontakt einkalkuliert haben wird.)
Aus humanitären Gründen allerdings wird Hannibal nicht vor einem solch darwinistischen Vorgehen zurückgeschreckt sein. Immerhin hatte er auch kein Problem damit, Teile derjenigen italischen Truppen, die ihm nicht nach Afrika folgen wollten, niedermetzeln zu lassen.
 
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Von dieser These halte ich gar nichts. Krieger kosten und müssen versorgt werden, wodurch sie einen hohen logistischen Aufwand verursachen. Hohe Verluste können außerdem demoralisierend wirken. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass Hannibal bewusst mit einer Riesenarmee aufbrach in der Hoffnung, dass nur die besten übrigbleiben würden. (Auf einem anderen Blatt steht, dass er natürlich unvermeidliche Verluste durch Desertion, Strapazen und Feindkontakt einkalkuliert haben wird.)

Ich glaube auch nicht, dass Hannibal 10 mal soviel mitnahm, wie er glaubte zu brauchen; aber gerade dein Punkt, dass die Versorgung einer so großen Armee problematisch ist, könnte O' Connells Vermutung zumindest zu einem Teil stützen.

Aus humanitären Gründen allerdings wird Hannibal nicht vor einem solch darwinistischen Vorgehen zurückgeschreckt sein. Immerhin hatte er auch kein Problem damit, Teile derjenigen italischen Truppen, die ihm nicht nach Afrika folgen wollten, niedermetzeln zu lassen.

Mit der Episode wäre ich vorsichtig. Ich habe nun mehrfach gelesen, dass das vermeintliche Niedermetzeln von Italikern, das einige römische Quellen für 203 berichten, vermutlich "nur" auf viertausend Pferde zurückgeht, die nicht auf den Schiffen mitgenommen werden konnten und deswegen getötet wurden, damit die Römer sie nicht mehr "verwenden" konnten. Hannibaltreue Italiker hätten die Römer definitiv nicht mehr "verwendet". Die hatten vonden Römern erheblich mehr zu befürchten als von Hannibal (siehe Capua, Tarent).

Außerdem geht O' Connell auch nicht davon aus, dass er die Leute, die in Italien nicht mehr vorhanden waren, verrecken ließ. Dass Hannibal etliche Spanier weggeschickt hat, ist belegt. Leute, die nicht mitwollen, muss man nicht auch noch mitfüttern; man kann sie ziehen lassen. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass ich annehme, Hannibal hätte an die fünfzigtausend Leute ziehen lassen.

O' Connell zieht eine Parallele zu Hamilkar, der 237 nach Spanien den Landweg genommen haben soll, auch da etliches an Schwund in Kauf nahm, um am Ende nur mit denen in Iberien anzukommen, die er auch wirklich gebrauchen konnte. Hannibal soll das dann 218 ähnlich gemacht haben. Insgesamt sprechen diese Zahlen, gerade die von 218, aber entscheiden dagegen, zumindest, um es als die alleinige Erklärung anzunehmen.
 
Ich glaube auch nicht, dass Hannibal 10 mal soviel mitnahm, wie er glaubte zu brauchen; aber gerade dein Punkt, dass die Versorgung einer so großen Armee problematisch ist, könnte O' Connells Vermutung zumindest zu einem Teil stützen.
Warum? Sofern sich Hannibal nicht darauf verlassen wollte, sein Heer komplett aus dem durchzogenen Land ernähren zu können, musste er Unmengen Vorräte und Packtiere mitnehmen. Je mehr Soldaten, umso mehr. Warum sollte er sich diesen Aufwand antun, nur um zahllose Krieger mitschleppen zu können, von denen er die meisten ohnehin loswerden wollte?

[...][mod]Der Rest des Beitrags ist in http://www.geschichtsforum.de/f28/h...era-lakinia-zur-ckbleibenden-italikern-47352/ zu finden.[/mod]

O' Connell zieht eine Parallele zu Hamilkar, der 237 nach Spanien den Landweg genommen haben soll, auch da etliches an Schwund in Kauf nahm, um am Ende nur mit denen in Iberien anzukommen, die er auch wirklich gebrauchen konnte. Hannibal soll das dann 218 ähnlich gemacht haben. Insgesamt sprechen diese Zahlen, gerade die von 218, aber entscheiden dagegen, zumindest, um es als die alleinige Erklärung anzunehmen.
Worauf stützt sich das? Bei Diodor segelte Hamilkar bis zu den Säulen des Herakles. Polybios äußert sich nicht so deutlich. Das mit dem beabsichtigten Schwund habe ich bei keinem der beiden gefunden.
 
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Argh, Katze hat die Verbindung gekappt. Kurzfassung:

O'Connell spekuliert sowohl bei Hamilkars Zug als auch bei Hannibals; eine These stützt die andere (und wird damit wackelig). Trotzdem finde ich seine Spekulation zum Schwund der Armee nicht weniger glaubwürdig als z. B. Seiberts Versorgungsdepots.
 
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Das Entscheidende, was Hoyos vorbringt, ist, dass Hannibal nichts tat, ehe er nicht wusste, was der Gegner tut.
Ob hier nicht die Möglichkeiten zur Gewinnung von Informationen über den Gegner etwas überschätzt werden? Wie rasch und zuverlässig kann Hannibal z. B. erfahren haben, dass einer der beiden Konsuln von 218 nach Spanien geschickt wurde und der andere nach Afrika?

Hoyos meint, Hannibal habe vorgehabt, Scipio in Gallien abzufangen, und zwar spätestens im Juli. Hannibals Plan sah vor, Scipios Armee auszuschalten - und zwar nicht auf eigenem Gebiet - und damit die Gefahr für Spanien zu bannen, und dann weiterzuziehen nach Italien.
Das kann ich mir nicht vorstellen. Hannibal war sich sicher darüber im Klaren, dass die Römer in der Lage waren, mehr Heere aufzustellen als die beiden konsularischen Heere des Jahres 218. Mit der Vernichtung von Scipios Armee in Südgallien wäre also nicht viel gewonnen gewesen, die Römer hätten im nächsten Jahr einfach die nächste nach Spanien schicken können. Für die Verteidigung Spaniens war ohnehin Hasdrubal gedacht. Hingegen hätte Hannibal mit einem zu langen Aufenthalt in Südgallien riskiert, es nicht mehr rechtzeitig vor Wintereinbruch über die Alpen zu schaffen. Außerdem: Hannibal konnte doch gar nicht sicher sein, dass Scipio einen Zwischenstopp in Südgallien machen würde statt die Küste entlang direkt nach Spanien zu segeln. (Wenngleich er natürlich vermuten konnte, dass die Römer versuchen könnten, ihn bereits in Südgallien zu stoppen.) Für mich ist es alles in allem wahrscheinlicher, dass Hannibal möglichst rasch nach Italien wollte.

Hoyos geht allerdings so weit zu sagen, dass der Marsch nach Italien in dieser Form Hannibal den Sieg gekostet hat.
Offenbar geht er also auch davon aus, dass Hannibal gescheitert sei, weil er zu wenige Truppen in Italien gehabt habe.
Aber darüber haben wir andernorts schon diskutiert.
 
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