Die Gründe des Wahnsinns römischer Kaiser

Warum soll man die Erkenntnisse der Toxikologie (falls sie denn so stimmen) nicht zu Rate ziehen? (...)Aber immerhin eines kann man sagen: so, wie es Tacitus erzählt, kann es nicht gewesen sein.

Natürlich kann man die Toxikologie hinzuziehen.
Nur die absolute Aussage Kohn-Abrests finde ich sehr gewagt.

Georges-Roux hat ... eine Kapazität der modernen Toxikologie, Herrn Prof. Kohn-Abrest, befragt. Dieser hat ihm bestätigt, daß es keine Gifte gibt, „deren Einnahme in nicht massiver Dosierung den sofortigen Tod hervorrufen könne". Was nun die Einnahme in hoher Dosis, die den sofortigen Tod nach sich zöge, angeht, so stellt sich dem im Fall des Britannicus eine große Schwierigkeit entgegen: „Das Aussehen der Mischung und ihre anderen organoleptischen Eigenschaften", so sagt Kohn-Abrest, „können nicht unbemerkt bleiben".

Er meint also, alle möglichen antiken Gifte und ihre Wirkung zu kennen. Das finde ich anmaßend.
 
Er meint also, alle möglichen antiken Gifte und ihre Wirkung zu kennen. Das finde ich anmaßend.
Tatsächlich maßt er sich noch mehr an: denn seine Liste der 8 schnell wirkenden Gifte soll umfassend sein (es kommt ja auch das Cyanid vor, das es in der Antike noch gar nicht gab). Ob das so ist, weiß ich allerdings nicht. Wohlgemerkt: er listet nicht alle möglichen Gifte auf, sondern nur die schnell wirkenden. Arsen z.B. taucht dort nicht auf, da nicht schnell wirkend (aber sehr wohl in der Antike bekannt).
 
Es gibt ja diese Leute, die glauben, die Römer hätten die angeblichen Handelskontakte der Phoenizier nach Südamerika übernommen. Vielleicht gehört der Toxikologe dazu?
 
Ja sicher, aber was er hätte er sonst machen können? Er hat die Geschichte ernst genommen, so wie sie da geschrieben steht, und hat überprüft, ob das stimmen kann. Wenn er dann zum Schluss kommt: das ist aus den und den Gründen nicht möglich, dann muss daran etwas faul sein. Narrativ hin oder her.
Ich wies ja zwei mal darauf hin, dass durchaus eine Vergiftung stattgefunden haben kann, nur der Handlungsverlauf ganz anders war, als von Tacitus geschildert. Denn Nero und Locusta werden ja nicht damit hausieren gegangen sein. Tacitus hat das Gerücht vermutlich ausgeschrieben oder ein mittlerweile ausentwickeltes Gerücht wiedergegeben. Narrative bestehen ja sehr daraus, dass die Lücken gefüllt werden. Selbst wenn du jemanden etwas aus deinem Leben erzählst wirst du logische Brüche glätten und Lücken füllen. Und die Geschichtsschreiber machen das eben auch. Selten schreiben sie: „Ich weiß gar nicht so genau, was passiert ist...“ Und das beachtet Roux offenbar nicht. Er untersucht ob der Narrativ stimmen kann, dass Britannicus innert Sekunden/Minuten (was heißt pariter, bezieht sich das wirklich auf die Zeit, oder dass Stimme und Atem 'gleichermaßen' versagten? Mir ist das aus der Formulierung nicht ganz klar) starb. Und da dieser Narrativ nicht stimmt, kommt er zum Ergebnis (wenn ich das richtig verstanden habe), dass die Vergiftung an sich nicht stimmen kann. Und das ist eben der Fehler.

Stell dir das mal als mathematische Operation war. Der Schüler kommt in der Matheklausur zum richtigen Ergebnis, aber hätte mit dem gewählten Lösungsweg eigentlich nicht zu diesem Ergebnis kommen dürfen.
 
Welchen Sinn hat es, bei einem Verdacht auf Giftmord im antiken Rom just über dieses Gift zu sprechen, welches erst nach den Entdeckungen in Europa bekannt wurde?
Ich schrub schon zuvor, dass Roux eine Liste aller bekannten schnell wirkenden Gifte vorlegt. Darunter z.B. auch das Cyanid. Genaues Lesen erspart überflüssige Worte. ;)
Natürlich ist es möglich, dass Locuste Mittel bekannt waren, die heute unbekannt sind. Halte ich aber für eher unwahrscheinlich: nicht nur "Gutes bleibt", wie der WDR sagt, sondern auch "Böses bleibt".
Und da dieser Narrativ nicht stimmt, kommt er zum Ergebnis (wenn ich das richtig verstanden habe), dass die Vergiftung an sich nicht stimmen kann. Und das ist eben der Fehler.
So sehe ich das auch. Nur das, was bei Tacitus / Sueton steht, kann damit widerlegt werden.
Die weitere Folgerung, dass ein sofort wirksames Gift hätte eingesetzt werden müssen, um Neros Epilepsie-These zu rechtfertigen, stammt von mir, ist aber ein Indiz dafür, dass T / S ihre Story in dieser Weise hatten darstellen müssen.
 
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So sehe ich das auch. Nur das, was bei Tacitus / Sueton steht, kann damit widerlegt werden.
Die weitere Folgerung, dass ein sofort wirksames Gift hätte eingesetzt werden müssen, um Neros Epilepsie-These zu rechtfertigen, stammt von mir, ist aber ein Indiz dafür, dass T / S ihre Story in dieser Weise hatten darstellen müssen.

Das ist ja generell ein Problem, wenn wir Quellen haben, die voneinander abhängen oder aus derselben Tradition stammen. Nun kann Ravenik vielleicht anmerken "Moment, Tacitus steht in der senatorischen, Sueton in der ritterlichen Tradition", aber letztlich bedienen sie sich doch bei denselben Gewährsleuten bzw. Sueton schreibt bei Tacitus ab. Solange sie sich nicht selbst oder den Naturgesetzen/unserem Erfahrungswissen widersprechen (etwa Sueton, dass sich bei Vespasian im Garten ein gefallener Baum wieder aufrichtete, was ein Omen war, dass er Kaiser würde) oder aber es keine unabhängige Parallelüberlieferung gibt, können wir sie natürlich nicht widerlegen. Wir können höchstens sagen, dass dieses oder jenes und aus diesem oder jenen Grund nicht plausibel vorkäme und wir die Schilderung deswegen für unglaubwürdig halten. Widerlegen können wir sie nicht.

Mit dem Erfahrungswissen kommen wir dann auch wieder zu Roux. Der belegt, dass die Geschichte, so wie geschildert, aus toxikologischen Gründen nicht stimmen kann. Ein Historiker, der auch Toxikologe wäre, wäre allerdings anders herangegangen. Der hätte erst die Pausibilität der Schilderung geprüft und erst dann toxikologische Überlegungen angestellt: Wie könnte sich, unter der Voraussetzung, dass Britannicus wirklich vergiftet wurde, das tatsächlich abgespielt haben?

Man sagt zwar, dass Allergien heute durch unsere Entfremdung von der Natur und Umweltverschmutzung in der Bevölkerung verstärkt auftreten, aber Allergien gab es auch früher schon. Ich könnte mehrere Personen aus meinem Umfeld in die Bedrouille bringen, wenn ich z.B. mit E r d n u s s ö l kochen würde. Da kann der Vorkoster dann das Wokgemüse problemlos essen, aber mein Freund T. würde daran im schlimmsten Fall e r s t i c k e n, wenn er nicht sofort seine Medikamente zur Hand hätte oder rechtzeitig in ein Krankenhaus käme.
 
Und die Geschichtsschreiber machen das eben auch. Selten schreiben sie: „Ich weiß gar nicht so genau, was passiert ist...“
Gerade römische Geschichtsschreiber verwendeten aber oft Formulierungen wie "dicitur" oder "traditur" ("es wird gesagt/berichtet"), um anzudeuten, dass sie nicht unbedingt zwingend für den Wahrheitsgehalt des Berichteten einstehen.
 
Gerade römische Geschichtsschreiber verwendeten aber oft Formulierungen wie "dicitur" oder "traditur" ("es wird gesagt/berichtet"), um anzudeuten, dass sie nicht unbedingt zwingend für den Wahrheitsgehalt des Berichteten einstehen.
Ich meinte mehr das Glätten von Brüchen im Narrativ und das Füllen von Lücken. Eine Geschichte erzählt sich schlecht, wenn sie Brüche* oder Lücken hat. Also versucht der Erzähler diese Geschichte - oft durchaus nach bestem Wissen und Gewissen - so zu erzählen, dass sie Sinn ergibt. Das muss man bei Historiographen immer mitdenken. Aufgabe des Historikers ist, solche Stellen zu identifizieren.


*gemeint sind nicht überraschende Wendungen, wie etwa im Thriller typisch. Das sind auch Brüche, aber eben als Überraschungsmomente gewollte.
 
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