Es ist eine gute historische Tradition, die Effektivität von Staaten sowie deren machtpolitisches Wirken zu bewerten. Was z.B. Rom oder Karthago betrifft, so haben wir das in diesem Forum in endlosen Threads praktiziert, ganz abgesehen von diesbezüglichen Publikationen. Warum sollte das für die aristokratische Republik Venedig nicht gelten?
Soweit es mich betrifft, habe ich es noch nie als sonderlich sinnvoll erachtet, darüber zu sinnieren, ob die römische Republik stabiler gewesen wäre, wenn man den Senat und die Volksversammlungen durch ein von allen Reichsbewohnern gewähltes Parlament nach heutigem Vorbild ersetzt hätte. Genauso gut könnte man fragen, ob es für das Frankenreich vorteilhaft gewesen wäre, die Republik mit einem gewählten Präsidenten einzuführen, um die ständigen Erbteilungen zu vermeiden.
Die Effektivität von Staaten sowie deren machtpolitisches Wirken kann man natürlich bewerten. Wenn man aber "Lösungsvorschläge" aus der heutigen Perspektive heraus erstellt und dann noch ableitet, wenn sie damals umgesetzt worden wären, hätten die Staaten besser funktioniert, ist das kontrafaktische Geschichtsschreibung.
Es geht am "Denken des Mittelalters" keineswegs vorbei, wenn Staaten oder Reiche ihren Adel an der Staatsführung beteiligen. Venedig hat das für seinen neu gewonnenen Festlandsbesitz nicht praktiziert, was eine Identifikation des festländischen Adels mit dem Staat verhinderte. Das sehen zahlreiche Historiker kritisch und dieser Meinung kann man sich durchaus zustimmen.
Warum Venedig dadurch allerdings eine "Stadt wie viele" geworden wäre, erschließt sich mir nicht. Angesichts der strikten Aufnahmebedingungen in die verschiedenen venezianischen Staatsorgane wären wichtige Repräsentanten der Nobilität der Terra ferma im Großen Rat, Kleinen Rat, der Quarantia, dem Senat und dem Rat der Zehn vertreten gewesen. Das hätte weder die Macht noch die Effizienz oder das Selbstverständnis der Republik von San Marco beschädigt, sondern ganz im Gegenteil die Stabilität des Staates gefördert.
Ich denke schon, dass es für eine Stadt und ihren Adel einen Unterschied macht, was Macht, Einfluss und Selbstverständnis betrifft, ob ihre Organe zu 100% oder nur zu 10% von Adligen aus der Stadt besetzt sind und die restlichen 90% von Provinzialen. Für eine völlige Integration nach heutigem Verständnis hätte obendrein natürlich auch der Doge in der Regel aus der Provinz sein müssen. Ob es wirklich weder die Macht noch das Selbstverständnis der Republik von San Marco beschädigt hätte, wenn ein Friauler oder gar ein Kreter oder Zypriot Doge gewesen wäre?
Aber da kann man wohl unterschiedlicher Ansicht sein.
Man hätte natürlich nicht so weit gehen müssen und sich auch darauf beschränken können, lediglich ein paar Alibi-Vertreter aus der Terra ferma aufzunehmen, die gegen die Nobilität Venedigs eh nicht ankommen. Dann aber stellt sich die Frage, ob das etwas gebracht hätte oder ob sie nicht auch als genau das, nämlich als Augenauswischerei, betrachtet worden wären. Zufrieden wäre dann erst recht niemand gewesen.