Russland 1914: Historische Voraussetzung und der Eintritt in den WW1

Russland war 1914 nicht in der Lage, in den türkischen Meerengen eine Landung durchzuführen, um die Sicherung zu durchbrechen. Eine amphibische Landung in der Größenordnung von mehreren Korps (Armeestärke!), entfernt von den Basen, ähnlich Gallipoli, war unmöglich für die Schwarzmeerflotte.

Der Hinweis auf irgendwelche Möglichkeiten, ein oder zwei lumpige Brigaden direkt hinter einer Front oder irgendwo ein Kommandounternehmen anzulanden, liegt neben der Sache. Bei den Meerengen geht es nicht um taktische Unternehmen, sondern um eine Invasion.

Wer einen Fisch fangen kann, betreibt deswegen noch keine Walfangflotte.

EDIT: zu den russischen "Denkspielen":

In 1903 gab es dazu eine Planübung. Man veranschlagte, dass am Tag M+9 eine halbe Infanteriedivision und eine Viertel-Kavalleriedivision für die Einschiffung bereit wären. Eine Invasion war ab M+11 denkbar. Am Tag M+19 wären maximal 170.000 Mann verschifft (ohne das man dafür Transportkapazitäten berücksichtigte, aber der erforderliche Heeresumfang wird deutlich). Diesen Truppen, unabhängig von der Machbarkeit der Verschiffung und anschließenden Versorgung, würden bereits an M+16 drei Tage vorher insgesamt 215.000 Mann der osmanischen Armee gegenüberstehen, sämtlich Divisionen mit "redifs", also "1. Linie"

Die Unmöglichkeiten sind leicht erkennbar. In den Folgejahren beschäftigte man sich daher lieber mit einer lokalen, begrenzten Landung bei Trebizond bzw. im Rücken der Kaukasus-Front, da den Quartiermeistern bei dem Gigantismus der Bosporus-Landung die Haare zu Berge standen.* Eine Probe-Mobilisierung in Odessa 1911 -übrigens im Planspiel eine Teil-Mob - ergab völlig unzureichende Mob-Umfänge für Großaktionen.

Planspielchen wurden 1911/14 fortgesetzt, und der zusammenfassenden Würdigung vom Februar 1914 ist nichts hinzufügen, dass die Operation unmöglich sei (Admiral Rosin, Chef des Admiralstabes), dem sich die Lageberichte vom Bosporus über die osmanischen Befestigungen und Militärstärken anschlossen.

"On 8 February 1914, representatives of the Military and Naval Ministries met in the Foreign Ministry to consider the preparedness of the army and navy for undertaking landing operations. Although preparations were supposed to have been underway for more than thirty years, both the army and navy were still quite unprepared for such actions. As Minister for the Navy Ivan K. Grigorovich remarked, "in the present situation we could only carry out such an operation under very unsatisfactory conditions. The main problem is that we do not have anything like sufficient means of transport on the Black Sea." The condition of the army was even more diseoneerting. The shortfall in the "reserve stocks" of the Odessa military district ... The situation with ammununition stocks was also bad ...

Evgenii F. Podsoblyaev, The Russian Naval General Staff and the Evolution of Naval Policy,
1905-1914, JoMH 2002, S. 37-70.

*Marshall, Alexander Graham: Dar Al-Harb: the Russian general staff and the Asiatic frontier, 1860-1917, 2001.
 
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Russland war 1914 nicht in der Lage, in den türkischen Meerengen eine Landung durchzuführen, um die Sicherung zu durchbrechen. Eine amphibische Landung in der Größenordnung von mehreren Korps (Armeestärke!), entfernt von den Basen, ähnlich Gallipoli, war unmöglich für die Schwarzmeerflotte.

Das ist absolut zutreffend. Es war in 1914 weder die maritime noch landgestützte Ausstattung vorhanden, noch verfügte man über entsprechende Erfahrungen mit derartigen Unternehmungen.

Das hätte ich gern näher erläutert, denn nach der Vernichtung der pazifischen und baltischen Flotte 1904/05, war die Schwarzmeerflotte ohne Schäden am Schlagkräftigsten.
Sicherlich gab es Flottenpläne nach 1906, die baltische Flotte wieder voll aufzurüsten, doch die waren fast nicht realisierbar, die Schwarzmeerflotte hatte dagegen Bestand, wenn auch nach 1905 mit veralteten Material
Ich werde mich aber nochmal genauer informieren, die aktuellen Gedanke habe ich nur so ausm Kopf

Es gab sogar „gigantische“ Pläne, die zaristische Flotte bis Ende der zwanziger Jahre deutlich zu erweitern und sie den Flotten von GB und dem DR anzugleichen. Zumindest entsprach diese Planung der Sicht von Nikolaus II hinsichtlich der zukünftigen Rolle von Russland als Großmacht. In diesem Sinne war er uneingeschränkter „Navalist“.

Aber vor diesen „phantastischen“ Plänen stand das Budgetrecht der Duma zur Bewilligung von Neubauten und die war in Teilen darauf darauf bedacht, sich deutlich gegen die Autokratie zu positioneren. Aus diesem Grund und auch aufgrund des verheerenden Abschneidens im russisch-japanischen Krieg kam es im Jahr 1908 zu einer massiven Krise, die sich im Vorwurf der Duma ausdrückte, dass das Marineministerium mit den Budgets nicht verantwortlich umgehen würde [1, S, 74 ff]

In der Folge bis 1912 polarisierte in einem hohen Maße die Diskussion über die Bereitstellung der Mittel für den Flottenbau die politisch relevante Gruppe der "Oktobristen" und berührte auch ihr Verhältnis negativ zur Regierung. Diese Entwicklung stärkte vor allem die gemäßigten Rechten und die Nationalisten und bewirkte in der Folge einen Trend zu einem verstärkten Nationalismus in der Duma und der „politischen Öffentlichkeit“. Teilweise auch verbunden mit einer Entfremdung ursprünglich deutschfreundlicher Politiker wie Krivoshein. Auf dieser nationalistischen Bugwelle wurden dann auch die zusätzlich Mittel für den Flottenbau im Schwarzen Meer durch die Duma im Jahr 1912 bewilligt, die ursprünglich eigentlich nicht vorgesehen waren [1, S. 105ff].

Die zunehmende Fokussierung ab 1912 auf das Schwarze Meer wurde vor allem aufgrund der politischen Ereignissen auf dem Balkan und dem sich anscheinenden zunehmenden Zerfall des Osmanischen Reich erzwungen [2, S. 80]. Aufgrund des italienisch-osmanischen Kriegs im Herbst 1911 wurde von Sazonow die Forderung an das Kriegsministerium herangetragen, Landungsoperationen an der Schwarzmeer-Küsten durchführen zu können. Allerdings, wie unten dargestellt, in einem militärisch eingeschränkten Sinne! und keinesfalls als Landungsunternehmen wie im Rahmen von Gallipoli.

Zu diesem Zeitpunkt, so Vize-Admiral Lieven, am 25 Januar 1912, wäre die russische Schwarzmeer-Flotte in der Lage gewesen, ein begrenztes Landungsunternehmen zu schützen. Eine Sichtweise, die die Armee kritisch beurteilte [2, S. 80-81]

Durch die potentiellen Neukäufe wäre die türkische Flotte ab 1914 jedoch in der Lage, das Schwarze Meer zu kontrollieren, so Lieven. Diese Situation konnte nur durch den eigenständigen Aufbau einer Dreadnought-Flotte im Schwarzen Meer begegnet werden. Allerdings verfügte Russland an der Schwarzmeer-Küste über keine nennenswerte Infrastruktur, die einen schnellen Ausbau dieser neuen Generation von Schlachtschiffen unterstützen konnte [2, S. 82]

Der Druck zum Aufbau einer Flotte wurde jedoch erhöht durch die Berichte des russischen Botschafters in Konstantinopel im November 1913, dass das Osmanische Reich ernsthafte Anstrengungen unternehmen würde 2 britische bzw. noch 2 weitere andere Dreadnoughts zu kaufen. Erschwerend kam hinzu, dass jedes dieser Schiffe individuell den russischen Neubauten überlegen gewesen wäre [2, S. 83]

In der Folge ging Sazonow davon aus, dass die Pläne der Marine Ende 1913 - also auf der Basis von 3 projektierten neuen Schlachtschiffen - dazu führen konnten, in ca. 5 Jahren, also frühestens 1917 !!!!, eine Flotte zu erhalten, die seinen politischen Zielen in Bezug auf das Osmanische Reich und den Bosporus angemessen wären [2, S. 82] Bei Reynolds wird die Planung des Angriffs oder die Besetzung von Konstantinopel auf die Periode zwischen 1917 und 1919 angesiedelt [3, S. 36]

Allerdings ging man davon aus, dass die Baltische Flotte, die zu dem Zeitpunkt über mindestens 8 Schlachtschiffe verfügt hätte (4 BB & 4 BC), ebenfalls im Mittelmeer zur Verfügung gestanden hätte.

Diese langfristige Strategie von Sazonow zur Sicherung der russischen Position am Bosporus bzw. den Dardanellen, basierend auf dem Memorandum vom 6. 12.1913, wurde am 21. 02. 1914 beschlossen [2, S. 87].

Auch als Reaktion auf diese langfristige Ausrichtung des russischen Interesses am Balkan und an einer Nachfolge am Bosporus wurde Mitte Juli 1914 ein weiteres Dreadnought geplant, zu den drei bereits 1912 beschlossenen [2, S. 92].

Die Einschätzung, ob im Jahr 1917 tatsächlich eine operationsfähige, moderne Schwarzmeer-Schlachtschiff-Flotte vorhanden sein würde, beurteilte der britische Marine-Attache skeptisch, während sich sein französischer Kollege optimistisch äußerte [2, S. 92].

Das Eintreffen der SMS Göben am Bosorus änderte das maritime Verhältnis zu Gunsten des Osmanischen Reichs.

Die Frage der konkreten Ausgestaltung von Landungsunternehmen wurde im September 1912 durch Sazonow angestoßen und er hielt ein – friedliches – Landungsunternehmen (Besetzen aber nicht erkämpfen) am Bosporus für potentiell notwendig. Finanzminister Kokovtsov wurde im Juni 1913 von der Marine gebeten, die entsprechenden – geheimen - Mittel für die – geheimen – Manöver bereit zu stellen [2, S. 81]. Die dann auf den Herbst 1914 verschoben wurden.

Im Jahr 1912 wurden, auch als Reaktion auf das Vorrücken der Bulgaren auf Konstantinopel, eine Streitmacht von ca. 5000 Soldaten für die Verschiffung vorgesehen, allerdings unter der Voraussetzung einer „friedensmäßigen“ Anlandung in Konstantinopel in einem Umfeld, das durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs gekennzeichnet wäre.

Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass Russland durch den Krieg in 1905 massiv geschwächt wurde und dass trotz einer überproportionalen Zuweisung von Mitteln in den Wiederaufbau der Marine, weder sie noch die notwendige Infrastruktur im Jahr 1914 im Schwarzen Meer in einem kriegsbereiten Zustand war.

[1] G. Hosking: The Russian Constitutional Experiment. Government and Duma 1907 – 1914. 1973
[2] R. Bobroff: Roads to Glory, Late Imperial Russia and the Turkish Straits, 2006
[3] M. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and the Collapse of the Ottoman and Russian Empire, 1908-1918, 2011
 
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Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass Russland durch den Krieg in 1905 massiv geschwächt wurde und dass trotz einer überproportionalen Zuweisung von Mitteln in den Wiederaufbau der Marine, weder sie noch die notwendige Infrastruktur im Jahr 1914 im Schwarzen Meer in einem kriegsbereiten Zustand war.

Der zutreffenden Beschreibung der Lage ist für die politischen Optionen anzufügen - ebenfalls wie erfolgt -, dass man mittelfristig im Rüstungswettlauf deutlich überlegen sein würde.

Eine Zuspitzung der Krise im Sommer 1914 durch Sazonow, wegen der Meerengen (McMeekin-These), war also völlig abwegig, und lässt sich auch nicht quellenseitig in Lageanalysen oder Führungsdiskussionen finden.

Der Ablauf hat aber einen weiteren interessanten Aspekt:
die Dynamik dieses Rüstungswettlaufes wurde durch die maritime Rüstung von zweit- und drittrangigen Mächten ausgelöst. Die Kausalkette kann man hier von Südamerika (dreadnought-Käufe, die dann mangels Zahlungskraft "auf den Markt" kamen), über Griechenland/Osmanisches Reich bis perspektivisch hin zu Rumänien, die sich mit dreadnought-Käufen beschäftigten.

Die Kapazitäten dieser "Angebote" von britischen, französischen, deutschen, amerikanischen Firmen entstanden originär aus dem Rüstungswettlauf der Großmächte, und "streuten" nun in die Krisen zwischen nachrangigen Mächten ein.

Die Möglichkeiten des Osmanischen Reiches muss man dabei von den finanziellen Realitäten trennen. Schöllgen gibt da gute Ansätze, das Finanzchaos der Osmanen zu beschreiben, und auch Phantasien von Realitäten zu trennen. 1914 dachte man daran, erhebliche Zahlungsrückstände aus deutschen Waffenlieferungen sowie Neukäufe durch französische Anleihen (am Pariser Kapitalmarkt) bezahlen zu lassen.

Ebenso in die Rubrik "Finanzphantasien" gehört der gemeinsame Aufmarsch von Armstrong/Vickers/Brown 1914, dem Osmanischen Reich zusätzliche drei Super-Dreadnoughts, 2 Kreuzer, 6 Zerstörer zusätzlich anzubieten (visionärer Endzustand der Jungtürken seit 1909: 6 dreadnought!). Argument: Man sei billiger als die Deutschen, 30% schneller im Bau etc. Dazu 2 UBoote und 6 Zerstörer, mit Option auf weitere 12 von französischen Werften. Um das alles hatten sich auch deutsche Rüstungskonzerne beworben, zogen aber den Kürzeren (auch weil die deutsche "Finanzierung" für das Osmanische Reich und seine Waffenkäufe ausgereizt war).

Mir geht es jetzt nicht darum, die "Aktivitäten" der Waffenlobbyisten der europäischen Großmächte moralisch zu werten.

Festzuhalten ist nur, dass dieser "sekundäre" Rüstungswettlauf im weiteren Sinne ein Konsequenz des (primären) maritimen Rüstungswettlaufes zwischen europäischen Großmächten ist, und das diese Ausstrahlwirkung - siehe Russland - "an der Peripherie" der Großmächte wiederum auf das Krisenhandling (und Hysterien) der Großmächte untereinander ausstrahlte.

Ein Teufelskreis.


Siehe auch Stevenson, The Arming of Europe and the Making of the First World War.
sowie speziell hierzu:
Jonathan Grant: The Sword of the Sultan - Ottoman Arms Imports, 1854-1914, JoMH 2002, S. 9-35.
Fotakis: Greek Naval Strategy and Policy 1910-1919
Paul G. Halpern: The Mediterranean Naval Situation, 1908-1914
 
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Wenn die Aufrüstung der Flotte drei Jahre Warten als sinnvoll erscheinen ließ, wer hat dann bei den Russen so auf die Tube gedrückt? Erschien die Situation in Serbien als so verlockend (und damit Schlichtungsversuche als nicht Ziel führend)? Oder hatte die Armee andere Prioritäten und kümmerte sich nicht um die Seerüstung?

Und wurde mit den ersten Plänen für eine (Teil-)Mobilisierung auch der Nachschub verändert? Oder erschienen die Vorräte als ausreichend?
 
... wer hat dann bei den Russen so auf die Tube gedrückt? Erschien die Situation in Serbien als so verlockend (und damit Schlichtungsversuche als nicht Ziel führend)? Oder hatte die Armee andere Prioritäten und kümmerte sich nicht um die Seerüstung?

Wie kommst Du auf diese Einschätzung? Weil Clark eine "eigenwillige" Interpretation des Mobilisierungsprozesses liefert, die von keinem damit befaßten Militärhistoriker so geteilt werden würde (vgl. z.B. Mennig: Bayonets Before Bullets, 1992), den Clark zwar auch zitiert, aber nur einen völlig "unwesentlichen" Artikel von ihm und nicht das aktuelle Standardwerk zur zaristischen Armee! Warum eigentlich?

Derzeit kann man, so der aktuelle Stand der Fachhistoriker für Russland, im Gegensatz zu der Sicht bei Clark (der keinerlei eigenständige Forschung zu diesem Thema erbracht hat, sondern primär Lieven unvollständig und irreführend zitiert und McMeekin dafür korrekt), dahingehend zusammen fassen:

1. Es hat niemand in Russland auf die "Tube" gedrückt. Man hat im wesentlichen ab dem 21.07 gewarnt, dann ab 24./25.07 reagiert und ab 28.08 gehandelt. Und wäre, darauf ist schon häufiger hingewiesen, ohne Zwang angreifen zu müssen, in einem mobilisierten Zustand hinter der Grenze verharrt. Nur die Bedrohung von Frankreich im Rahmen des Schlieffenplan erzwang Russland überhaupt militärisch rasch zu handeln.

Aus der russischen Sicht wäre eine Verzögerung sogar positiv gewesen. Und es gab keine politischen Ziel, die gegen das DR duchzusetzen gewesen wäre!

2. Schlichtungsversuche wurden nicht durch Russland blockiert!, sondern gefördert. Teilweise durchaus in Übereinstimmung mit Ö-U und dem DR. Bis 28.07 näherten sich sogar die Standpunkte zwischen DR und R eher an!, wie man in den jeweiligen Telegrammen von Pourtales, Jagow, Bethmann-Hollweg oder KW II deutlich sehen kann (vgl. Telegramme in: Geiss: Juli 1914, S. 252 ff)

3. Die russiche Armee war in 1914 nur sehr eingeschränkt bereit für einen Krieg!

4. Aus der russischen Armee bzw. auch dem konservativen Lage kamen die stärksten Widerstände gegen einen Waffengang gegen das DR!

Man wollte nicht nur keinen Krieg, sondern traute sich eigentlich auch nicht zu, diesen erfolgreich gegen das DR zu gewinnen. Anders die Perspektive gegenüber Ö-U!

5. Man war in diesen konservativen Kreisen gegen Frankreich eingestellt, da man die Werte der Republik nicht teilte. Ob sich die liberalen Modernisierer, die die Zusammenarbeit mit England und Frankreich anstrebten weiterhin durchgesetzt hätten, ist eine völlig offene Frage.

6. Es erfolgte durch das DR eine Kriegserklärung am 1. August an Russland, überraschend und unerwartet für Russland. Und hat damit, wie schon die Kriegserklärung von Ö-U am 28.07 an Serbien die eigentlich Dynamik gebracht.

Diese fundamentalen Aspekte werden mittlerweile in der Diskussion übersehen!

7. Auf die "Tube" gedrückt hat im wesentlichen das DR, mit Bethmann Hollweg und KW II zur Initierung eines lokalen Krieges, der ab 21 Juli allerdings nur in ihren Vorstellungen zu haben war. Für Sazonow, Poincare und Grey war klar, dass es keine Veränderung des territorialen Status quos auf dem Balkan geben dürfe, der sich auf die Balance der Großmächte auswirkte

In diesem Sinne wollte Ö-U und das DR eine "Polizeiaktion" gegen Serbien mit anschließender "Fussfessel", um Wohlverhalten zu garantieren und haben übersehen, dass Russland, Frankreich und GB darin eine Veränderung der Machtbalance der Großmächte und eine Gefahr für die Stabilität der beiden Allianzen sahen.

7. Und ab Ende Juli war es nicht zuletzt Moltke, der auf die Tube drückte und "seinen" Präventiv-Krieg gegen Russland initieren wollte /vgl. Mombauer: Moltke)

An dieser Forschungslage kommen auch Reinterpretationsversuche von Clark nicht vorbei. Die ansonsten insgesamt in der Art der Interpretation "quer" stehen zur aktuellen Interpretation der Juli Krise.

Neben den Werken von Hamilton, Herwig, Mombauer Afflerbach und anderen, auf die ja schon ausreich häufig hingewiesen wurde, beispeilsweise eine gute kurze Übersicht bei:
A. Mombauer: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, 2013
oder auch die kompetente Darstellung bzw. Diskussion bei:
G. Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz, 2013

zusätzliche aktuelle Titel beispielsweise von:
M. MacMillan: The War that Ended Peace: How Europe abandoned peace for the First World War. 2013 oder auch:
M. Hewitson: Germany and the Causes of the First World War, 2004
 
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7. Auf die "Tube" gedrückt hat im wesentlichen das DR, mit Bethmann Hollweg und KW II zur Initierung eines lokalen Krieges, der ab 21 Juli allerdings nur in ihren Vorstellungen zu haben war. Für Sazonow, Poincare und Grey war klar, dass es keine Veränderung des territorialen Status quos auf dem Balkan geben dürfe, der sich auf die Balance der Großmächte auswirkte

Dazu der Hinweis auf den Eintrag vom 7.7.1914 im Riezler-Tagebuch (unabhängig von dem Quellenstreit ist der Kontext wohl durch Quellen außerhalb des Tagebuches plausibel):

Bethmann sah - eine weit verbreitete Auffassung im Führungszirkel des Deutsches Reiches (zB Moltke, geprägt durch seine Operations- und Mobilmachungsplanung), die aber so oder ähnlich auch in Großbritannien unter anderen Vorzeichen wahrgenommen wurde - "die Zeit ablaufen". Russland werde immer mächtiger, Österreich schwächer. Die Balkan Krise sollte letztlich benutzt werden, um den Zweiverband aufzubrechen und Russland zu schwächen. Wobei laut Riezler-Tagebuch Bethmann klar war: "ein Angriff auf Serbien könne den Weltkrieg auslösen" (was man sich bei einer Zuspitzung und russischen Garantie für die territoriale Integrität Serbiens leicht denken konnte). Das wird mit Bethmanns "Risiko-Strategie" in der Juli-Krise umschrieben. Das Zurückrudern gelang nicht in der beschleunigten Krisendynamik (und mit den Militärs traten wohl "ungeplante" Akteure den Abläufen hinzu).

Ganz verzögert reagierte GB auf die Verschärfungen. Dort sah man zwar mit dem österreichischen Ultimatum eine ernste Lage, hielt das aber für beherrschbar und vermittelbar. Die "City" ging bis Ende Juli von einer Zuschauerrolle GB selbst für den Fall eines Kontinentalkrieges (wenn der überhaupt stattfinden sollte) aus, was sich erst mit den Finanzhysterien Ende Juli in der breiten Öffentlichkeit und den Parteispitzen dramatisch änderte.

...Clark (der keinerlei eigenständige Forschung zu diesem Thema erbracht hat, sondern primär Lieven unvollständig und irreführend zitiert und McMeekin dafür korrekt),

Kann man nur unterstreichen.

Wobei das Abstützen auf Literatur sorgfältiger passiert als bei McMeekin, der andere Autoren regelrecht "verbiegt" bzw. gegen den Strich interpretiert.

In der breiten Diskussion geht das völlig unter. Ich bin mal gespannt, wie einige der Autoren (zB Lambert, der mit Armageddon das britische Gegenstück zu Mombauers Moltke verfasst hat, etc.) noch reagieren werden.
 
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[FONT=&quot]Da hier ja immer wieder Clark kritisiert wird, möchte ich auch dem im Eröffnungspost genannten Hew Strachan kritisieren. In seinem Werk zum Ersten Weltkrieg, ich spreche hier von der deutschen Übersetzung, die im Bertelsmann Verlag erschienen ist, sind mir folgende Punkte aufgefallen.[/FONT]
[FONT=&quot]
[/FONT]
[FONT=&quot]Zur berühmten und größten Seeschlacht der Geschichte, ich meine die Skagerrakschlacht, erfährt der geneigte Leser,
dass die Royal Navy ihre maritime Überlegenheit gewahrt hat. Ich bin der nicht der Marineexperte, aber war es nicht so, das die Navy größere Verluste erlitten hat? Wenn ja, dürfte dies auch durchaus Erwähnung finden.

Zum Kapitel Wirtschaftskrieg, führt Strachan beispielsweise aus, das die Hungersnot im Deutschen Reich wegen der sehr effektiven Seeblockade Großbritanniens u.a. sicher auch hausgemachte Gründe habe.
Das die Menschen nicht unbedingt sehr rational reagieren, wenn die Nahrungsmittel knapp werden, ist m.E. nach durchaus verständlich. Das aber mehr oder weniger als ein spezifisch deutsches Gesellschaftsproblem darzustellen, halte ich für doch für etwas gewagt. Immerhin, das erkennt auch Strachan an, sind deutlich über 700.000 Menschen in Folge der Seeblockade in Deutschland verhungert. Die Blockade wurde ja noch weit bis in das Jahr 1919 aufrecht erhalten, um Deutschland für die Annahme der Friedensbedingugen gefügig zu halten. Ein Kommentar von Strachan erwartet man allerdings vergebens.
Hingegen informiert hew Strachan uns darüber , das diejenigen, die für den Krieg wertlos waren, man beachte die vornehme Ausdrucksweise, besonders litten. das war sicher auch in anderen kriegführenden Nationen so. Wir dürfen die Sterberate von Epileptikern in Berthel bei Bielefeldt oder die von den preußischen Sanatorien zur Kenntnis nehmen. Möchte Strachan hier eine Linie zu den widerlichen Praktiken der Nazis zeichnen? Was möchte Hew Strachan uns hier eigentlich mitteilen?

Die Versenkung der Lusitana wird von Herrn Strachan einseitig dargestellt. Die Lusitana hatte mehre Millionen Schuss Munition und Schrapnellgeschosse an Bord. Dies durfte aber ein Passagierdampfer gemäß dem damals geltenden Recht nicht laden. Dieser Verstoß wird von Strachan nicht herausgearbeitet. Auch die traurige, skruplelose und brutale Rolle von Herrn Churchill, den späteren Premier, nicht.

Auch haben die Engländer ihre Handelscchiffe gern und häufig falsch beflaggt, vorzugsweise mit der US-Flagge um dann aufgetaucht deutsche Uboote anzugreifen. Strachan hierzu: Fehlanzeige.

So schreibt Strachan, als alliierte Truppen in Elsass und Lothringen einmarschieren, das dort die Begeisterung am größten war und dort hatte man nicht nur 4 sondern 40 Jahre auf sie hatte warten müssen!! Puuh. Liest sich so eine um Objektivität bemühte Geschichtsschreibung?

Das ganze britische Agieren in Zusammenhang mit der Seeblockade, durchgeführt von
[/FONT] [FONT=&quot]durchgeührt von der stärksten Flotte der Welt, die sogenannten Herrin der Meere, wird von Strachan m.E. nach so vorgestellt, das Großbritanniens Handeln hier in keinen sonderlich negativen Licht erscheint. 700.000 Menschen sind an den Folgen gestorben und nichtnur im Deutschen Reich.

Und in Sachen Greueltaten werden die der Deutschen, beispielsweise die in Belgien erwähnt. Die britischen, Stichwort Q-Ships, nicht.[/FONT]
 
thanepower schrieb:
1. Es hat niemand in Russland auf die "Tube" gedrückt. Man hat im wesentlichen ab dem 21.07 gewarnt, dann ab 24./25.07 reagiert und ab 28.08 gehandelt. Und wäre, darauf ist schon häufiger hingewiesen, ohne Zwang angreifen zu müssen, in einem mobilisierten Zustand hinter der Grenze verharrt. Nur die Bedrohung von Frankreich im Rahmen des Schlieffenplan erzwang Russland überhaupt militärisch rasch zu handeln.

Aus der russischen Sicht wäre eine Verzögerung sogar positiv gewesen. Und es gab keine politischen Ziel, die gegen das DR duchzusetzen gewesen wäre!

2. Schlichtungsversuche wurden nicht durch Russland blockiert!, sondern gefördert. Teilweise durchaus in Übereinstimmung mit Ö-U und dem DR. Bis 28.07 näherten sich sogar die Standpunkte zwischen DR und R eher an!, wie man in den jeweiligen Telegrammen von Pourtales, Jagow, Bethmann-Hollweg oder KW II deutlich sehen kann (vgl. Telegramme in: Geiss: Juli 1914, S. 252 ff)

3. Die russiche Armee war in 1914 nur sehr eingeschränkt bereit für einen Krieg!

Du bist dabei die Geschichte umzuschreiben. Du willst doch jetzt nicht ernsthaft behaupten, dass Russland so ganz und gar die Unschuld vom Lande war, der Eindruck entsteht beim Studium deiner Zeilen, und so rein gar nichts für den Ausbruch des Weltkrieges kann. Wenn ein Land mit der Mobilmachung beginnt, Russland begann als erstes damit, dann werden damit unmissverständliche Signale gesendet.Benckendorff hat übrigens den ersten Vermittlungsvorschlag von Grey abgelehnt.
Und warum musste die Mobilmachung unbedingt fortgestzt werden, Sasonow hat dafür beim Zaren Sorge getragen, als Wilhelm sich um eine Deeskaltion bemühte?

Russland hat dafür Sorge getragen, das Serbien das Ultimatum nicht erfüllt, sie hättes es ohne russische Zusage erfüllt, und gleichzeitig gedroht. Von Deeskaltion keine Spur. Ohne Russland Eingreifen, hätten Conrad, Berchthold und Co. schön dumm aus der Wäsche geschaut, denn der Krieg wäre ausgefallen.

Joachim Friedrich vertritt in seinem neuen Werk zum Ersten Weltkrieg eine ganz andere These. Er sieht Russland in Verbindung mit Serbien in der Pflicht, denn die Dinge auf dem Balkan ließen sich nur durch einen Krieg im Sinne dieser Länder verändern. Aber Historiker, die eine andere These als die deutsche Hauptschuld vertreten, "die schreiben ja Blödsinn." Zumindest bekommt man diesen Eindruck vermittel, denn immer haben immer russischen oder eben vorzugsweise englischsprachige Werke quasi Referenzcharakter.

Zum Thema Kriegsziel, das ist ja hier im Thread auch schon angeschnitten worden, nannte Nikolau die Auflösung des Deutschen Reiches als Ziel.
 
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Zur berühmten und größten Seeschlacht der Geschichte, ich meine die Skagerrakschlacht, erfährt der geneigte Leser,
dass die Royal Navy ihre maritime Überlegenheit gewahrt hat. Ich bin der nicht der Marineexperte, aber war es nicht so, das die Navy größere Verluste erlitten hat? Wenn ja, dürfte dies auch durchaus Erwähnung finden.
Die größeren Verluste haben aber strategisch nichts bewirkt. Ich weiß nicht wie ausführlich der Abschnitt zur Skagerrakschlacht ist (und damit Platz für eine detailliertere Darstellung gegeben wäre), aber die Schlussfolgerung scheint mir richtig zu sein.
 
Ein Kuriosum am Rande: In den englischsprachigen Artikel zu dem argentinischen Dreadnought ARA Rivadavia (ARA Rivadavia - Wikipedia, the free encyclopedia), der im Zuge der Südamerikanischen Rüstungsspirale bestellt wurde, dann jedoch verkauft werden sollte, ist in den Referenzen folgendes zu lesen:

The specific example given in Livermore, footnote 106, is that a "group of French bankers, on behalf of the Russian government, were offering in gold twice the contract price of the ships, which were to be turned over to Greece."[18] Turning over the ships was likely meant as a way around the United States' neutrality rules.

Das war kurz vor Kriegsausbruch. Wenn es stimmen sollte, wurde hier seitens Russlands und Frankreichs eine offene Einkreisungspolitik gegenüber des Osmanischen Reiches betrieben.
 
Die Diskussion über die Ursachen des WW1 und die des WW2 weisen erstaunliche Ähnlichkeiten in den Argumentationsmustern und den damit zusammenhängenden einseitigen Übertreibungen auf. Im optimalen Fall erfolgt eine differenzierte Sicht durch den Historiker auf die Parteien, aber es haben die polarisierenden Sichtweisen in der Regel die öffentliche Diskussion beherrscht. Dabei sind zwei grundlegende Sichtweisen von Historikern zu erkennen, die die öffentliche Diskussion besonders beschäftigt haben:

Die erste Position kritisiert die Regierung wegen – angeblicher – Untätigkeit, obwohl die externe Bedrohung – angeblich - mehr als deutlich gewesen ist. Und erklärt ein historisches Versagen der Regierung gegenüber einem externen Aggressor aufgrund von Untätigkeit. Dieser Vorwurf über angebliche Untätigkeit tritt in der Diskussion als Kritik des „Appeasement“ auf. Ein typisches Beispiel für diese Art der Diskussion ist die Kritik gegenüber Chamberlain im Rahmen der m.E. unfairen „guilty man“ Kampagne gegen ihn.

Die zweite Position kritisiert Regierungen aus einem gegenläufigen Blickwinkel und behauptet, dass die Regierungen angesichts eines externen Drucks überreagiert haben. Im Zuge dieser Diskussion wird den Regierungen der Vorwurf der - angeblichen - „Kriegstreiberei“ gemacht. Diese Kritik abstrahiert dabei häufig von den realpolitischen strategischen und militärischen Rahmenbedingen und erkennt weder die Kausalität noch die interaktive Dynamik eines Rüstungswettlaufs. Als ein Beispiel kann man dabei die Darstellung zur Mobilisierung der zaristischen Armee in der historischen Literatur ansehen, die die Kontingenz dieses Rüstungswettlaufs m.E. nicht korrekt darstellt.

Dieses Darstellung ist deswegen so erstaunlich,weil sie bei ihrem Vorwurf der „Kriegstreiberei“ wichtige Zusammenhänge übersieht. In diesem Sinne war die russische Mobilisierung in 1914 nicht durch eine genuine offensive oder aggressive strategische Diskussion bestimmt, was den Vorwurf der „Kriegstreiberei“ hätte rechtfertigen können. Der Prozess der russischen Mobilisierung in 1914 war vor allem das Ergebnis des Rüstungswettlauf im Rahmen des“ Kults der Offensive“ zwischen dem DR und Frankreich. Und es waren die „Masse“ – Umfang der mobilisierten Armee - und „Geschwindigkeit“ – die Geschwindigkeit in Tagen bis zur abgeschlossenen Konzentration der mobilisierten Armee - die zentralen Größen dieser Eskalationsspirale. In der Folge der zunehmenden Rüstung in diesen beiden Ländern ging man davon aus, dass ca. in der 3. Bis 4. Woche der Kriegshandlungen, nach Beginn der Mobilisierung, bereits mit den entscheidenden Kriegshandlungen im Westen zwischen dem DR und Frankreich zu rechnen sei [2, S. 159].

Die Konsequenz war, sofern Russland bis zu diesem Zeitpunkt nicht entscheidend in die Kämpfe eingegriffen hätte, hätte es sich bei einem besiegten Frankreich der vereinigten Armee aus dem DR und Ö-U gegenüber gesehen. Und aus der Sicht des russischen Generalstabs wäre das gleichbedeutend mit einer wahrscheinlichen vollständigen russischen Niederlage gewesen!

In diesem Sinne war der Schlieffenplan und sein Primat der schnellen Vernichtung des Gegners, ermöglicht durch die hohe Leistungsfähgkeit der deutschen Eisenbahnen [6], die kausale Rahmenbedingung für die Planung des zeitlichen Ablaufs der Mobilisierung. Wie vor allem bei Menning und Snyder deutlich wird[1 & 2].

Diesem externen Druck stand das „organisierte Chaos“ der militärischen Planung in Russland gegenüber. Das Problem, mit dem die strategische Planung in Russland vor allem zu kämpfen hatte, war die geringe personelle Kontinuität bei der Person des Chefs des Generalstabs. Zwischen 1908 und 1914 hatten diese wichtige Position nicht weniger als fünf verschiedene Generäle inne [1, S. 221]. Und dieser Zustand deutet zum einen auf die geringe Kontinuität der Planungen hin und verweist zusätzlich darauf, dass der russische Generalstab aufgrund der starken Rolle der Bedeutung der französisch-russischen Allianz anfällig war, gegenüber dem Druck des französischen Generalstabs und seinen Erwartungen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt war die brisante innenpolitische Situation in Russland nach 1905. Als Folge der semi-revolutionären Situation in Russland, mit regelmäßigen Streiks und als Folge des Zwangs, Haushaltsmittel einzusparen, wurde ab 1910 eine komplett neue Planung für die „territoriale“ Rekrutierung der Armee (ca. 50 %) und ihre friedenmäßige Dislozierung im Inneren von Russland, sowie die kriegsmäßige Konzentration der Armeen im Zuge der neuen Aufmarschplanungen verabschiedet (Plan 19).

Bis 1910 rekrutierten sich die russischen Einheiten primär aus den grenznahen Regionen und das betraf vor allem Polen. Das bewirkte eine ungleiche kostenmäßige Belastung dieser Bezirke, es hatte unerwünschte Auswirkungen auf die ethnische Zusammensetzung der Truppen und reduzierte ihre Verwendung, aufgrund der grenznahen Stationierung, als polizeiliches Repressionsinstrument bei Unruhen oder Revolutionen [2, S. 172].

Dieses System wurde ab 1910 modifiziert. Es hatte neben der Dislozierung der Armee an potentiellen Unruheherden den Vorteil, dass die Kosten für die Stationierung im Frieden gleichmässig auf Russland zu verteilen und zusätzlich, die Rekruten hatten kurze Wege zu den Einheiten, für die sie mobilisiert werden sollten [1, S. 222].

Im Jahr 1913 bedeutete diese Verlagerung der Standorte von der westlichen Grenze zum DR in das Innere folgende Verteilung der Armee-Korps in den Militärbezirken. Warschau 5, Vilnius 4, Kiew 5, Odessa 2, St Petersburg 5 und Kazan 2 [2, S. 223-224]. Damit waren ca. 2/5 der aktiven Armee im Grenzbereich stationiert, während der Rest per Eisenbahn in die Bereitstellungsräume zu tranportieren war!

Diesen deutlichen Vorteilen während der Friedenszeit standen massive Nachteile für die Konzentrationsphase im Falle eines Krieges gegenüber. Unter den neuen Planungsvoraussetzungen mussten die Korps schnell und vollständig an die Eisenbahnendpunkte an der Grenze zum DR gelangen und von dort in ihre Konzentrationsgebiete marschieren. Die Folge für die Geschwindigkeit des russischen Aufmarsches war, dass die russische Armee im Jahr 1912 länger für die Mobilisierungs- und Konzentrationsphase benötigte wie im Jahr 1900 [2, S. 172]!

Seit 1908 erhöhte sich der französische Druck auf Russland zur Steigerung seiner Mobilisierungskapazität kontinuierlich [9, S. 82]. Der Vorwurf zielte auf die Nichterfüllung des Artikels 2 der Militärkonvention ab und hielt den Russen vor, dass sie im Beistandsfall nicht rechtzeitig Mobilisieren können. Unter dem Eindruck der Verschärfung der Konflikte im Jahr 1911 zwischen dem DR und Frankreich erreichte dieser Druck von Seiten der Franzosen seinen Höhepunkt [9, S.82]. Im Rahmen des Treffens zwischen dem französischen und dem russischen Generalstab im Juli 1912 werden entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung der Eisenbahn-Infrastruktur beschlossen.

Der weiterhin massive französische Drucks durch Joffre 1913 auf den russischen Generalstab stand in enger Beziehung zur offensiven Formulierung des Plans XVII, der im Oktober 1913 verbindliche Planungsgrundlage wurde. Und in ihm wurde die schnelle und parallele Mobilisierung der französischen und russischen Armee festgelegt [10, S. 118 ff]. Dabei ging man in Frankreich davon aus, dass Russland deutliche Fortschritte gemacht hat und ab dem M+15 mit Angriffen beginnen könnte und M+20 mit dem Gros der regulären, mobilisierten Armee substantiell eine strategische Offensive gegen das DR einleiten könne, um das Abziehen von Einheiten aus dem Westen zu erzwingen [10, 120].

Die umfangreichen Verbesserungen der Eisenbahn-Infrastruktur waren zu Kriegsbeginn zu einem hohen Prozentsatz noch nicht begonnen worden und die angefangenen Maßnahmen noch nicht fertiggestellt. Russland ging im Juli 1914 mit einer völlig unzureichenden Eisenbahn-Infrastruktur in den Prozess der kriegsmäßigen Dislozierung seiner Armeen, wie in der Darstellung bei Stevenson und Stams deutlich wird [7 & 9, S. 86-87].

Und diese mangelnde Fähigkeit zur schnellen Konzentration seiner aus dem Inneren von Russland mobilisierten Streitkräfte an seiner West-Grenze ist der Schlüssel für das Verständnis der einzelnen Phasen des Mobilisierungsprozesses in 1914. Der im Vergleich zum DR (M+13)und zu Ö-U (M +16)langsamere Prozess der Konzentration erforderte für die russische Armee eine erhöhte Sicherheit für die ankommenden Einheiten durch entsprechende „Deckungsstreitkräfte“ [1, S. 230]. Dieses war für die russischen Planer im Generalstab umso vordringlicher, als sie vom DR überraschende Angriffe durch Kavallerieformationen – eine „attaque brusquèe“ - erwarteten, die den Aufmarschprozess ins Stocken bringen könnten [2, S. 176].

Es gab zwischen den französischen und dem russischen Generalstab gravierende Unterschiede in der strategischen Beurteilung potentieller Kriegsszenarien und somit auch der konkreten Aufmarschplanung [4, S. 130ff]. Das betraf zum einen den Schwerpunkt des Aufmarsches gegen Österreich-Ungarn – A - oder gegen das Deutsche Reich - G - Für die konkrete Aufmarschlanung im Juli 1914 galt der ursprüngliche Plan 19 vom 9.7.1910, der durch Danilow, unterstützt durch Kriegsminister Sukhomlinov, als revidierter Plan 19 A am 14.05.1912 in Kraft trat und bereits zentrale Elemente des Plans 20 aufnahm, der im Herbst 1914 in Kraft treten sollte [1, S. 240-248].

Die Russen lösten das Problem des französischen Drucks im Rahmen des Plan 19a dahingehend auf, dass der Umfang der Einheiten, die nach M+15 (mit 800.000 Soldaten) zum Angriff übergehen sollten im wesentlichen aus schnell verfügbaren, aktiven Einheiten bestehen [1, S. 245]. Das Gros der mobilisierten Einheiten stand erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung (M+26 bzw. M+41)[1, S. 252]. Und dieser Umstand der unvollständigen Gliederung bzw. der unvollständigen Ausstattung von kriegsmäßig vorgesehen Einheiten, war auch ein Grund für das Scheitern der 1. und 2. russischen Armee in 1914. Sie wurden zu schnell mobilisiert, sie waren unvollständig mobilisiert und wurden so ins Gefecht geworfen [1, S. 245]. Das Problem wird an einer Darstellung von Snyder deutlich.

.......................................Vollständige Inf Div....... Vollendete Konzentration in Tagen
...........................................1912 / 1913 .................... 1912 / 1913
1. Armee.................................. 15 / 15............................ 36 / 26
2. Armee ..................................14 / 11............................ 40 / 33

An dieser Darstellung sieht man, dass man durch die Optimierung der Abläufe während der gesamten Mobilisierung Geschwindigkeit gegen Vollständigkeit des Aufmarsches eingetauscht hatte [2, S. 183].

Und diese Zuwachs an Geschwindigkeit war auch erreicht worden durch die Maßnahmen, die im Bereich der „Period Preparatory to War“ ab Februar 1912 eingesteuert worden sind [3, S. 41]. In zweierlei Hinsicht waren diese Maßnahmen für den anschließenden Mobilisierungsprozess von besonderer Bedeutung. Zum einen wurden die Einheiten im Grenznahen Bereich durch Rekruten auf Sollstärke erhöht, Einheiten auf Truppenübungsplätzen wurden in ihre Standorte geschickt und beurlaubte Soldaten, aber vor allem Offiziere, zu den Einheiten zurück geholt. Mit dieser Maßnahme sollte vor allem der Schutz der Truppen gewährleistet werden, die aus dem Inneren herangeführt werden. Zum anderen wurden die Pläne der strategischen Eisenbahnlinien auf den Transport von Armeen vorbereitet.

Allerdings erfolgte diese Planung auf einer so prekären Grundlage, dass der Kriegsminister gewarnt wurde, dass ganze Armeeeinheiten an Bahnstationen kampieren würden ohne dass die Chance bestehen würde, sie kurzfristig in die Aufmarschgebiete transportieren zu können.

Das Problem der mangelnden Wahrnehmung der Logistik bzw. des Ausbaus der strategischen Eisenbahn-Infrastruktur für die Kriegsführung hatte dabei in Russland zwei „militärische“ Gründe.

Zum einen gab es vor allem bis ca. 1912 Widerstand aus dem russischen Militär zum forcierten Ausbau von strategischen Eisenbahnlinien in den Grenzbereich [2, S. 174].. Der Widerstand basierte auf der Angst, dass diese Infrastruktur einem Angreifer mehr helfen würde wie der russischen Armee [5, S. 44]. Zum anderen drückte sich darin die Geringschätzung von logistischen Fragen aus, die bei den entsprechenden Planspielen, zuletzt Anfang 1914, keine Berücksichtigung fanden [1, S. 252]. Man wollte „not to complicate the play“ [1, S. 252]. Diese Geringschätzung der logistischen Probleme ist dann auch eine der zentralen Ursachen des Scheitern der russischen Offensiven im August 1914, obwohl die deutsche Armee im wesentlichen im Westen gebunden war [2, S. 161]

In diesem Sinne faßte Suvorov nach dem WW1 die „lessons learned“ der russischen Planungen von 1914 dahingehend: „not to hurry the offensive, to complete concentration, to establish logistical order, and then press forward“ [1, S. 254].

Bleibt für mich als Fazit eine gewisse Ambivalenz. Auf der einen Seite bin ich überzeugt, dass beispielsweise die isolierte Betonung der Bedeutung der "period preparatory to war" für die Erklärung des Ausbruchs des WW1 ihre reale Bedeutung überbetont. Und zum anderen bleibt die Bewertung von Lieven, dass es schwer ist sich vorzustellen, welche realistische Alternative sich Russland im Juli 1914 geboten hätte.

[1] B. Menning: Bayonets before Bullets. The imperial Russian army 1861-1914. 1992
[2] J. Snyder: The Ideology of the Offensive. Military Decision Making and the Disaster of 1914, 1984, S. 157 - 198
[3] N. Stone: The Eastern Front 1914 – 1917
[4] P. Gatrell: Government, industry and rearmament in Russia, 1900 – 1904, 1994
[5] R. Harrison: The Russian Way of War. Operational Art, 1904-1940, 2001
[6] M. Van Creveld: Supplying War. Logistics from Wallenstein to Patton. 2004, bes. S, 113 ff
[7] D. Stevenson: War by Timetable: The Railway Race before 1914. Past and Present, No 162 Feb. 1999, S. 163-194
[8] B. Menning: War Planning and Initial Operations in the Russian Context, in: R. Hamilton & H. Herwig: War Planning 1914, 2010, S. 80 – 142
[9] K. Stams: The Russian Railway and Imperial Intersections in the Russian Empire. MA-Thesis University of Washington, 2012
[10] G. Krumeich: Armaments and Politics in France on the eve of the First World War. 1984
 
Zuletzt bearbeitet:
[...]
Es gab sogar „gigantische“ Pläne, die zaristische Flotte bis Ende der zwanziger Jahre deutlich zu erweitern und sie den Flotten von GB und dem DR anzugleichen. Zumindest entsprach diese Planung der Sicht von Nikolaus II hinsichtlich der zukünftigen Rolle von Russland als Großmacht. In diesem Sinne war er uneingeschränkter „Navalist“.

Aber vor diesen „phantastischen“ Plänen stand das Budgetrecht der Duma zur Bewilligung von Neubauten und die war in Teilen darauf darauf bedacht, sich deutlich gegen die Autokratie zu positioneren. Aus diesem Grund und auch aufgrund des verheerenden Abschneidens im russisch-japanischen Krieg kam es im Jahr 1908 zu einer massiven Krise, die sich im Vorwurf der Duma ausdrückte, dass das Marineministerium mit den Budgets nicht verantwortlich umgehen würde [1, S, 74 ff]
Zu den Plänen sollte Differenz werden, daß vor den Plänen von 1912 schon das Flottenbauprogramm von 1907 voraus ging.
Vier Großkampfschiffe für die Ostsee wurden von der Duma abgelehnt und erst 1909 wurden die finanziellen Mittel bewilligt (Gangut-Klasse).
Die Flottenpläne nach 1912 waren dann von der zweiten Dreadnought- Periode des Großkampfschiffbaus beeinfluß, der wie z.B. auch in Frankreich kaum noch zum tragen kam, durch den Kriegsbeginn 1914. Der Plan von 1912, (nur für die Ostsee vorgesehen) umfasst u.a. 24 Großlinienschiffe und 12 Schlachtkreuzer die bis zum Jahr 1930 fertiggestellt sein sollten.
Aus diesen Programm wurden die Schlachtkreuzer der Borodino-Klasse bewilligt.

In der Novoje Wremja, 12.10.1913 wird geschrieben:
zitat schrieb:
Russland muß in der Ostsee über eine Flotte verfügen, die so stark ist, daß sie allen Operationen des Gegners, welcher Art sie auch sein mögen, entgegentreten, ihm eine Schlacht liefern und aus dieser siegreich hervorgehen kann. Dies vermag nur eine starke Linienschiffsflotte, die geeignet ist, auf die hohe See zu gehen, die Flotte des Gegners aufzusuchen und eine erfolgreiche Schlacht zu schlagen. Nur durch sie werden die Unverletzbarkeit des Reichsgebietes und der Reichsinteressen gewährleistet. Rußland muß eine Flotte schaffen, die so stark ist, daß sie nicht nur ein gefährlicher Gegner, sondern auch ein erwünschter Verbündeter selbst für die stärkste Seemacht ist. Diesen Forderungen entsprechen zwei aktive und ein Reservegeschwader von je acht Linienschiffen, vier Panzerkreuzern, acht Leichten Kreuzern, siebenunddreißig großen Torpedobooten und zwölf Unterseebooten.
Ganz ehrlich, die Worte kommen mir bekannt vor. Sollte der deutsche Risikogedanke kein Alleinstellungsmerkmal haben?

[...]
Durch die potentiellen Neukäufe wäre die türkische Flotte ab 1914 jedoch in der Lage, das Schwarze Meer zu kontrollieren, so Lieven. Diese Situation konnte nur durch den eigenständigen Aufbau einer Dreadnought-Flotte im Schwarzen Meer begegnet werden. Allerdings verfügte Russland an der Schwarzmeer-Küste über keine nennenswerte Infrastruktur, die einen schnellen Ausbau dieser neuen Generation von Schlachtschiffen unterstützen konnte [2, S. 82]

Der Druck zum Aufbau einer Flotte wurde jedoch erhöht durch die Berichte des russischen Botschafters in Konstantinopel im November 1913, dass das Osmanische Reich ernsthafte Anstrengungen unternehmen würde 2 britische bzw. noch 2 weitere andere Dreadnoughts zu kaufen. Erschwerend kam hinzu, dass jedes dieser Schiffe individuell den russischen Neubauten überlegen gewesen wäre [2, S. 83]
Richtig ist, daß auf Grund der türkischen Flottenaktivitäten ab 1911 für den Erwerb von Großlinienschiffen, auch für die Schwarzmeerflotte, die drei Schiffe der Imperatriza-Marija -Klasse 1911 von der Duma bewillgt, ein viertes Schiff erst 1914.
In der Folge ging Sazonow davon aus, dass die Pläne der Marine Ende 1913 - also auf der Basis von 3 projektierten neuen Schlachtschiffen - dazu führen konnten, in ca. 5 Jahren, also frühestens 1917 !!!!, eine Flotte zu erhalten, die seinen politischen Zielen in Bezug auf das Osmanische Reich und den Bosporus angemessen wären [2, S. 82] Bei Reynolds wird die Planung des Angriffs oder die Besetzung von Konstantinopel auf die Periode zwischen 1917 und 1919 angesiedelt [3, S. 36]

Allerdings ging man davon aus, dass die Baltische Flotte, die zu dem Zeitpunkt über mindestens 8 Schlachtschiffe verfügt hätte (4 BB & 4 BC), ebenfalls im Mittelmeer zur Verfügung gestanden hätte.
1.) Schwarzmeerflotte: Wie kommt man auf die Annahme, wenn die 3 Schiffe bereits 1911 auf Stapel gelegt worden sind und alle 3 noch vor Kriegsbeginn Aug 1914 vom Stapel gelaufen waren?
2.) Baltische Flotte: Die 4 Großlinienschiffe waren bereits 1908/09 auf Kiel gelegt worden, die 4 Schlachtkreuzer (Achtung, der Begriff im Zusammenhang mit Schlachtkreuzern, von Schlachtschiffen zu sprechen, ist technisch falsch!) aber erst Januar 1914 auf Kiel gelegt worden.
Die chronologische Einordnung der Schiffsbauten zu den Flottenprogrammen wie auch deren Bewilligung ist nicht ganz passend.

Das Eintreffen der SMS Göben am Bosorus änderte das maritime Verhältnis zu Gunsten des Osmanischen Reichs.
Auch diese These sollte differenziert werden, da die Goeben ( Achtung der Name Goeben kommt vom preußischen General August von Goeben, nicht mit ö geschrieben) nur bis Ende 1915 als modernsten Kriegsschiff keinen Gegner hatte. Schon mit der Indienstnahme der ersten beiden russischen Großlinienschiffe wars vorbei mit dem Verhältnis.

Quelle: Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer 1905 - 1970 / S. Breyer
 
Rasche Mobilisierung und ein gute Infrastruktur sind zwar sicher gut, aber sie alleine stellen den Sie noch lange nicht den militärischen Erfolg sicher.
Die Russen verfügten im Weltkrieg nicht wirklich über eine gute militärische Führung. Das haben die überaus eifrig bemühten Franzosen wohl bei ihren Milliardenkrediten wohl möglicherweise übersehen.
 
Bleibt für mich als Fazit eine gewisse Ambivalenz. Auf der einen Seite bin ich überzeugt, dass beispielsweise die isolierte Betonung der Bedeutung der "period preparatory to war" für die Erklärung des Ausbruchs des WW1 ihre reale Bedeutung überbetont. Und zum anderen bleibt die Bewertung von Lieven, dass es schwer ist sich vorzustellen, welche realistische Alternative sich Russland im Juli 1914 geboten hätte.
Es ist mE nicht nur eine Überzeichnung der Historiker, verwurzelt in den Schulddiskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit diesen Detailbetrachtungen der eskalierenden russischen "militärischen Maßnahmen" in der Julikrise.

Der Schlüssel ist hier der angesprochene Plan XVII Joffres und die Schlieffen/Moltke-Planung.

Joffre sah sich in den Kriegsplanungen in jedem denkbaren Fall mit der Aufgabe konfrontiert,

- eine auf ihn marschierende deutsche Armee von >1,5 Mio. Mann (man könnte das mit dem Bild der "russischen Dampfwalze" vergleichen),
- rasant mobilisiert,
- mit akribischen Eisenbahnplänen für die Offensive optimal disloziert,
- vermutlich der frz. sogar quantitativ überlegen, ohnehin qualitativ überlegen,

im Nordwesten aufzuhalten und eine Verzögerungsschlacht zu führen. Für diese Verzögerungsschlacht (Plan XVII: Joffres own) hatte er eine Erfolgsaussicht, wenn im Osten etwas "passiert."

Äquivalent die deutschen Überlegungen, nur vom Ergebnis her umgekehrt gedacht: erst der immense zeitliche Druck der gegebenen deutschen Kriegsplanung schob die Brisanz der Frage der russischen Mobilisierung in den kritischen "alles oder nichts"-Bereich, wobei man hier "in Tagen dachte" und den Erfolg schon planungsweise und buchstäblich an den seidenen Faden hängte.

Aus deutscher (militär-planerischer) Sicht ist daher die Aufregung über Mobilisierungs-Schritte der russischen Seite durchaus erklärbar, obgleich sich Moltke über die russische "Kriegsvorbereitungsphase" nicht so äußerte, als ob hier schon der Grünbereich verlassen würde.

Die gleiche Brisanz ergibt sich aus militärischer französischer Sicht, wobei hier die Politik bis zum Kriegsausbruch trotzdem die Oberhand über das Militär behielt.

Ob aus russischer Sicht die Tragweite voll begriffen wurde, lief als Literaturstreit mit pro und kontra unter dem Titel "the Meaning of Mobilization 1914". Es gibt Autoren, die schlussfolgern, diese höchste Brisanz eigener Handlungen wegen der deutschen Kriegsplanungen müsse der russischen Seite klar gewesen sein, andere verneinen das.
 
thanepower schrieb:
Bleibt für mich als Fazit eine gewisse Ambivalenz. Auf der einen Seite bin ich überzeugt, dass beispielsweise die isolierte Betonung der Bedeutung der "period preparatory to war" für die Erklärung des Ausbruchs des WW1 ihre reale Bedeutung überbetont. Und zum anderen bleibt die Bewertung von Lieven, dass es schwer ist sich vorzustellen, welche realistische Alternative sich Russland im Juli 1914 geboten hätte.

Natürlich hatte Russland eine andere Alternative. Einfach kein Krieg wegen Serbien beginnen. Immerhin wurde der Thronfolger einer Großmacht ermordet und Serbien hat eben nicht alles in seiner Macht stehende getan, um dies zu verhindern. Russland wusste genau, was ein Krieg gegen Österreich-Ungarn in der Sache bedeutet.
 
Schüler zu Mephisto:
„Mir wird von alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum. „

Also so geht es mir wirklich beim Thema Julikrise, und zwar umsomehr je mehr ich darüber lese.

Warum, zum Teufel, sah sich Russland veranlasst ein, nachträglich als riskantes zu sehendes, Spiel zu spielen?
Ein Krieg der KuK-Monarchie gegen Serbien konnte ja nicht geeignet sein, russisches Territorium zu bedrohen, sondern hätte im Gegenteil dazu, eine mögliche, und nicht anzunehmende Aggression, gegen Russland zunächst geschwächt.

Es war auch nicht anzunehmen, dass sich eine österreichische Mobilisierung gegen Russland wenden könnte.
Russland als Staat war nicht bedroht durch eine Aggression gegen Serbien, (oder doch?)
ja es stellte sich heraus, dass diese Bedrohung erst in der Folge der späteren Abläufe, die vom ursprünglichen Anlass fast gänzlich abgekoppelt waren, ihre bekannte Wirkung entfaltete.

Und wenn Russland, gemäß der allgemein vorhandenen Wahrnehmung, in wenigen Jahren eine klare militärische Überlegenheit erreicht hätte, warum versteifte es sich gerade zu diesem Zeitpunkt auf eine Position, die es als gefährlich hätte erkennen können?

Was ich auch nicht begreifen kann:
Wieso stützte Russland als Vielvölkerstaat einen (panslawischen) Irredentismus, wenn es doch selbst in Gefahr war durch einen solchen in Frage gestellt zu werden?

Es scheint mir doch offensichtlich so zu sein, dass ,wie Turgot bemerkt, die russische Handlungsweise keineswegs alternativlos war.

Eine andere Frage, die mir im Zusammenhang erheblich scheint:
War es den Akteuren Russland und Frankreich bewußt, dass eine russische Mobilisierung den aberwitzigen Schlieffenplan des DR triggern würde?

Und dann kommt natürlich die Frage, inwiefern die politischen Entscheidungsträger überhaupt mit der militärischen Materie so vertraut waren, dass sie im Angesicht des sich schnell öffnenden Abgrunds über eine angemessene Entscheidungsgrundlage verfügten und dergestellt auch einen angemessenen Einfluss ausüben konnten.
 
Es scheint mir doch offensichtlich so zu sein, dass ,wie Turgot bemerkt, die russische Handlungsweise keineswegs alternativlos war.

Aus seiner Sicht mag das so sein. Die entsprechenden Historiker, und ich habe ausführlich schon dazu etwas geschrieben, sehen es anders, wie beispielsweise Kusber, weitgehend in Anlehnung an die bereits ausführlich zitierten anderen Historiker, wie Lieven, Fuller, Menning, Bobroff, Hosking, McLaren, Tomaszewski u.a.. Sind im Rahmen der Darstellungen zur Mobilsierung dargestellt worden.

In diesem Sinne ist die herausragende Rolle der "Süd-Slawen" für die imperiale Rolle bzw. Definition des zaristischen Reichs und seiner Innenpolitik dargestellt worden. Im Rahmen zur Liman von Sanders Krise dargestellt worden.

Das kann man zur Kenntnis nehmen oder es ignorieren. In der Folge wird man unterschiedliche Handlungsoptionen für realistisch halten.

vgl. dazu beispielsweise, der obige Historiker aufgreift, J. Kusber: Die russischen Streitkräfte und der deutsche Aufmarsch beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. S. 221 in: Ehler u.a. Der Schlieffenplan.

Und einmal mehr. Es ist der aktuelle Stand der Forschung zu diesem Thema, dass es um "Ehre" und Prestige" ging als unmittelbarer "Auslöser" für den WW1 und um die große Angst vor dem Abrutschen in die Regionalmachtpostion etc.

Damit zusammenhängend waren die veränderten Rahmenbedingungen der traditionellen Großmacht-Diplomatie, deren traditionelle Mechanismen in 1914 versagt haben. Sie wollten alle Bluffen und haben es eskaliert und plötzlich konnte / wollte keiner mehr effektiv nachgeben.

Dieses hatte ich Dir aber in Anlehnung an Otte bereits in einem anderen Kontext auch geschrieben.

In dieser Situation zu sagen, die Russen hätten andere Optionen gehabt, ist einerseits natürlich theoretisch richtig, andererseits ist es absolut nicht zutreffend, da sie alle zusätzlich unter nicht unerheblichen komplizierten innenpolitischen Situationen gehandelt haben.

Andererseits ist es auch richtig, dass in den vorherigen Jahren eine russische Mobilisierung im DR keine Krisenstimmung ausgelöst hatte und das DR auch lange Russland signalisiert hatte, dass - wie in den Jahren zuvor - eine Mobiliiserung unproblematisch war.

Eine andere Frage, die mir im Zusammenhang erheblich scheint: War es den Akteuren Russland und Frankreich bewußt, dass eine russische Mobilisierung den aberwitzigen Schlieffenplan des DR triggern würde?

Dass die deutsche Generalmobilmachung, und es gab auch in diesem Fall nicht die Möglichkeit einer partiellen Mobilisierung, da auch in diesem Fall wie in Russland die Mechanismmen zu komlex waren!!!!, direkt in die Kriegserklärung einmündet, das wußte man in St Petersburg nicht.

Die russische Armee konnte mobilisiert relativ lange aufmarschieren, ohne den Zwang zu haben, einen Krieg zu führen.
 
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Die russische Armee konnte mobilisiert relativ lange aufmarschieren, ohne den Zwang zu haben, einen Krieg zu führen.

Darauf weist Mombauer - Die Julikrise- hin.
Eine russische Mobilisierung konnte passiv verharren.

Eine Mobilisierung des DR dagegen war zwanghaft mit einer möglichst schnell durchzuführenden Aggression verbunden.
Da, denke ich, sind andere Deutungen nicht Stand der Dinge und Tuchman beschreibt das auch sehr plastisch.

Die Frage aber bleibt doch:
Inwieweit konnten sich die russischen Entscheidungsträger sich eines solchen fatalen Mechanismus bewusst sein und diesen mit ihren Handlungen abgleichen?

Ich kann Dir versichern, dass ich Deine Beiträge mit großer Aufmerksamkeit lese,
und ebenso, dass ich diese nicht immer verstehe.
(Ich denke, es würde Dir nicht viel anders ergehen, wenn ich Dir mein Spezialgebiet darstellen wollte.)

Daher sollte es Dich weder verwundern, noch missstimmen, wenn ich etwas frage, was Du vorher schon erklärt hast.
:winke: hatl
 
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