Okkultismus, Esoterik, Grenzwissenschaft und NS

Man muss sich in die damalige Zeit zurückversetzen. Sehr viele Dinge waren tatsächlich ungeklärt. Die Antarktis oder Tibet waren tatsächlich weitgehend unerforscht. Die DNS war noch unentdeckt. Die Evolutionstheorie war keineswegs im heutigen Sinne ausgereift. August Weismann hatte zwar bereits Ende des 20. Jahrhunderts entsprechende Hypothesen über ein unveränderlichen Erbgut aufgestellt, aber das war allerdings selbst in der Fachwissenschaft noch hochumstritten, da weitgehend umbewiesen.
Auch Wegeners Theorie der Plattentektonik war noch völlig neu. Die Theorie über versunkende Landbrücken wie "Lemuria" war damals nicht genauso unsinnig wie heute, sondern eine These die ernsthaft diskutiert wurde.

Der führernde Evolutionsbiologe Anfang des 20. Jahrhunderts war Ernst Haeckel, von Sepiola hier bereits bei den Schwurblern eingereiht, produzierte er doch die Lehrmeinungen für den deutschen Wissenschaftsbetrieb. Haeckel übernahm die Kladistik für Stammbäume aus der Sprachwissenschaft. Derartige Stammbäume der Arten und Menschenrassen waren in der Biologie vorher schlicht unbekannt. Die Bezeichnungen für die Menschenrassen übernahm er einfach aus der vergleichenden Sprachwissenschaft. Ein Antisemit im eigentlichen Sinne war dieser Vordenker der Eugenik und der wissenschaftlichen Rassenlehre jedoch nicht. Was Haeckel unter der "semitischen Rasse" verstand, war mit der sprachwissenschaftlichen Vorstellung nahezu - eben Juden, Araber usw. stammen von einer semitischen Urrasse wie Hebräaisch und Arabisch von einer Ursprache ab. Vergichen mit der Evolutionstheorie, wie sie heute in den Schulbüchern steht, sehen Haeckels Theorien heute wie Schwurbelei aus. Seinerzeit galt er jedoch als ein großer Naturwischaftler. Die rassische Unterscheidung von Ariern und Semiten war wissenschaftlicher Mainstream in Deutschland. (Haeckels eigentliches Fachgebiet in der Zoologie waren Quallen. Alles, was er über Menschen schreibt ist sehr oberflächlich, kaum fundiert und basiert vor allem Weltanschauung.) Haeckels monistische Naturphilosphie und die damit verbundenen Organisationen wirken jedoch sektenhaft. Der von Haeckel gegründete Freidenkerverein mit antiklerikaler und sozialdarwinistischer Ausrichtung "Deutscher Monistenbund" überlebte Haeckel um mehrere Jahre und wurde 1933 von den Nazis verboten.
 
Da hätte ich auch noch eine Geschichte des Begriffs des Ariers, die früher als Gobineau und Chamberlain beginnt.

Sie beginnt nämlich laut Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band VI, in der Aufklärung. Zu dieser Zeit beginnt man sich von Bibel und Kirche zu lösen und wissenschaftliche Theorien zu bilden. Eine davon behandelt den Ursprung des Menschengeschlechts. Nach der Bibel lag dieser ganz klar bei Adam und Eva, diese These hatte den damaligen Antisemiten aber schon lange nicht mehr gepasst. Denn Adam und Eva galten als Juden (avant la lettre, sozusagen; daher vermutete man auch das Hebräische als die Ursprache), von Juden stammte also die gesamte Menschheit ab, das wollte man (vor allem die Antisemiten) aber nicht.
Rettung kam 1786 von William Jones in seinem Buch Asiatic Researches, dem die Strukturähnlichkeit zwischen Sanskrit, Griechisch, Latein und dem "Gothischen" aufgefallen war. Diese Erkenntnis nahmen vor allem Friedrich und August Wilhelm Schlegel auf, sie setzten das Indische als eine Art Konkurrent zum Hebräischen an. Auch Schelling sah die Bücher der Inder als höherwertig zur Bibel. (Was natürlich nicht heißt, dass diese Schriftsteller Antisemiten waren, hatten aber in ihren frühen Jahren eine durchaus anti-christlichen Stoßrichtung.) Nach diesen beschäftigten sich J. Chr. Adelung mit Indien und war der Meinung, das Hochland von Kaschmir sei die Wiege der Menschheit, weil es hoch liegt und damit vor der Sintflut Schutz bot. Der Begriff des "Ariers" lag nun nicht mehr fern, nach Poliakov aber eine Erfindung von Johann Gottfried Rhode in seinem 1806 publizierten Werk Mithridates oder allgemeine Sprachkunde.
Die weitere Geschichte des Begriffs ist vielgestaltig, wobei selbst Goethe vorkommt, der sich davon absetzte, ein "Abkömmling Adams" zu sein. In seinen Gesprächen mit Goethe notiert Eckermann am 6.10.1828:
»Die Heilige Schrift,« erwiederte Goethe, »redet allerdings nur von Einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tage erschaffen, allein die begabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu thun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urväter; wie denn die werthe Gesellschaft gewiß zugeben wird, daß wir uns von den echten Abkömmlingen Adams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden und daß sie, besonders was das Geld betrifft, es uns allen zuvorthun.«
Gustav Klemm in seiner Allgemeinen Cultur-Geschichte 1843, unterschied ein "anderes Geschlecht" im Hochland des Himmalayagebirges, das denkend und raubend umherzog, wozu Christian Lassen 1845 schreibt: (Ein Auszug aus Poliakov)
So „bilden die Arier" nach der Meinung des bedeutenden Indologen Lassen „das vollkommener organisirte, unternehmendere und schaffendere Volk, es ist daher das jüngere, wie die Erde erst später die vollkommensten Gattungen der Pflanzen und Thiere zu Stande gebracht hat..." Von diesem Gesichtspunkt aus stellte Lassen schon um das Jahr 1845 die Arier in einen Gegensatz zu den Semiten:
„Sie stehen sich bei den Leistungen nicht gleich und wir müssen unter den kaukasischen Völkern den Indogermanen entschieden die Palme zuerkennen. Wir halten dies nicht für zufällig, sondern glauben, es entspringe aus der höheren und vollständigeren Begabung der letzteren. Die Geschichte bezeugt, daß die Semiten nicht das harmonische Gleichmaß aller Seelenkräfte besitzen, durch welche die Indogermanen hervorragen."​
Hier haben wir also schon den Begriff des Ariers, den Gobineau in seinem Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen 1852-54, endgültig populär machte.

---

PS: Wenn ich in Post #37 von der "Assonanz" geschrieben habe, so ist das Unsinn. Es ist natürlich Alliteration.
 
Vorher: Arthur de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen.
Das ist eine interessante Gestalt.
Der Gobineau schreibt ein Buch, oder Büchlein, das er 1854 „His Majesty George V, King of Hannover“ widmet. (Hab leider nur die englische Übersetzung gefunden)
Das ist 5 Jahre vor Darwins „Origins of Species“.

Er ist gut vernetzt in der Elite seiner Zeit und ein beachteter Publizist. Und der vertritt bereits zu dieser Zeit die toxische Kombination vom überlegenen Arier und der Idee, dass die Vermischung mit anderen Rassen, die ja sämtlich von geringerem Wert sind, zur Degeneration der höheren Rasse führe.*
Und das vertritt er radikal. In einer idealen Welt würden die minderwertigen Rassen sämtlich zu Füßen selbt der niedersten Verteter der weißen Rasse kriechen.
„ If the three great types had remained strictly separate,
the supremacy would no doubt have always been in the hands
of the finest of the white races, and the yellow and black varieties
would have crawled for ever at the feet of the lowest of the whites.
Such a state is so far ideal, since it has never been beheld in
history ; and we can imagine it only by recognizing the undis-
puted superiority of those groups of the white races which have
remained the purest.“

The inequality of human races : Gobineau, Arthur, comte de, 1816-1882 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive

Wie sich dieser Faden des Gobineau weiterspinnt in der folgenden Zeit wird wahrscheinlich nicht einfach festzustellen sein.
Aber ein solcher Faden taucht mehrfach auf und ist schließlich eines der Grundmuster der Nazi-Ideologie.

Und da gibt es noch eine interessante Frage.
Wenn sich das Höhere zum Niederen entwickelt, woher kommt dann das Höhere?
Lt. Wiki war der Gobineau bemüht „die ganze Genealogie der Familie Gobineau auf den Gott Odin zurückzuführen.“ Ich stamme von Gott ab, du nicht.**
Das geht gar nicht anders.

In dieser Gedankenwelt ist schon vieles vorgezeichnet was später Substanz der Nazi-Ideologie, die man auch Nazi-Religion oder völkische Esoterik nennen kann.
70 Jahre bevor Hitler dem Hess „Mein Kampf“ in die Schreibmaschine diktiert.


*Das ist mit Darwin nicht vereinbar, denn der geht ja von einer Fortenwicklung von niederen zu höheren Formen aus.
**Es wäre interessant zu wissen wie hoch der Anteil der Rassisten ist, die sich zur rassisch überlegenen Gruppe zählen, auch wenn ich auf knapp 100% tippen würde..
 
Dennoch stellt sich natürlich die Frage, wie nahe dran an Rassismus und Antisemitismus war Rudolf Steiner.

ich versuch es mal.

Steiner war sicher Rassist. Er postuliert die Ungleichheit der Rassen, es also höhere Rassen gäbe und niedere. Weiterhin, dass die arische Rasse, insbesondere die germanische Unterasse besonders wertvoll sei und, dass die höhere Rasse durch Vermischung mit niederen degenerieren würde.
Zu den niederen Rassen zählt er auch die „jüdische Rasse“, ist aber nicht auf diese einseitig negativ fixiert.
Das stellt er in den Zusammenhang einer Geheimlehre (Esoterik) die den „sehenden“ Menschen als einen spirituellen Menschen definiert*. Und diese Fähigkeit der Spiritualität wiederum hat, je nach Rasse, verschieden hohe Stufen erreicht usw..

Das mag dem Mainstream einer ansonsten vielfältigen „Querdenkerszene“ entsprochen haben.
Da ist einiges unterwegs. In den 1840ern beginnt das Tischrücken und Seancen werden abgehalten. Mit dem Schwinden der Macht der Kirche über die Köpfe** floriert der Okkultismus, der sich als „Wissenschaftlicher Okkultismus“ (als das versteht sich Esoterik auch) eine Bühne sucht und sich dabei als Gegenkultur zum Alten versteht..

Mit der Blavatsky entsteht in den 1870ern die Theosophie welche ein ganzheitliches Konzept von allem was das ist und war. Religiös, okkult, wissenschaftlich und kosmogonisch und sonst alles andere auch noch. Aber das ist eine Lehre deren Erkennen eine innere Fähigkeit dazu braucht.
(man könnte sagen eine klassische Sektenkonstruktion)

Die Theosophie breitet sich auch nach Wien aus und es entsteht die Ariosophie, welche die „Lehre“ der Theosophie mit radikalem Nationalismus anreichert, während sie mit den Theosophen verbunden bleibt.
Das ist die Zeit als der junge Hitler nach Wien kommt und Brigitte Hamann (Hitlers Wien) zeigt überzeugend auf, dass die Lehren des Ariosophen Guido von List Eingang in Hitlers Weltvorstellung fanden.
Es ist ja sogar so, dass sich hier fast die gesamte NS-Ideologie von Volk, Rasse usw. als Grundentwurf findet.



*sprich ein solcher der seinen Unfug verinnerlicht. Und der sondert ja ein riesiges Konglomerat völlig hirnrissiger Ideen ab.
Der Steiner hatte bei den Nazis viele Fans, doch wäre es falsch zu schließen er habe sie zu ihren Missetaten inspiriert.
Interessant ist dieser Spieler auf der Bühne vor allem deshalb weil er die Vorstellungswelt seiner Szene darstellt.

**„Gott ist tot!“ sagt Nietzsche,
und Goethe lässt seinen an der eigenen Erkenntnisfähigkeit verzweifelnden Faust lamentieren:
„Es möcht kein Hund so länger leben, drum hab ich mich der Magie ergeben.“
 
Zuletzt bearbeitet:
Mit dem Schwinden der Macht der Kirche über die Köpfe** floriert der Okkultismus,
Falscher Zusammenhang, meine ich.

In der 1. Hälfte des 19. Jh. wie auch noch weit später dominierte beispielsweise in vielen protestantischen deutschsprachigen Landeskirchen die 'rationalistische Theologie', und die Okkultismuswelle transzendiert die materialistischer, industrieller und rationalistischer gewordene Welt in den 'reichen' Regionen. Zugleich dokumentiert sie die neuen, globalen Handelsströme auch der 'geistigen' Inhalte aus vermeintlich exotischen Gebieten.


Steiner war sicher Rassist.
Er war kein Sozialdarwinist und litt nicht an der manichäischen Dichotomie der radikalen Rassisten.

Die Theosophie breitet sich auch nach Wien aus und es entsteht die Ariosophie, welche die „Lehre“ der Theosophie mit radikalem Nationalismus anreichert, während sie mit den Theosophen verbunden bleibt.

Die Ariosophie vermengt rassistisch-völkische Mythen mit Elementen der Theosophie. Außer rassistischen Merkmalen bietet die Ariosophie weitere Merkmale:

Wichtige Elemente und Begriffe wie der Karma- und Wiedergeburtsgedanke, Runen-Okkultismus, Edda-Mythologie, Astrologie, Kabbalah und Namenkabbalismus, Endzeitvorstellungen, Handlesekunst, rassistische und antijüdische Vorstellungen, Ablehnung der römisch-katholischen Kirche, teilweise ein Esoterisches Christentum, mythische Überhöhung germanischer bzw. arischer Kulturen und Geschichte, bisweilen gekoppelt an den modernen Atlantis-Mythos (theosophischen Ursprungs), teilweise Orientierung an Orden und Logen, verbunden mit einem Auserwähltheitsglauben und einem gnostisch-manichäischen Weltbild (reine Lichtwelt vs. finstere, sinnliche Misch-Welt) zeichnen dem Komplex der Ariosophie aus.

Der (völkische) Rassismus und Antisemitismus im ariosophischen Weltbild ist verknüpft mit der genannten mythischen Überhöhung germanischer und angeblich alter arischer Kulturen.
Die Ariosophie bleibt mit 'den Theosophen' verbunden? Mit welchen? Verbunden? Weil Liebenfels und List in Zillmanns Neue metaphysische Rundschau Texte veröffentlich hatten, nachdem sich Zillmann dem völkischen Gedankengut geöffnet hatte?

Beide hatten keinerlei Funktionen in der Theosophischen Bewegung, noch waren sie dort engagierte Mitglieder gewesen.

Der Steiner hatte bei den Nazis viele Fans,
Viele? Wer beispielsweise?


as ist die Zeit als der junge Hitler nach Wien kommt und Brigitte Hamann (Hitlers Wien) zeigt überzeugend auf, dass die Lehren des Ariosophen Guido von List Eingang in Hitlers Weltvorstellung fanden.
Es ist ja sogar so, dass sich hier fast die gesamte NS-Ideologie von Volk, Rasse usw. als Grundentwurf findet.

Im ZEIT-Interview vom März 2010 bemerkt Brigitte Hamann u.a.

[...] Wobei Hitler behauptet, er sei schon in Wien glühender Antisemit gewesen. Aber in Wien hatte er noch nichts gegen die Juden. Schließlich verdankte er ihnen fast alles. [...]

...womit wir bei den esoterischen Gestalten wären, die Hitler faszinierten. Dazu gehören Guido von List und Lanz von Liebenfels, beide völlig verrückt. List entwickelte eine germanische Mystik und feierte das Hakenkreuz als arisches Kraftsymbol. Liebenfels führte es in seinem frei erfundenen Privatwappen und veröffentlichte Schriften, in denen er in Züchtungsfantasien schwelgte, die auf frappierende Weise die Lebensborn-Visionen der Nationalsozialisten vorwegnahmen: Ausgewählte arische "Zuchtmütter" sollen mit Ariermännern blonde Arierkinder produzieren.
H. hat Liebenfels nie besucht, nie geehrt oder irgendwelche Privilegien eingeräumt - und wer H.s Mein Kampf kennt, kennt die verächtlichen Äußerungen über jene Esoteriker und Wanderscholaren vom Schlage Liebenfels.
Und im Spiegel Special 1/2001, Die Gegenwart der Vergangenheit, notiert Hamann S. 135 u.a.:

Adi ging in seiner Sympathie so weit, dass er sich im Männerheim fast nur mit Juden umgab, wohlgemerkt „Glaubensjuden“: mit dem Kupferputzer und Hausierer Josef Neumann, dem einäugigen Schlossergehilfen Simon Robinson aus Galizien, der dem stets Geldbedürftigen von seiner Invalidenrente abgab, auch mit dem Vertreter Siegfried Löffner und dem Beamten Rudolf Redlich. Der Männerheim-Hitler verkaufte seine langweiligen Postkartenbilder, mit denen er sein karges Leben finanzierte, am liebsten an Juden: an den Glasermeister Samuel Morgenstern, den Rahmenhändler Jakob Altenberg und den wohlhabenden Rechtsanwalt Josef Feingold. Und ausgerechnet dieser Mensch sollte nun plötzlich der berühmteste und aggressivste Antisemit Deutschlands sein?

Liebenfels kann man getrost als völkischen Neuromantiker bezeichnen, ähnlich List.
 
Empfehlenswert gründlich wie wissenschaftlich substanziell - zwei halbe Wahrheiten ergeben keine ganze - bietet der Artikel von Ralf Sonnenberg Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners auf der OnlinePlattform von hagalil.com eine sehr gute Übersicht zum Thema Steiner.

Der typische Einsteigerfehler wird entsprechend thematisiert:

[...]Die "arische" oder europäische hielt Steiner, der hieraus allerdings keine imperialen, kolonialistischen oder sozialdarwinistischen Zielsetzungen ableitete, für die "zukünftige, da am Geiste schaffende Rasse".

[...] Die Subsumierung der Anthroposophie unter die völkischen Lehren der Kaiserzeit und Weimarer Republik wäre ohnehin nur dann sinnvoll, wenn sich der Nachweis erbringen ließe, dass sozialdarwinistische, eugenische, pangermanische und antisemitische Begründungsmuster einen zentralen Stellenwert innerhalb anthroposophischer Lehren einnähmen und deren kosmopolitischen und humanistischen Gehalt überlagerten bzw. marginalisierten. Programmatische Inhalte völkischer Agitation wie die Forderung nach Segregation der Juden, nach Bildung einer "artgerechten" Religion, nach Selektion und Ausmerze oder nach Errichtung eines imperialen Rassenstaates müssten demnach das ideologische Bindeglied für die unterschiedlichen anthroposophischen Ideen und Aktivitäten abgeben und das Selbstverständnis ihrer Protagonisten entscheidend prägen.(108) Aus der partikularen Konvergenz von rassistischen Argumentationssträngen und Ideologemen, wie sie im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts den gesellschaftsübergreifenden Diskurs dominierten und somit kein Spezifikum völkischer Ideologiebildungen darstellten, eine strukturelle Koinzidenz von völkischer und anthroposophischer Lehre extrapolieren zu wollen, hieße jedoch die Begriff "völkisch" auf eine Weise zu inflationieren, die diesen als Instrument der geschichtswissenschaftlichen Analyse gänzlich untauglich machte.

Historiker wie George L. Mosse (109), Jörn Rüsen (110), Uwe Puschner (111), Wolfgang Benz (112), Michael Rißmann (113) und jüngst – ungewöhnlich dezidiert – auch Helmut Zander (114) meldeten daher zu Recht Vorbehalte gegenüber dem Versuch an, Steiner unter die völkisch-antisemitischen "Systembauer" und Aktivisten einzureihen: "Von den völkischen Theorien über die Geschichte des Judentums unterscheidet sich dieser Entwurf [der Steinersche, R.S.] erheblich. Bereits die Annahme, die Existenz des Judentums habe überhaupt einen Sinn gehabt, hätten Vertreter des völkisch-nationalsozialistischen Spektrums widersprochen, die im Judentum eher einen ‹Menschheitsverderber› vom Beginn der Geschichte an sahen. Das von Steiner geforderte ‹Aufgehen› des Judentums in der Menschheit darf … keinesfalls mit jenem ‹Erlösungsantisemitismus› der Nationalsozialisten verwechselt werden, der im Genozid seine konsequente Vollendung fand."(115) Und Wolfgang Benz, Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, resümiert, nachdem er Steiners "ausdrückliche Distanzierung vom rassistisch-völkischen Antisemitismus seiner Zeit" kenntlich gemacht hat: "Steiners Plädoyer für die Assimilation unterscheidet ihn vom Anhänger des Rasseantisemitismus, wenngleich der Esoteriker in anderen Zusammenhängen durchaus rassistisch argumentierte."(
116) [...]

[...] Mit diesen Worten ist ein weiteres Unterscheidungskriterium von anthroposophischen und völkischen Lehren benannt, soweit diese sich in institutionalisierten Formen Ausdruck verschafften. Denn während in völkischen Vereinen oder Organisationen der so genannte Arier-Paragraph über die Homogenität der Gemeinschaft wachte, stand die Mitgliedschaft der Anthroposophischen Gesellschaft Juden offen. Zu den Mitarbeitern bzw. Anhängern Steiners jüdischer Abstammung zählten der Philologe Ernst Müller (1880-1954), der Philosoph und Zionist Hugo Bergmann (1883-1974) (128), der Fabrikant Carl Unger (1878-1929) (129), der in Auschwitz ermordete Komponist Viktor Ullmann (1898-1944) (130), aber auch Berta Fanta (1865-1918), die vor dem Ersten Weltkrieg in Prag einen einflussreichen philosophisch-literarischen Salon unterhielt.(131) Nicht zuletzt der Umstand, dass in der Anthroposophischen Gesellschaft Juden "überrepräsentiert" waren und darüber hinaus Schlüsselpositionen innehatten, brachte ihrem Begründer die Feindschaft völkischer Kreise bis hin zu einem Attentatsversuch ein.(132)[...]
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Überblick zu Steiners Rassentheorien mit ihren Kontinuitäten und Widersprüchen:
https://www.unifr.ch/screl/fr/assets/public/Zander Anthroposophische Rassentheorie (2001).pdf

"Die Ausgestaltung dieses Gerüstes war von externen Gründen abhängig, wurde also nicht von binnensystematischen Konstanzanforderungen gesteuert. Daß etwa Zahl und Zuordnung der Rassen so stark schwankten, scheint mir am ehesten durch die banale Vermutung erklärbar zu sein, daß Steiner 1923 nicht mehr ganz genau wußte, was er vor zwölf oder vor knapp zwanzig Jahren en detail doziert hatte. Bei jemandem, der in seinem Leben fast 6000 Vorträge gehalten hat, zumeist auf der Grundlage weniger Stichworte, wie seine Notizbücher belegen, ist dies nicht verwunderlich. Einen anderen Typus extern beeinflußter Modifikation liegt in den Vorträgen des Jahres 1910 vor: Die Variationen der rassentheoretischen Details dienten wohl der Konzeption eines eigenen Systems im Rahmen der Auseinandersetzung um dogmatische Hegemonie und Leitungsmacht in der Theosophischen Gesellschaft."​
 
scheint mir am ehesten durch die banale Vermutung erklärbar zu sein, daß Steiner 1923 nicht mehr ganz genau wußte, was er vor zwölf oder vor knapp zwanzig Jahren en detail doziert hatte.
clear.png
clear.png

Ja wenn man dauernd einen Unfug fast beliebigen Inhalts absondert weiß man in seinen alten Tagen hoffentlich nicht mehr alles. ....
Spaß beiseite. Danke für den Link.
Der Steiner hatte ja wirklich nicht alle Latten am Zaun,
und er ist vielleicht mehr Lackmusstreifen eines toxischen Gebräus als dessen Inhalt.
Als solcher ist der Steiner mindestens eine interessante Figur.

Interessant fand ich PDF-Seite 8 Deines Links bei dem der Autor auf „die im 19. Jahrhundert massierte Popularisierung“ wissenschaftlicher Theorienbildung hinweist.
Melina Wazeck – Einsteins Gegner – hebt diese Popularisierung hervor und beschreibt das damit verbundene Aufkommen der „außerakademischen Welträtsellöser“, wie sie es nennt.
(Der Steiner hat natürlich gegen die Relativitätstheorie dezidiert Stellung bezogen, und war auch da ein Lachmussstreifen ..)

Aber wie stell ich mir diese Zeit vor?
Verschwimmen Sinn und Unsinn in der Vielzahl der Publikationen und Strömungen auf dem Weg in die Moderne?
Auf einem rasch wachsenden Markt „grenzwissenschaftlicher“ Ideen?
 
Aber wie stell ich mir diese Zeit vor?
Verschwimmen Sinn und Unsinn in der Vielzahl der Publikationen und Strömungen auf dem Weg in die Moderne?
Auf einem rasch wachsenden Markt „grenzwissenschaftlicher“ Ideen?
@hatl welche Zeit meinst du?
Okkultismus jeglicher Sorte war vor dem Ersten Weltkrieg durchaus "Mode", sogar in der Kunst: Jugendstil-Malerei und -literatur ist voller Bezüge zum okkulten. Bram-Stoker Drakula, Ewers Alraune, Sologub kleiner Dämon, Bely silberne Taube, Wrubel Dämon und tausenderlei (Debussy (sic!) tummelte sich zeitweilig bei Satanisten, Skrjabin "schwarze Messe") - sehr schön parodiert ist die Okkultismuswelle der belle epoche im Zauberberg (das Seancen-Kapitel) --- gut möglich, dass diese Okkultismuswelle eine Reaktion auf die "Verwissenschaftlichung", auf damalige high-tec etc ist.
Keine Frage, dass im dt. Kaiserreich und KuK die "völkischen" und Konsorten partiell auch davon erfasst waren.

Aber der Erste Weltkrieg wirkt dann wie eine Zäsur, die belle epoche ist vorbei. Der Esoterik-Krempel der Weimarer Zeit erscheint mir anders als das, was quasi ornamental in der belle epoche Mode war.
 
Melina Wazeck – Einsteins Gegner – hebt diese Popularisierung hervor und beschreibt das damit verbundene Aufkommen der „außerakademischen Welträtsellöser“, wie sie es nennt.

Ich finde das etwas unpräzise. Außerakademische Welträtsellöser (tolles Wortkonstrukt btw) gab es sicher schon immer. Den Unterschied im 19. Jhd. machen wohl Reichweite und Verbreitungsmöglichkeiten solcher Ideen.

Aber wie stell ich mir diese Zeit vor?
Verschwimmen Sinn und Unsinn in der Vielzahl der Publikationen und Strömungen auf dem Weg in die Moderne?
Auf einem rasch wachsenden Markt „grenzwissenschaftlicher“ Ideen?

Schöne Beschreibung. Aber eigentlich trifft sie auf unsere Zeit noch viel mehr zu. Verbreitungsmöglichkeiten hat jetzt jeder, sofort. Und grenzwissenschaftliche Ideen sind stark in Mode. Ich denke wir müssen uns das Phänomen aber im 19. Jhd. schwächer vorstellen. Es ist wohl anzunehmen, dass Autoritäten noch mehr Gewicht hatten. Das hat natürlich auch Schattenseiten, wenn solche Autoritäten Unsinn verbreiten.
 
Ich finde das etwas unpräzise. Außerakademische Welträtsellöser (tolles Wortkonstrukt btw) gab es sicher schon immer. Den Unterschied im 19. Jhd. machen wohl Reichweite und Verbreitungsmöglichkeiten solcher Ideen.

Wazeck versteht darunter Leute die einen Entwurf der Welterklärung abseits des anerkannten Standes der naturwissenschaftlich Erkenntnis vertreten, unabhängig davon ob sie als „Privatgelehrte“ oder in einem akademischen Rahmen agieren.
Den „Privatastronom“ Hörbiger etwa würde ich dazu zählen, aber auch den Physiker Lenard ab den 20ern.
Schöne Beschreibung. Aber eigentlich trifft sie auf unsere Zeit noch viel mehr zu.

Danke.
 
1
Wazeck versteht darunter Leute die einen Entwurf der Welterklärung abseits des anerkannten Standes der naturwissenschaftlich Erkenntnis vertreten, unabhängig davon ob sie als „Privatgelehrte“ oder in einem akademischen Rahmen agieren.
Den „Privatastronom“ Hörbiger etwa würde ich dazu zählen
Der wird aber bei Wazeck nicht besprochen, sehe ich das richtig?
Dabei haben die Welteisverkäufer ja auch gegen die Relativitätstheorie geschossen.
 
Ein Blick in diverse Theorien, mit welchen 'Naturwissenschaften' um 1900 noch arbeiteten, ist gewiss 'hülfreich'...Stichwort 'Äther'....
 
Zu verdeutlichen, dass es einen gewissen 'inhaltlichen' Unterschied gibt zwischen derzeit 'anerkannten' naturwissenschaftlichen Modellen und um 1900 (noch) anerkannten/akzeptierten...;)

Das gilt/galt für alle Bereiche der so genannten Naturwissenschaften...Physik, Chemie, Biologie, Geologie...doch auch und erst recht für die Medizin.
 
Und man darf sich gerne daran erinnern, dass sich ab um 1900 die so genannte Eugenik als anerkannte/akzeptierte Wissenschaft etablieren konnte.
Die kann man aus heutiger naturwissenschaftlicher/wissenschaftlicher Sicht und Kenntnis wohl eher nicht als solchige einstufen...
Kurzum...damals anerkannte (natur-)wissenschaftliche Modelle hatten gerne auch mal einen anderen Horizont im Vergleich zu heute und daher hülft es eher wenig, heutige in die Zeit beispielsweise um 1900 im klassischen Rückschaufehler zurück zu projezieren, um vermeintlich sortenrein zwischen wiederum vor allem aus heutiger Sicht grenzwissenschaftlichen, auch außerakademischen Vorstellungen und damals 'anerkannten' (Natur-)Wissenschaftlichen Erkenntnissen zu trennen.
 
@hatl welche Zeit meinst du?

Okkultismus jeglicher Sorte war vor dem Ersten Weltkrieg durchaus "Mode", sogar in der Kunst: Jugendstil-Malerei und -literatur ist voller Bezüge zum okkulten. Bram-Stoker Drakula, Ewers Alraune, Sologub kleiner Dämon, Bely silberne Taube, Wrubel Dämon und tausenderlei (Debussy (sic!) tummelte sich zeitweilig bei Satanisten, Skrjabin "schwarze Messe") - sehr schön parodiert ist die Okkultismuswelle der belle epoche im Zauberberg (das Seancen-Kapitel) --- gut möglich, dass diese Okkultismuswelle eine Reaktion auf die "Verwissenschaftlichung", auf damalige high-tec etc ist.

Keine Frage, dass im dt. Kaiserreich und KuK die "völkischen" und Konsorten partiell auch davon erfasst waren.
Aber der Erste Weltkrieg wirkt dann wie eine Zäsur, die belle epoche ist vorbei. Der Esoterik-Krempel der Weimarer Zeit erscheint mir anders als das, was quasi ornamental in der belle epoche Mode war.

Ich würd mal diese Zeit in den 1870er mit der Blavatski* beginnen und bis in die 1930er gehen.
Aber die zeitlichen Abgrenzungen sind von weicher Kontur.

Wie Du beschreibst florierte der Okkultismus vor dem Ersten Weltkrieg.
Am russischen Hof ist man für Seancen bis hinauf zum Zarenpaar empfänglich.
Aber auch die Sissi nimmt an solchen teil in der Hoffnung noch einmal Kontakt zu ihrem betrauerten Sohn Rudolf haben zu können.

„Okkultismus jeglicher Sorte war vor dem Ersten Weltkrieg durchaus "Mode", sogar in der Kunst:..“
Auch Kandinski gehörte zur theosophischen Avant-Garde der Kunst (Treitel S.124).
Man hört in sich hinein und versucht seine, unvermeidlich religiöse, Verbindung zum Kosmos zu erkennen um damit die Kraft des Ausdrucks zu finden.

Die Moderne zieht herauf und die Esoterik als Welterklärung die beides sein will: wissenschaftlich und spirituell.
Der alte Gott ist tot, eine neue Religion muss erschaffen werden.

„dass diese Okkultismuswelle eine Reaktion auf die "Verwissenschaftlichung", auf damalige high-tec etc ist.“
So meine ich das nicht. Es ist eher die Popularisierung der Wissenschaften.
(Vielleicht ähnlich dem Erik von Däniken zu unserer Zeit)
Auf diese setzt der „Esoterik-Krempel“ auf und verschmilzt sie zu einer neuen Religion.

„der Erste Weltkrieg wirkt dann wie eine Zäsur.“
Das würde ich auch vermuten.



* Der große russische Staatsmann Graf Witte beschreibt in der englischen Ausgabe seiner Memoiren über seine berühmte Cousine: „my cousin Yelena Petrovna Blavatski desrves to be treated at some length.“
Wie es danach weitergeht? Es ist vergnüglich das zu lesen.
Sie ist der Prototyp der kompromisslosen Gegenkultur. Sie treibt krass verrückte Sachen als Aussteiger mit sehr bewegtem Leben und schafft es schließlich berühmt zu werden.
Witte kann nicht anders als sie zu bewundern.
 
Zu verdeutlichen, dass es einen gewissen 'inhaltlichen' Unterschied gibt zwischen derzeit 'anerkannten' naturwissenschaftlichen Modellen und um 1900 (noch) anerkannten/akzeptierten.

Und wem meinst Du das verdeutlichen zu müssen?

Wer wirft dem Nobelpreiskomitee vor, dass es 1902 Hendrik Antoon Lorentz auszeichnete, der damals noch mit seiner Äthertheorie arbeitete? Wer wirft Haeckel vor, dass er die DNA noch nicht entschlüsselt hat?

Ich würde z. B. Virchow keinen Strick daraus drehen, dass er bei seiner ersten Untersuchung der Reste eines Neandertaler-Skeletts mit dem Wissen der damaligen Zeit diverse krankhafte Veränderungen diagnostiziert hat, anstatt von einer neu entdeckten Menschenart auszugehen. Man kann ihm aber vorwerfen, sich nicht konsequent an seine eigenen wissenschaftlichen Maßstäbe gehalten zu haben, als immer mehr Knochen gefunden wurden, die dieselben auffälligen Merkmale aufwiesen.
 
„dass diese Okkultismuswelle eine Reaktion auf die "Verwissenschaftlichung", auf damalige high-tec etc ist.“
So meine ich das nicht. Es ist eher die Popularisierung der Wissenschaften.
(Vielleicht ähnlich dem Erik von Däniken zu unserer Zeit)

Das verstehe ich nicht.
Däniken hat doch keine Wissenschaft popularisiert.
Zum Stichwort Popularisierung der Wissenschaften würden mir eher Leute wie Harald Lesch oder Mai Thi Nguyen-Kim einfallen.
 
Zurück
Oben