Der größte Witz ist, dass Tacitus in der Germania so eine Art mustergültige Verfassung für alle Stämme zwischen Rhein und Wechsel ausmalt, aber in den Annalen erzählt er von Cheruskern wieder was ganz anderes.

Wo schildert Tacitus denn eine "Art mustergültige Verfassung"? Er erwähnt Erscheinungen quasi als Schlagworte, die sich in seiner Moralpredigt an seine römischen Mitbürger gut nutzen lassen, macht aber auch klar, dass es Unterschiede, z.B. auch klare Monarchien gab. Widersprüche sind nur da, wenn er als juristischer Fachtext gelesen wird statt als eine als ethnographische Schrift firmierende moralpolitische Schrift, die der Kritik bedarf.

Eine gemischte Verfassung galt als Ideal. Und so fällt eben seine Hauptbeschreibung aus. Dazu kommt natürlich seine notorisch ungenaue und dem literarischen Ideal unterworfene Ausdrucksweise.

Aber die genannten Ämter und Institutionen treten tatsächlich immer wieder in unterschiedlicher Zusammenstellung und Gewichtung auf, was Tacitus soweit bestätigt, wie es nach Art der Quelle möglich ist, nämlich in dem Sinne, dass es Bestandteile 'germanischer' Verfassungen sind. Das habe ich auch versucht auszudrücken: "Er bleibt aber so vage, undeutlich und widersprüchlich, dass viel hineingelesen werden kann."

PS: Ich hasse die Autokorrektur.
 
Mit welcher soliden Argumentation kommt man von einer Motte zu einem "mons sacra" und von diesem zu einem "Zuckerberg"?

Wenn ich meine Fantasie spielen lasse, fallen mir die Zücker (=Räuber) ein, das Wort zücken hat im Mittelalter auch die Bedeutung 'entreißen', 'rauben'.

Die älteste schriftliche Bezeichnung ist 'mons sacra', was hier in der Gegend auch schon mal eine Station einer Prozession bezeichnen kann. Und der Begriff 'Motte' hat mit dem Namen nichts zu tun, sondern ist eine Einschätzung von Fachleuten nach Karte und Inaugenscheinnahme.

Der 'Zuckerberg' ist nach einer Geschichte vom mons sacra verballhornt, dennoch sind Raubritter in der Gegend nicht auszuschließen, Räuber und Zoll natürlich auch nicht ganz. Genau habe ich die Geschichten lange nicht mehr im Kopf. Durch die Wüstungsbildung scheinen hier aber alle älteren Traditionen abgeschnitten, auch 'mons sacra' als Name kann jung sein.

Interessant ist eben, dass es wahrscheinlich eine mittelalterliche Burg ist, über die es, obwohl noch gut sichtbar an einem überregionalen Handelsweg gelegen, keine Informationen außer einem Namen, der Vermessung, jetzt wieder ganz modern sogar, und ein wenig Folklore gibt.

Das zeigt doch ganz gut, wie wenig aussagekräftig Ortsnamen und Burgspuren sind.

Ich schaue mal, ob ich die Geschichten wiederfinde und mache, wenn, einen eigenen Thread auf.
 
...
Herwig Wolfram: Die Germanen. 1995.
...

Es ist ein großer Name und das Büchlein entspricht dem Format der Beck'schen Reihe. Viel wissen wir auch einfach nicht genauer, als da beschrieben. Wenn es umfangreicher wird, dann eher im Rahmen von Ereignisgeschichte und Archäologie.

Nun, "Text, Illustrationen, Karten, Schaubilder und sehr viel mehr Material" finden sich selten so ausführlich wie im dtv-Atlas in seriösen Werken, wenn es nicht um Archäologie geht.

Bei Reinhard Wolters finden sich schon mehr Abbildungen. Ich habe ihn aber deshalb empfohlen, weil er, zu den Themen, die er behandelt, verständlich erklärt, woher unsere Erkenntnisse und Vermutungen stammen.

Was sagst Du zur Rolle des Priesters?
...

Das wissen wir im Grunde nicht.

Thomas Höffgen beschreibt in "Schamanismus bei den Germanen", dass eben diese Schamanen sich durch Trommeln, Tanz, halluzinogene Drogen (Fliegenpilze, Bilsenkraut, Tollkirsche u.ä.) etc. in einen Rausch versetzen und dass dann die Götter aus ihnen sprachen.
Er zeichnet aber ein Bild, was für mich überhaupt nicht plastisch wird.

Woher will er denn seine Erkenntnisse haben? Wir brauchen Überreste aus der Vergangenheit, um etwas darüber auszusagen.
 
Na ja, es könnte schon sein, dass Höffgen die Figur der Schamanin von Bad Dürrenberg generell auf alle Germanen übergestülpt hat aber ich weiß es natürlich nicht.

Ich vermute mal, dass hier einige Begriffe Priester/Schamane/Seher durcheinander geschmissen werden.
Schamane = Medizinmann = Geisterbeschwörer
Kennen wir aus dem Animismus (Glaube an die beseelte Natur) der Völker Sibiriens, bei den Lappen (bin mir da nicht so sicher), Rentierhirten, etc. passt vielleicht für die sesshaften germanischen Ackerbauern nicht mehr.

Seher = Person, die im Rausch/Ekstase/Trance, die Zukunft vorhersagt

Aber vielleicht ist es ja komplett müßig, sich damit zu beschäftigen, wenn wir überhaupt keine Ahnung davon haben, was damals wohl wahrscheinlich gewesen wäre.

Vielen Dank für den Buchtipp von Wolters, vielleicht bringt dieses Buch doch etwas mehr Aufklärung.
 
Na ja, es könnte schon sein, dass Höffgen die Figur der Schamanin von Bad Dürrenberg generell auf alle Germanen übergestülpt hat aber ich weiß es natürlich nicht.

Die populär als "Schamanin" angesprochene Frau aus der Doppelbestattung von Bad Dürrenberg stammt aus dem Mesolithikum. Also aus einer Zeit des nacheiszeitlichen Landschaftswandels, die neue Technologien hervorbrachte, aber - zumindest hier in Mitteleuropa - noch weit vor der Neolithisierung lag, also der Entwicklung der Agrikultur (im Nahen Osten beginnt die Neolithisierung ganz allmählich um 10.000 vor Christus). Sie ist also Teil der alteuropäischen Bevölkerung. Im Zuge der Neolithisierung (in unseren Breiten ungefähr 7.800 v. Chr.) kam es zu einer massiven Einwanderung von Menschen aus dem Nahen Osten, welche die alteuropäische Bevölkerung sowohl verdrängte als auch assimilierte. Die alteuropäische Bevölkerung ist nur zu einem sehr geringen Teil in unseren Genpool eingegangen. Die neolithischen Einwanderer aus dem Nahen Osten machen einen Großteil unseres Genpools aus. Wann genau die Indoeuropäisierung Europas stattfand, ist streng genommen umstritten. Die verschiedenen Theorien variieren da zwischen 5000 und 2800 v. Chr. als Näherungswerte. Erst ab diesem Zeitpunkt, als sich die indoeuropäischen Zuwanderer mit der mittlerweile eingessenenen im Neolithikum zugewanderten Bevölkerung, welche Teile der alteuropäischen Bevölkerung assimiliert hat, kann es zu einer Aufspaltung der indoeuropäischen Sprachen in Europa kommen. Vor der Bronzezeit spricht eigentlich kein Germanist vom Proto-Germanischen oder gar Germanischen. Wenn wir von den Cheruskern reden, sind wir noch einmal 3000 Jahre später.
Langer Rede - kurzer Sinn: Selbst wenn die "Schamanin" von Bad Dürrenberg oder ihre Verwandten zum Genpool der Germanen beigetragen haben: Bis es zu einer Genese der Germanen kam, haben in unseren Breiten zwei massive, die Bevölkerung verändernde Einwanderungswellen stattgefunden mit starken kulturellen und auch sprachlichen Veränderungen. Ein Bezug von der "Schamanin" von Bad Dürrenberg zur germanischen Kultur ist somit nicht gegeben.

Zur Indoeuropäisierung gibt es verschiedene, konkurrierende Hypothesen, bei denen linguistische, archäologische und seit einigen Jahren auch genetische Argumente herangezogen werden. Keine dieser Hypothesen kann bisher alle Probleme lösen. Durch nationalistische Diskurse, aber auch durch Matriarchats-Patriarchats-Debatten wird da auch leider vieles ideologisch vernebelt.
 
Die älteste schriftliche Bezeichnung ist 'mons sacra
Sicher? Der von Dir verlinkte Wiki-Artikel hat "mons sacrum", aber beide Formen sind ja falsch.
Und wie sicher ist die Zuordnung dieser schriftlichen Erwähnung zum heutigen Zuckerberg?
Ohne gesicherte Zuordnung bleibt die phonologische Herleitung ohnedies ganz und gar unplausibel, sowohl der Anlaut *s- > z- wie auch der betonte Hauptvokal *-a- < -u-.

Ich schaue mal, ob ich die Geschichten wiederfinde und mache, wenn, einen eigenen Thread auf.
Würde mich interessieren, der Thread Ortsnamenkunde würde sich auch eignen.
 
Was Literatur angeht, da habe ich schon daneben gegriffen. Der absolute Tiefpunkt => Herwig Wolfram: Die Germanen. 1995. Nur Fließtext, ausschließlich Allgemeinplätze, hätte man sich evt. auch zusammengoogeln können. Herr Wolfram, Sie mögen ein renommierter Mittelalterhistoriker sein, für mich war es allerdings rausgeworfenes Geld. Lesson to learn: Bibliothek aufsuchen und erst dann die Werke käuflich erwerben, die auch für das speziell individuelle Interesse auch tatsächlich einen Mehrwert bietet.
Für meinen persönlichen Geschmack sollte ein Standardwerk Text, Illustrationen, Karten, Schaubilder und sehr viel mehr Material bieten. Aber okay, das sind meine Vorstellungen, viele sehen das vielleicht ganz anders.
Deine Enttäuschung wird wohl auch mit Deiner Erwartungshaltung zusammenhängen. Du stellst in diesem Thema sehr viele und sehr detaillierte Fragen insbesondere zu Themen wie soziale, politische und religiöse Organisation, die großteils schlichtweg nicht oder nur ganz oberflächlich beantwortbar sind. Die zeitnahen literarischen Quellen geben dazu nur mäßig viel her und stammen von Außenstehenden, und mit Archäologie lässt sich zu solchen Aspekten auch nur bedingt etwas gewinnen. Wir würden natürlich gerne mehr wissen, aber traurige Tatsache ist nun einmal, dass wir über die antiken Germanen Kontinentaleuropas recht wenig wissen. Dem lässt sich weder durch Spekulationen noch durch gewagte Analogieschlüsse aus späteren Jahrhunderten und anderen Regionen abhelfen. Wenn ein Buch eine detaillierte Fülle an Informationen z. B. über Religion und Kultus der antiken Kontinentalgermanen zu bieten scheint, stammt es vermutlich entweder aus dem 19. oder frühen 20. Jhdt. (als man noch recht großzügig damit war, einerseits die in den Eddas enthaltene nordgermanische Mythologie rückzuprojizieren, andererseits aus Sagen, Märchen und Bräuchen vermeintliche heidnische germanische Wurzeln herauszuarbeiten) oder ist nicht sonderlich seriös.

Karten sind natürlich nett, aber ein Problem, wenn sich Siedlungsgebiete nur ungefähr lokalisieren lassen und sich im Laufe der Zeit änderten. Heutzutage sind wir nämlich gewohnt, Karten als exakt wahrzunehmen. Eine Karte, die die Besiedlung Germaniens in der Antike anzeigt, kann also falsche Vorstellungen erwecken.

Für meinen Geschmack lehnt sich Herwig Wolfram im 120-Seiten-Büchlein mitunter sogar noch etwas zu weit aus dem Fenster, etwa wenn er davon ausgeht, dass es die "Zweiteilung des germanischen Pantheons" in Asen und Wanen, wie wir sie belegt nur aus der nordgermanischen Mythologie kennen, auch (früher) im kontinentalen Raum gegeben habe.
 
Was Literatur angeht, da habe ich schon daneben gegriffen. Der absolute Tiefpunkt => Herwig Wolfram: Die Germanen. 1995. Nur Fließtext, ausschließlich Allgemeinplätze, hätte man sich evt. auch zusammengoogeln können. Herr Wolfram, Sie mögen ein renommierter Mittelalterhistoriker sein, für mich war es allerdings rausgeworfenes Geld. Lesson to learn: Bibliothek aufsuchen und erst dann die Werke käuflich erwerben, die auch für das speziell individuelle Interesse auch tatsächlich einen Mehrwert bietet.
...hui... das sind aber sehr herbe Worte über Herwig Wolfram.

Statt zu wettern, empfehle ich dir zu lesen, und zwar von genau diesem Herwig Wolfram:
  • Geschichte der Goten. Entwurf einer historischen Ethnographie. C.H. Beck, München 1979, 2. Auflage 1980, unter dem Titel: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. 3. und 4. und 5. Auflage (1990/2001/2009)
  • Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter. Siedler, Berlin 1990, 2. Auflage 1992 (Siedler Deutsche Geschichte).
 
Guten Morgen,

ja, ich wollte Herwig Wolfram wirklich nicht zu nahe treten oder sein Werk verunglimpfen, doch für mich war dieses kleine Büchlein "Die Germanen" aus der Beck-Reihe einfach nur rausgeschmissenes Geld und damit sehr ärgerlich.
Natürlich sollte man sich im Vorfeld darüber kundig machen, ob ein Buch einen Mehrwert liefert oder nicht.

In meinem Besitz befindet sich u.a. Hannsferdinand Döbler: Die Germanen, Bertelsmann, 1975 und es geht nach meinem Geschmack schon in die richtige Richtung, wenn man sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Ist natürlich jetzt nicht mehr up to date.
Ja, natürlich hat der verwöhnte Leser eine gewisse Erwartungshaltung und ich finde es gibt auch durchaus Markt und Leserschaft für diese Thematik.

Also sollte man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich Altertumsforscher, Historiker, Archäologen, Sprachwissenschaftler, Illustratoren etc. irgendwann einmal zusammentun, um ein großes umfassendes mehrbändiges Standardwerk zu schaffen. Soviel zu der Rubrik "Wünsch Dir was - Wunschkonzert". Und das es keine neuen Erkenntnisse mehr gibt, stimmt glaube ich nicht. Dem Wiki-Artikel Harzhornereignis – Wikipedia Harzhornereignis sind die Ausgaben noch nicht abgeschlossen und es wird ständig etwas Neues herausgefunden.

Zu den genetischen Aspekten und den Thesen von Ann Gibbons würde ich auch gerne etwas sagen, aber dazu mache ich besser einen neuen Thread auf.
 
Hallo zusammen,

ich lese gerade Wolters "Schlacht im Teutoburger Wald".
Rom führte mit großem Aufwand den Immensum Bellum im Germanien, teilweise mit 12 (!!) Legionen gegen die Markomannen.
Es ist unter Historikern anscheinend umstritten, ob das rechtsrheinische Germanien jemals eine römische Provinz war. Dafür spricht das Kapitel "Militäranlagen, Städte und Wirtschaftsaktivitäten rechts des Rheins".
Die Abfolge der Feldherren, die in Germanien Krieg führten, ist verwirrend! Drusus, Tiberius, Varus und Germanicus ...
Warum setzten sich hohe Angehörige des julisch-claudischen Herrschaftshauses wie Tiberius dieser Gefahr direkt aus?

Hierzu meine Fragen:
- angesichts der ausgedehnten römischen Außengrenzen war es sinnvoll, so starke Kräfte in Germanien aufzufahren? z.B. die 12 (!) Legionen gegen die Markommanen ohne dabei eine andere krisenhafte Grenzregion zu schwächen?
- warum haben sich Feldherren des julisch-claudischen Herrschaftshauses persönlich auf die Gefahr eines Feldzuges in Germanien begeben? So wie z.B. Tiberius, der ja wohl in der direkten Erbschaftsfolge der Augustus stand? Würde es nicht reichen, einen Söldner, einen Militär, damit zu beaufragen und sich lieber um die Innenpolitik in Rom zu kümmern, wie z.B. den Ausräumen unwillkommener Opposition in Rom selbst. Oder war ein Triumphzug für den wahrscheinlich angehenden Kaiser so wichtig, dass er sein eigenes Leben riskiert, nur um sich in die Gefahr eines riskanten Militärabenteuers zu begeben?

Meine Vermutung ist: wie Cäsar, der anscheinend durch sein strategisches Geschick beim Gallienfeldzug eine Machtposition in Rom gewann.
 
Mein Eindruck: "jeder versuchte mal sein Glück in Germanien", in der Hoffnung durch einen möglichen militärischen Erfolg dann eine Machtbasis in Rom aufbauen zu können. Man möge mir die Unkenntnis über die römischen Herrschaftsverhältnisse verzeihen.
Vor allem wenn man von der Augusteischen Friedensepoche sprach. Warum nicht den vollen Fokus auf die Innenpolitik legen, anstatt auf ein wagnisreiches Kriegsabenteuer auf einem ungemütlichen Kriegsschauplatz mit sehr brüchigen Allianzen und eigentlich am Ende der Rechnung - wenn man den Aufwand betrachtet - zu unverhältnismäßigen Kosten an Material und Personal.

Oder musste man sich als Feldherr persönlich im Felde beweisen, um nachher in Rom als überhaupt jemand zu gelten.
Selbst der viel geschmähte Caligula wagte einen Britannien-Feldzug, vielleicht, um nicht nur wegen seiner Orgien oder anderer Dinge im Volksbewusstsein zu bleiben. Ja, ich weiß, die Absurditäten, die man über Caligula erzählt, werden durch neue geschichtliche Erkenntnisse korrigiert.
Doch im Zeitalter eines Augustus oder Tiberius musste es wohl anders gewesen sein.
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Ein POTUS George Bush führt ja auch keinen persönlichen Feldzug im Irak, sondern er entsendet seine fähigsten Generalstabsoffiziere in die Gefechtsstände. In der Antike war das wohl anders ... ja, passt nicht zusammen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mein Eindruck: "jeder versuchte mal sein Glück in Germanien", in der Hoffnung durch einen möglichen militärischen Erfolg dann eine Machtbasis in Rom aufbauen zu können. Man möge mir die Unkenntnis über die römischen Herrschaftsverhältnisse verzeihen.
Vor allem wenn man von der Augusteischen Friedensepoche sprach. Warum nicht den vollen Fokus auf die Innenpolitik legen, anstatt auf ein wagnisreiches Kriegsabenteuer auf einem ungemütlichen Kriegsschauplatz mit sehr brüchigen Allianzen und eigentlich am Ende der Rechnung - wenn man den Aufwand betrachtet - zu unverhältnismäßigen Kosten an Material und Personal.

Oder musste man sich als Feldherr persönlich im Felde beweisen, um nachher in Rom als überhaupt jemand zu gelten.
Tatsächlich gab es den cursus honorum, also die Ämterlaufbahn, welche zu absolvieren waren, eine Mischung aus politischen und militärischen Ämtern.
In der republikanischen Zeit war diese prinzipiell wichtiger und Statthalterschaften waren die Möglichkeit, die während Wahlkampf und Amtszeit gemachten Schulden wieder zu begleichen und möglichst mit Gewinn nachbRom zurückzukehren. Rom hatte durchaus kleptokratische Züge.

Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist die, dass Rom auch immer reaktiv reagierte. Caesar war in seinem Prokonsulat Statthalter der Gallia Narbonensis (Südfrakreich) und Gallia Cisalpina (Norditalien). Als die Helvetier dort einfallen wollten, musste er reagieren. Dies war der Beginn des bello gallico, in dessen Verlauf sich Caesar immer weiter in gallische Händel ziehen ließ, frei nach dem Motto „halb zog sie ihn, halb sank er hin“. In Folge dieses gallischen Krieges kam Caesar in Kontakt mit immer mehr gallischen Völkern, Briten und Germanen. In diesem Zusammenhang überquerte er zweimal den Rhein und einmal den Ärmelkanal, um rechtsrheinische Völkerschaften (bei denen nicht immer ganz klar ist, ob es sich um Germanen oder Kelten handelte, er nennt Ubier, Sueben, Sugambrer und Cherusker) und Briten in ihre Schranken zu weisen. Nach Caesars Eroberung Galliens, seiner Ermordung und der Konsolidation der in ein Prinzipat umgewandelten Republik durch Augustus war die Rheingrenze linksrheinisch sicher römisch beherrscht, es gab keinen nennenswerten Widerstand mehr (außer in einem kleinen gallischen Dorf in Aremorica, das Caesar in seinen Schriften aus gutem Grund nicht erwähnte). Aber die Germanen fielen immer wieder über den Rbein in Gallien ein, bekannt ist v.a. die Niederlage des Lollius (clades Lolliana) bei der die Sugambrer die Römer unter Lollius besiegten. Dies hatte zur Folge, dass die Rheingrenze befestigt wurde und Expeditionen nach Germanien gesandt wurden, um Germanien zu befrieden.
 
Hallo Quijote,

das klingt absolut plausibel.
Also erwartete man quasi von einem angehenden Machthaber, dass er sein strategisches Geschick auch auf Feldzügen beweisen sollte, wenn ich Dich da richtig verstehe.
Mit entsandten Legionsführern war es nicht getan?
Was denkst Du war es bei Tiberius? Rom und Colonia waren weit voneinander entfernt. Waren nicht erst andere Mitglieder des julisch-claudischen Hauses, die Ambitionen auf die Nachfolge Augustus hatten und wäre es dann nicht ungeschickt, sich weit entfernt von der Hauptstadt aufzuhalten.

Ich lese immer wieder, dass in der besagten Familie immer rigoros aufgeräumt wurde, sobald eine "Thronnachfolge" anstand. Caligula, Nero u.a. , die mit ihren direkten Konkurrenten in der Erbfolge durch Giftmord und anderen Methoden erst einmal für klare Verhältnisse sorgen mussten, um sich den Platz an der Sonne zu garantieren.
Somit wäre es für Tiberius cleverer gewesen, sich so oft es geht, unmittelbar in Hauptstadtnähe aufzuhalten.

Wikipedia:
Anfang 13 n. Chr. kehrte Tiberius nach Rom zurück und hielt den verschobenen Triumph für die Niederschlagung des Pannonischen Aufstands ab. Seine Amtsgewalten, die tribunicia potestas und das imperium proconsulare maius, wurden auf weitere zehn Jahre verlängert. Als Augustus am 19. August 14 starb, hatte Tiberius somit alle Rechte inne, auf denen der Prinzipat beruhte.
 
Okay ich sehe gerade, die Nachfolge von Augustus war sehr wohl geregelt.
Da musste dann wohl niemand mit Gift nachhelfen. Verdammt, wo hatte ich das bloß gelesen? Caligula, Nero --- Geschwistermord im julisch-claudischen Königshaus.

Wikipedia:
Augustus adoptierte ihn am 26. Juni des Jahres 4 gemeinsam mit seinem letzten noch lebenden Enkel Agrippa Postumus. Letzteren ließ er jedoch drei Jahre später aus nie ganz geklärten Gründen auf die Insel Planasia bei Elba verbannen, wo er unmittelbar nach Augustus’ Tod ermordet wurde. Tiberius wiederum musste den Sohn seines verstorbenen Bruders Drusus adoptieren: Germanicus. Der Großneffe des Augustus entstammte als Enkel der Octavia zugleich dem julischen und dem claudischen Familienzweig. Da Germanicus 4 n. Chr. noch zu jung war, um Augustus direkt im Amt nachzufolgen, wies der Princeps ihm die Rolle des Nachfolgers von Tiberius zu. Nach dieser familienpolitischen Weichenstellung bis in die dritte Generation übertrug Augustus Tiberius im Jahr 4 n. Chr. die tribunizische Amtsgewalt (tribunicia potestas). Aber erst im Jahr 13 n. Chr., im Jahr vor seinem Tod, verlieh Augustus ihm auch die prokonsularischen Befugnisse (imperium proconsulare maius) und designierte Tiberius damit öffentlich als einzig möglichen Nachfolger. In seinem umfangreichen Testament vermachte Augustus seinem Adoptivsohn und seiner Ehefrau Livia sein materielles Vermögen. Darüber hinaus setzte er Legate für die Bürger Roms und die Prätorianer aus. Ferner regelte er sein Begräbnis und gab Anweisungen für Tiberius und den Staat.
 
Bruder Drusus, Sohn Germanicus -- die Feldzüge in Germanien waren wohl etwas wie eine "Familienangelegenheit" "Cosa della Famiglia" wie der moderne Italiener vielleicht sagen würde.
 
Du stellst zwar durchaus die richtigen Fragen, aber das berührt soviel, dass die Antwort schon ein Heft gut füllen würde.

Die Zivil- und Militärverwaltung* war nicht getrennt. Die höheren Kommandoposten ab dem Legionskommandanten waren von Politikern, Senatoren besetzt. Tribunen waren Nachwuchspolitiker. Das Heer am Rhein war das größte des Reichs. Das wurde keinem Politiker einfach so anvertraut. Varus war in dieser Hinsicht wichtig für Augustus. Später, lange nach der Schlacht, fiel seine Familie in Ungnade. Daher wurde seine Rolle klein geredet und als Sündenbock taugte er nach der Niederlage ja sowieso: Es war opportun, schlecht über ihn zu reden.

Augustus hatte nicht einfach die Republik abgeschafft, fiktiv wurde sie aufrechterhalten. Die jüngeren Mitglieder des Kaiserhauses mussten den Cursus Honorum durchlaufen, um höhere Ämter zu übernehmen, da sonst die Fiktion nicht aufrecht zu erhalten war. Dazu gehörten Posten als Tribun und Legionskommandant. Germanicus hat z.B. unter Tiberius in Germanien gedient. Auch ein Princeps musste das durchlaufen haben, weil es die Voraussetzung für die Befugnisse war, die er aus republikanischen Ämtern vereint hatte. Teils wurden ihm dafür Ämter dauerhaft übertragen.

Rom hatte Legionen immer nach Bedarf ausgehoben. Nach der Varusschlacht musste Augustus feststellen, dass das nicht mehr so leicht möglich war. Aber im Prinzip wurde auch danach davon ausgegangen, dass Rom an verschiedenen Fronten kämpfen konnte. Und Schwerpunktbildungen waren nun einmal notwendig und numerische Übermacht das sicherste Mittel zum Sieg. Rom konnte dadurch in Germanien zwei Heere operieren lassen, ohne die Grenze völlig zu entblößen.

Und Rom hatte Augustus selbst schon im Griff. Er hatte sich ja selbst jahrelang in Spanien, Gallien und nördlich der Alpen aufgehalten, um das Reich abzurunden und die Provinzen zu ordnen. Das funktionierte auch, ohne dass er Rom verlor.

Was den Aufwand angeht, musst du das Weltbild beachten. Eine vom Ozean umgebene Landmasse. Cäsar plante, als er ermordet wurde einen Zug gegen die Parther. Danach wollte er den vermuteten schmalen Landstreifen im Norden zwischen Rom und dem Ozean erobern. Ein zutreffenderes Bild Europas entstand dann im Zusammenhang mit den Germanienfeldzügen unter Augustus. Die Frage war damit, ob Germanien als Provinz unterworfen werden sollte, wie Augustus es schon in Angriff genommen hatte, oder ob Germanien durch eine Mischung von Diplomatie, militärischer Drohung und Klientelstaaten kontrolliert werden sollte.

*Rom schickte einen Statthalter in eine Provinz und evt. wie in Spanien einen Quästor zur Finanzaufsicht. Ihren Stab engagierten und bezahlten die selbst. Die einzelnen Civitates (vereinfacht: Gemeinden und Städte) verwalteten sich mit starker innerer Autonomie selbst. Die Steuern wurden verpachtet. Der Rest wurde vom Militär, dass der Statthalter, der auch oberster Richter der Provinz war, kommandierte, erledigt. Schlanker geht es nicht. Nur mussten dafür eben die Statthalter zuverlässig sein. Statthalter und Quästor wurden nicht einmal bezahlt. Gewinn erwirtschafteten sie vorwiegend kleptokratisch.
 
Um den Fragenkomplex zur Julisch-Claudische Dynastie abzuschließen, eine Frage bitte noch: wer war das mit den Giftmorden unter Geschwistern? Ein Sohn rückt in der Nachfolge auf und lässt seine anderen Geschwister vergiften oder anderweitig töten, um Konkurrenten zu beseitigen. Bin ich da auf einem falschen Pfade. Sorry, gehört eigentlich überhaupt nicht hier her.
 
Wenn Arminius, der ja einem ganz anderen Kulturkreis entstammte, ebenfalls von Verwandten vergiftet wurde, könnte man zum Schluss kommen, dass es in der Antike in bestimmten Herrschaftskreisen so usus war, Konkurrenten auch oder vor allem aus der eigenen Familie gnadenlos zu beseitigen, wenn sie der eigenen Karriere im Wege standen.
 
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