@Andreas Solar hat in einem anderen Thread mal den Bericht eines Korrespondenten der London Times aus dem Sommer 1914 erwähnt, in dem der Korrespondent darüber berichtete, wie zivile Einwohner Belgiens, Hirschfänger, Schrotflinten und alte Donnerbüchsen aus Urgroßvaters Zeiten sammelte, um einem Aggressor Belgiens zu begegnen.
Wenn man das im Hinterkopf hat, mag es durchaus verständlich sein, dass wenn man die zahlreichen Berichte über Frantireurs liest, Zweifel bekommen mag, dass die Berichte alle erfunden sind, dass die sich das komplett alles aus den Fingern gesaugt haben sollen.
Horne und Kramer halten zumindest den vereinzelten Eingriff von Zivilisten oder Franctireurs für möglich. Angehörige von Miliz, Landwehr usw. waren vordergründig nicht unbedingt auf den ersten Blick als reguläre Soldaten erkennbar.
Wenn man Krieg einhegen will, wenn man im Krieg die Spirale der Gewalt nicht eskalieren lassen will, wenn man zumindest Krieg an bestimmte Regeln und Kriegsgesetze und ein Minimum an Humanität binden will, dann ist es absolut sinnvoll, Zivilisten nicht zu gestatten, sich als Freischärler auf eigene Faust am Krieg zu beteiligen.
Auf den Krieg aus dem Hinterhalt, den Krieg ohne Uniformen, auf Guerillakrieg, Partisanenkrieg und Terrorismus haben seit Menschengedenken alle Armeen auf der Welt mit dem gleichen Mittel geantwortet: Terror! Die Franzosen in Spanien, die Deutschen in Russland, die Amerikaner in Vietnam, alle Armeen auf der Welt haben auf den Krieg ohne Uniformen, haben auf Terrorismus stets die gleiche Antwort gegeben. Die Methoden waren gewöhnungsbedürftig, und Geiselnahmen, Kollektivstrafen und "Sühnemaßnahmen" forderten und fordern stets auch große Opferzahlen, und es trifft so etwas auch immer sehr viele Unschuldige.
Auch die Tatsache, dass Belgiens Neutralität recht brutal missachtet wurde, berechtigt Zivilisten nicht dazu, als Freischärler mitzumischen, und Freischärlern die Rechte von Kombattanten nicht zu gewähren ist absolut nachvollziehbar (nachvollziehbar auch, sie in Kriegszeiten an die nächste Wand zu stellen auch wenn das keiner gerne zugibt.)
Die deutsche Armee ist nicht von Franctireurs überrascht worden in Belgien. Im Deutsch-Französischen Krieg gab es tatsächlich Franctireurs, die zweite Phase des Krieges war tatsächlich ein Volkskrieg, und der Einsatz von Freischärlern war durchaus ein Vorgriff auf den "totalen Krieg" des 20. Jahrhunderts. Diesen Volkskrieg fürchtete man. Auf so etwas erwartete man auch in Belgien zu treffen. Die deutsche Armee, die in Belgien 1914 einmarschierte, war geradezu besessen von Franctireurs. Man erwartete auf Franctireurs zu treffen.
In Dinant wurde deutschen Einheiten befohlen, die Gegend von Franctireurs zu säubern. Wenn man erwartet, auf Franctireurs zu treffen, ist man natürlich auch geneigt, Franctireurs auszumachen.
Wenn von irgendwoher Feuer kam, wenn eine Einheit beschossen wurde-dann waren es Franctireurs. Franctireur-Aktivitäten wurden als Erklärungsmuster herangezogen, wenn etwas schief lief, wenn etwas undurchsichtig war, wenn irgendwo eine "Schweinerei" passierte. Franctireur-Aktivitäten wurden allgemein akzeptiert als Erklärungsmuster. Franctireurs waren aber auch geeignet, um Maßnahmen gegen Zivilisten zu rechtfertigen oder um Bedenken gegen solches Vorgehen zu zerstreuen. Franctireurs und deren Aktivitäten waren aber natürlich auch geeignet, sozusagen "blaming the victim" zu betreiben. Denn wenn es Franctireurs tatsächlich gab, wenn Zivilisten den Krieg ohne Uniformen entfesselten, dann waren die Deutschen nicht dafür zu kritisieren, dass sie darauf so reagierten, wie alle anderen Armeen vor und nach ihnen darauf reagiert haben oder reagiert hätten, und selbst die Massaker von Löwen und Dinant waren dann zwar nicht entschuldigt- (Die Deutschen gaben ja zu, dass viele Unschuldige dabei umkamen) aber doch zumindest verständliche Reaktionen auf einen Verstoß gegen die HLKO.
1870/71 hatte es Franctireurs tatsächlich gegeben. Der Einsatz von Freischärlern ist regelwidrig, es kann nicht angehen, dass Zivilisten einen Hintertreppenkrieg anzetteln. Wenn es den Franctireur-Krieg in Belgien gegeben hätte, wären die Deutschen zumindest nicht dafür zu kritisieren, weil sie sich so verhielten, wie alle Soldaten aller Armeen das getan haben und getan hätten. Die Schweden in Russland, die Soldaten Napoleons in Spanien oder die US-Army in Vietnam. Alle Armeen auf der Welt haben Terror mit Terror bekämpft, und das allein macht sie noch lange nicht zu Kriegsverbrechern.
Franctireurs-Aktivitäten waren damit natürlich auch eine Rechtfertigung, um Terrormaßnahmen gegen belgische Zivilisten zu rechtfertigen oder auch Bedenken gegen ein solches Vorgehen zu zerstreuen.
Bei der Erstellung des Weißbuches hatten Offiziere einen erheblichen Einfluss auf den Gesprächsverlauf. Es war keineswegs so, dass die Soldaten aus ihrer Erinnerung berichteten, sondern sie durften nur auf vorgegebene Fragen Antwort geben. Die Befragung war vielfach suggestiv und manipulativ, man machte von Framing Gebrauch, und Aussagen die dem Narrativ widersprachen, Aussagen von belgischen Zivilisten und kritische deutsche Berichte hatte man gar nicht aufgenommen.
Das Weißbuch war, mehrfach überarbeitet schon zu Kriegszeiten in Belgien und den NL für die Öffentlichkeit verfügbar. Die Weltöffentlichkeit hat anscheinend das Graubuch der belgischen Regierung oder die Tschoffen Studie für weitaus überzeugender gehalten. Der Kriegsschuld-Artikel § 27 des Versailler Vertrags hat ganze Historiker-Generationen motiviert das Reich zu entlasten, und das Reichsarchiv hat durchaus wertvolle Forschungsarbeit geleistet.
Spraul hat Horne und Kramer an einzelnen Stellen nachweisen können, dass sie ungeprüft, belgisches Quellenmaterial übernommen haben. Die Arbeit von Horne und Kramer ist aber nach wie vor ein Standardwerk, und die Fülle an Archivmaterial verdient allein schon wegen ihrem Fleißaufwand Respekt. Gerd Krummeich hat sich ein großes Verdienst nicht zuletzt auch wegen seines Engagements zur europäischen Verständigung erworben.
Krummeich sagte mal an anderer Stelle bei einer Rezension zu Clarks Schlafwandlern, das er sehr lobte, dass er Zeit seines Lebens Gegner von Fischers Thesen gewesen sei, dass er auf seine alten Tage noch zum Fischerianer würde, wenn er sieht, wie Clarks "Schlafwandler" als Entschuldigungs- und Entlastung für das Deutsche Reich, Positionen, die durch Clarks Thesen nicht einmal bestätigt würden.
Von daher verwundert es ein bisschen, dass Krummeich das Vorwort zu Ulrich Kellers Schuldfragen geschrieben hat. Es ist nichts dagegen zu sagen, dass Keller sich auf das Weißbuch als Quelle stützt.
Es ist das Weißbuch aber mindestens eine etwas problematische Quelle. Es ging dabei nicht darum, neutral und ergebnisoffen die historischen Ereignisse zu rekonstruieren. Das Ergebnis stand bereits vor der Erhebung fest, und wie alle Studien mit vorbestelltem Ergebnis hat dann das Weißbuch das gewünschte Ergebnis geliefert und den "Volkskrieg mit Franctireurs" bewiesen.