Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

Deshalb ist es ja plausibel, dass es eine Kerngruppe gibt
An die eine Kerngruppe glaube ich nicht, was soll daran plausibel sein? Das mag bei wandernden Großverbänden der Fall gewesen sein, nicht aber bei Franken, Alemannen und Baiern. Da konnte man auf Stammessagen in der Anfangszeit (und auch später noch) verzichten. Wenn überhaupt, hat man Sagen möglichst weit hergeholten spektakulären "Anfängen" ersonnen. Die Franken stammen aus Troja, die Baiern vom Mount Everest Ararat (der galt als höchster Berg der Welt). Die Alemannen kamen ohne Stammessage aus, die Sachsen erkoren Alexander den Großen zum Ahnherrn.
 
Das könnte ein bisschen so wie mit Alarichs Westgoten gewesen sein: die waren wohl auch nicht einfach Nachfahren der Terwingen, aber zum Teil, man darf vielleicht auch sagen im Kern, doch.
 
Das könnte ein bisschen so wie mit Alarichs Westgoten gewesen sein: die waren wohl auch nicht einfach Nachfahren der Terwingen, aber zum Teil, man darf vielleicht auch sagen im Kern, doch.

Die Visigoten sind doch ein schönes Beispiel.
Geführt von der traditionsreichen (Kern-)Familie der Balthen Fast (aber nur fast!) so wichtig und so alt wie die Amaler Theoderichs.
Heute geht die Forschung (z.B. Mischa Meier) davon aus, dass diese Sippe eine Konstruktion im Nachgang von Alarichs Erfolgen war, vorher nicht besonders prominent.
Vermutlich sieht es mit den Amalern nicht viel anders aus. Thiudimir und seine Brüder könnten dort der Anfang sein.
 
Die Leute dürften blauäugig und blond gewesen sein (was bei den heutigen Bayern nur gelegentlich der Fall ist).

Ich weiß nicht, ob Du das nicht überinterpretierst. Wenn das ein entscheidendes Herkunftsindiz wäre, dann hätte man die Leute nach Nordschweden oder Finnland verorten müssen:

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Blonde Schweden: So blond sind schwedische Frauen und Männer wirklich - Hej Sweden

Und die "südosteuropäischen" Individuen mit deformiertem Schädel (40% Blondanteil) hätte man getrost zu alteingesessenen Deutschen erklären können.
 
Na, die namentlich bekannten Amtsträger in seiner unmittelbaren Umgebung, da spielten die Albina (Adelssippe) – Wikipedia wohl eine prominente Rolle.
Zu der im Salzburger Raum beheimateten wohl romanischen Familie der Albina soll nach dem Wikipedia-Artikel der cancellarius des Herzogs Theodo (um 700) Madelgoz und der capellanus Ursus des Herzogs Odilo (1. Hälfte 8. Jh.) gehören. Das sind ja wohl die frühesten uns bekannten bairischen Amtsträger, in deren Aufgabenbereich die Erstellung lateinischer Schriftstücke gefallen sein dürfte.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Herzöge um 700 und später ihre Spezialisten für lateinische Schriftlichkeit nicht irgendwo hernahmen, sondern aus dem einzigen uns heute bekannten größeren bairischen Gebiet, das damals noch romanisch geprägt war, nämlich aus dem Salzburger Raum. Das spricht doch dafür, dass sich lateinisches Lesen und Schreiben anderswo, etwa in Augsburg und Regensburg, seit dem Ende des Imperiums kaum gehalten hatte.
 
Das spricht doch dafür, dass sich lateinisches Lesen und Schreiben anderswo, etwa in Augsburg und Regensburg, seit dem Ende des Imperiums kaum gehalten hatte.

Bei Augsburg spielte eine Rolle, dass unklar ist, ob es zum schwäbischen, oder zum bayrischen Herzogtum gehörte. Überhaupt scheint Augsburg (durch Zerstörung?) lange eine eher untergeordete Rolle gespielt zu haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich finde es bemerkenswert, dass die Herzöge um 700 und später ihre Spezialisten für lateinische Schriftlichkeit nicht irgendwo hernahmen, sondern aus dem einzigen uns heute bekannten größeren bairischen Gebiet, das damals noch romanisch geprägt war, nämlich aus dem Salzburger Raum. Das spricht doch dafür, dass sich lateinisches Lesen und Schreiben anderswo, etwa in Augsburg und Regensburg, seit dem Ende des Imperiums kaum gehalten hatte.

Ich wäre mit solchen Schlussfolgerungen vorsichtig. Nicht alle prominenten Schreibkundigen müssen zu den Albina oder anderen Salzburger Geschlechtern gehört haben, von manchen (z. B. Creontius, dem referendarius des Herzogs Tassilo III.) weiß man einfach nichts Genaues. Der größte Teil der Schriftkundigen dürfte im kirchlichen Umfeld zu suchen sein, etliche Urkundenschreiber bezeichnen sich als Diakone.
Wenn Venantius Fortunatus in Augsburg im 6. Jahrhundert die Verehrung der Märtyrerin Afra bezeugt, ist wohl auch mit dem Vorhandensein von einheimischen Klerikern zu rechnen, und auch in Regensburg dürfte es einheimische Kleriker gegeben haben.

Lese- und Schreibkenntnise sind offensichtlich auch in der romanischen Bevölkerung extrem zurückgegangen, und romanische Muttersprache ist in dieser Zeit längst nicht mehr mit Lateinkenntnissen gleichzusetzen. Die Romanen des 8. Jahrhunderts hatten bereits Mühe, Latein zu verstehen, von einer aktiven Beherrschung der lateinischen Grammatik ganz zu schweigen*. Die Sprache Caesars und Ciceros war für sie so weit weg wie für uns die Sprache Wolfram von Eschenbachs.

In der unmittelbaren Umgebung von Regensburg wurde anscheinend noch bis weit ins noch bis ins 8. Jahrhundert romanisch gesprochen: Der Ortsname Prüfening geht unverkennbar auf den romanischen Personennamen Provinu (lat. Probinus) zurück und zeigt mehrere markante lautliche Eigenheiten: Das anlautende p- ist unverschoben, das inlautende romanische -v- ist bereits labiodental und wird im Bairischen durch -f- ersetzt. Ähnliches kennen wir aus Salzburgromania, hier gibt es den Salzburger Stadtteil Liefering, dessen Name auf Personennamen Liberius (oder Liborius) zurückgeht.



* Wir hatten an anderer Stelle schon mal die...
Reichenauer Glossen des 8. Jahrhunderts. Dort werden lateinische Wörter oder grammatische Formen, die ungebräuchlich bzw. unverständlich geworden waren, mit gängigeren Wörtern erklärt, z. B.
liberos (Kinder) = infantes (frz. enfants)
pes (Fuß) = pedis (frz. pied)
pulchra (schöne) = bella (frz. belle)
res (Sache) = causa (frz. chose)
sanior (gesünder) = plus sano (frz. plus sain)
tedet (es langweilt) = anoget (frz. ennuye)
 
Wir wissen erst ab der Zeit um 700 von Klöstergründungen und Bischöfen in Baiern. Erst ab dieser Zeit können wir einigermaßen gesichert davon ausgehen, dass an verschiedenen Orten systematisch Kleriker in lateinischer Schriftlichkeit ausgebildet wurden, welche dann auch in herzoglichen Diensten einsetzbar waren. Dass der Herzog zu der Zeit, als diese Kleriker noch nicht zur Verfügung standen, auf Leute aus der Salzbuger Romania zurückgriff, ist wahrscheinlich kein Zufall.
 
Bei Augsburg spielte eine Rolle, dass unklar ist, ob es zum schwäbischen, oder zum bayrischen Herzogtum gehörte. Überhaupt scheint Augsburg (durch Zerstörung?) lange eine eher untergeordete Rolle gespielt zu haben.
Speziell zur Afra-Kapelle ergaben archäologische Untersuchungen, dass er erste nachweisbare Kirchenbau in 7. Jahrhundert datiert. Die Grabbeigaben der dortigen Klerikergräber aus dem 7. Jahrhundert weisen in den burgundischen Raum (heute Südfrankreich, Westschweiz). Das heißt, es wird vermutet, dass diese Kleriker aus dem Westen des Frankreiches gekommen sind und es dort vorher kirchlich nicht mehr so viel los war.
vgl. https://www.wissner.com/stadtlexikon-augsburg/artikel/stadtlexikon/st-ulrich-und-afra/5717

Venantius Fortunatus beschreibt für das 6. Jahrhundert gewissermaßen schon den Verfall christlicher Kultur in der Gegend, wenn er andeutet, dass die Pilger auf dem Weg- zum Afa-Heiligtum vom bajuwarischen Wegelagerer bedroht seien.
 
Wir wissen erst ab der Zeit um 700 von Klöstergründungen und Bischöfen in Baiern.
Wir haben auch erst ungefähr ab dieser Zeit Urkundentexte, die sich erhalten haben. Und die schreibkundigen Amtsträger aus der Salzburger Romania (die teilweise selber Kleriker waren), sind auch erst in dieser Zeit bezeugt.
 
Wir haben auch erst ungefähr ab dieser Zeit Urkundentexte, die sich erhalten haben.
Das ist nicht ganz richtig: Wir haben nur "Kopien" dieser Urkundentexte aus späteren Zeit. Dass diese noch als Urkunden bezeichnet werden dürfen, ist schon sehr forsch, wenn man bedenkt, was damals alles gefälscht und damit die Geschichte - auch im Sinne der Kirche - beeinflusst wurde. :D
 
Die "fränkische" politische Perspektive hielt Goffart für unsinnig, die von Dir vertretene ostgotische politische Perspektive passt aber nach Goffart ebensowenig ("Practical ruthlessness of this sort is hard to reconcile with composition in Ostrogothic Italy"), letztlich plädiert er für eine byzantinische Perspektive. Die ist aber eigentlich auch nicht haltbar ("the presence in it of Romani among the Istiones may conceivably clash with the exlusive sense that the term 'Roman' had in Byzantine sensibilities.").
Nach langer Zeit mal wieder, weil ich zufällig das gelesen habe:
Helmut Reimitz, Schüler Wolframs, Professor für Geschichte in Princeton (2022): "When the Bavarians became Bavarian", in: Pohl/Wieser (editors, 2022): Emerging Powers in Eurasian Comparison 200 -1100, p.140:
"The two oldest extant surviving references mentioning Bavaria or the Bavarians are... the Getica from Jordanes .. and the so-called Frankish Table of Nations, most likely compiled in the 530s" (mit Verweis unter anderem auf Goffart).

Die Zeitangabe kann er nur machen, würde ich denken, wenn er die Geschichte Goffarts im Großen und Ganzen kauft. Wenn das trotzdem eine Außenseiterposition ist, dann mit ganz schön gewichtigen Außenseitern.

(In dem Aufsatz geht es dann darum, wann sich eine Identität der Baiern fest herausgebildet hat, nämlich als Reaktion auf die Politik der Identitätsbildung unter den Franken durch die neue karolingische Dynastie im 8. Jahrhundert).
 
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Die Zeitangabe kann er nur machen, würde ich denken, wenn er die Geschichte Goffarts im Großen und Ganzen kauft. Wenn das trotzdem eine Außenseiterposition ist, dann mit ganz schön gewichtigen Außenseitern.
Dass das keine "Außenseiterposition" ist, hatten wir dich längst geklärt. Ebenso, dass alle erhaltenen Versionen auf eine Überarbeitung aus der Zeit um 700 zurückgehen und jede Rekonstruktion und Datierung der hypothetischen Vorlage mit Ungereimtheiten behaftet bleibt.
 
Dass das keine "Außenseiterposition" ist, hatten wir dich längst geklärt. Ebenso, dass alle erhaltenen Versionen auf eine Überarbeitung aus der Zeit um 700 zurückgehen und jede Rekonstruktion und Datierung der hypothetischen Vorlage mit Ungereimtheiten behaftet bleibt.

Ok, gut. Ich würde sagen, dass jede Rekonstruktion, die Ungereimtheiten beseitigt, letztlich hypothetisch bleibt.
 
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