Marxistische Lehre

Mit 'Rentiers' waren wohl vor allem Leute vor dem I. Weltkrieg gemeint, die teils oder ganz von den Einkünften ihrer Kapitalanlagen (Aktien, Geldeinlagen usw.) lebten, dies auch als Altersabsicherung verwendeten. Einkünfte aus Immobilienbesitz gehörte vermutlich auch dazu, Firmenanteile. Siehe typisch die Masse der französischen Kleinanleger ab dem Zweiten Kaiserreich.
Das kann gut sein, das umlagefinanzierte Rentensystem, wie wir es heute haben, gab es ja noch nicht.
 
Die 'Rentiers-Klasse' wurde mit bzw. nach dem I. Weltkrieg ziemlich marginalisiert, Wirtschaftskrisen, Inflationen, Schwarzer Freitag, Bürgerkriege, II. Weltkrieg.
Die Großeltern von Frida Kahlo, die Schmuckfabrikantenfamilie Kahlo in Pforzheim, führten ab 1874 in Baden-Baden Lichtental ein typisches Rentiers-Dasein, in welchem der Vater von Frida, Wilhelm, aufwuchs.
 
Wenn man diese Marx'sche Vorstellung von Gesellschaftsklassen in die Gegenwart projiziert, haben wir gesetze, die die Klassengesellschaft nicht etwa abgeschafft haben, sondern die sie durch den Schutz des Privateigentums verteidigen.
Vielleicht zur Ergänzung:
Dem uneingeschränkten Ge-, Ver- Miss- und Nießbrauch des Privateigentums und seiner Rechte beispielsweise gegenüber Arbeitnehmern wurde in vielen Staaten mal mehr, mal kaum Beschränkungen via Gesetzen und Verordnungen erlassen.
Ideologische Hardliner aus der Marxistischen, Leninistischen Welt werden die markanten Unterschiede zwischen beispielsweise Schweden, Norwegen oder Deutschland in dieser Hinsicht gegenüber den USA, Chile oder auch UK nicht anerkennen.
 
Ich hab mich da ja auf die Arbeit bezogen, wie gesagt, die Kritik aus heutiger Sicht kann man Marx der vor 160 Jahren schrieb so nicht anlasten. Der Autor stellt auch mehrfach heraus, dass es im Osten große Schwierigkeiten gab die Grundbedürfnisse zu erfüllen und der Lebensstandard niedrig gegenüber dem Westen sei und in dem Zusammenhang, dass sie westlichen Wirtschaftseinrichtungen, ohne die genauer zu definieren, überlegen seien. Der Unterschied ist dabei allerdings, dass im Westen Profitwirtschaft betrieben wird und der Arbeiter und Konsument ohne Ende ausgebeutet, Profitmaximierung die dazu führt, dass möglichst viel, möglichst billig zu möglichst hohen Preisen unter die Leute geschleudert wird; die große Freiheit und Wahl zwischen Cola oder Pepsi. Die Massen werden in den Himmel gestapelt und Profiteure leben in Luxus.
Es bleibt auch sehr allgemein, vielleicht dem Titel entsprechend "Rechts- und Staatsphilosophie", es werden keine konkreten politischen oder wirtschaftlichen Instanzen bearbeitet, auch nur wenig abseits von Marx und Standardwerken aus dem Osten. Oppenheimer, Frankfurter Schule, Genossenschaften und Gesellschaften; Raiffeisen oder Habermas und Weber werden auch nicht behandelt.
 
Das "Kapital" von Marx, herausgeben von Engels, hatte seinen Durchbruch ausgerechnet in dem Land welches besonders eifrig voreilende Zensur betrieb, welche erst 1906 aufgehoben wurde.
Die russische Zensurbehörde stufte das Werk als harmlos ein, da es ein schwieriges wirtschaftswissenschaftliches Werk sei, welches kaum größeres Interesse erzeugen könne.
Es wurde ein Bestseller der russischen Intelligenzia.
 
Ideologische Hardliner aus der Marxistischen, Leninistischen Welt werden die markanten Unterschiede zwischen beispielsweise Schweden, Norwegen oder Deutschland in dieser Hinsicht gegenüber den USA, Chile oder auch UK nicht anerkennen.
Ich weiß nicht ob sie den nicht anerkennen, aber sie scheinen ihn jedenfalls nicht für wesentlich zu halten während in den USA die Regelungen in Skandinavien, Zentral- und Südeuropa ja andersherum teilweise für puren Marxismus/Sozialismus gehalten werden.

Ist halt aber eben auch die Frage ob es überhaupt noch irgendeinen Sinn hat, 150 Jahre nach Marx mit der marxistischen Brille auf diese Verhältnisse zu schauen, oder zu versuchen die heutige Welt durch die Marx'sche Theorie zu interpretieren.

Mir ging es einfach nur darum, dass in dem zitierten Text Ideenhistorisch verschiedene theoretische Ansätze und Betrachtungsweise zu einem Brei vermengt wurden, der sich so in Marxens Schriften nicht findet.

Ich hab mich da ja auf die Arbeit bezogen, wie gesagt, die Kritik aus heutiger Sicht kann man Marx der vor 160 Jahren schrieb so nicht anlasten. [...]

Es geht mir nicht um die Inhalte des Textes, die du da kritisiert hast sondern um die Art deiner Kritik daran.

Beim Thema Marx, ist immer wieder auffällig, dass sowohl Kritiker, als auch Verteidiger des Herren und seiner Schriften sich häufig seht weit abseits von deren Inhalten bewegen und den Eindurck machen, sie nicht richtig gelesen/verstanden zu haben.

Es ist, was Kritik an Marx angeht den Verhältnissen des klaten Krieges und seiner gesellschaftlichen Stimmung geschuldet viel idiotisches Zeug geschrieben worden, dass mit einer Betrachtung der Person in seiner Zeit absolut nichts zu tun hatte, sondern Marx rein aus der Sicht der politischen Verhältnisse der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihrer propgandistischen Volten beurteilte.

Aber solche Verteidigungsversuche:

Viel der Kritik basiert ganz einfach darauf, dass man Marx unangemessen in die Gegenwart projiziert. Wenn man im Jahr 1848 oder in den 1860ern als Diener gelebt hat und die Möglichkeit und Fähigkeit hatte zu verstehen, dass man ebenso wie die eigenen Kinder mit Marx Worten "human rubbish", also Gesinde, Gesocks, "menschlicher Abfall" in den Kellern und Baracken irgendwelcher Fürsten, Herrn, Lord master bleiben wird, dann war der Marxismus ganz sicher die beste Wahl. Dass wir uns heute zumindest dem Gesetz nach in einer klassenlosen Gesellschaft befinden in der jeder arbeitet ist auf jeden Fall dem Sozialismus zu verdanken. Ein weiteres Novum des Marxismus war außerdem die Konzeption eines Wirtschaftssystems für eine Gesellschaft, die sich vollständig selbst versorgen kann, nicht bloß ohne die eigene Bevölkerung bzw. Teile/Klassen davon auszubeuten, sondern auch ohne andere auszubeuten: ohne Krieg.
Dass das ursprüngliche Endziel der Transformation der Klassengesellschaft über eine Zwischenzeit der staatlichen Diktatur des Proletariats hin zu einem staatenlosen kommunistischen Selbstverwaltung nicht realisiert wurde und stattdessen in einer Art orwellschen Diktatur ausartete, sollte einen nicht vergessen lassen, dass dabei sehr wohl ein bedeutender Teil der Ideen realisiert und die Welt verändert wurde. Und wenn der Kommunismus das utopische Ideal darstellt ist er genau als das immer noch eine bedeutende Leistung ggü. Vorstellungen die es bis dahin gab; und wohin soll die Welt heute gehen? Irgendwelche Vorstellungen und Ziele zu haben ist wichtig.
Woran der sozialistische Osten gescheitert ist sollte man auch nicht vergessen, es lag nicht bloß an sich selbst, zu einer Auseinandersetzung gehören immer zumindest zwei. Die Welt ist ein geschlossenes Ökosystem und wenn "der Westen" oder sonst jemand so enorm selbstzerstörerisch und verschwenderisch agiert hat das eine direkte Auswirkung auf das gesamte System.
Einen Stalin hätte es außerdem in jedem Fall gegeben, aber was das für Ausmaße und Rückschritte hätte annehmen können wäre es nicht unter dem Sozialismus gewesen ist leicht übersehen weil es nur Spekulation sein kann.

Machen es nicht besser, sondern schreiben das Problem der ahistorischen Betrachtung von Marx, was eine sinnvollen historischen Diskussion seiner Person und Inhalte eher im Weg steht fort.

Wichtiger als zu versuchen Marx hier zu rechtfertigen und gegen möglicherweise oder ziemlich sicher unangemessene ideologisch motivierte Kritik (wenn sie Marx mit den Verhältnissen des Realsozialismus gleichsetzte), die heute so kaum noch gelesen werden dürfte anzuschreiben, wäre sich anzuschauen, was genau sich wirklich aus Marx begründen lässt, was orriginelle Ideen von ihm waren, wie er die gemeint hat und welche Ideen eigentlich von anderswo her kommen, sei es von späteren Theoretikern, die auf Marx aufbauten ("Marxismus-Leninismus") aber Teile seiner Ideen nicht übernahmen, sondern umbauten, sei es von Marx vorrausgehenden Denkern, deren Ideen sich Marx teilweise angeeignet und Teilweise modifiziert hat.

Marxens Ansichten zu "Ausbeutung" und dem Privateigentum an Produktionsmitteln, z.B. sind in weiten Teilen Weiterentwicklungen der Ideen/Theorien des englichen klassischen Ökonomen David Ricardo (dazu steht weiter vorne im Faden einiges) und des französischen Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon.
Marx-Engels haben beides modifiziert und zusammengeführt und insofern durchaus eine orriginelle Eigenleistung ebracht, was das ganze angeht.

Aber weite Teile der Grundannahmen von beiden waren eigentlich nicht etwas unerhöhrt, nie dagewesenes. Weder im Sinne antimarxistischer Kritik, die dahin zielt, dass dass in nie dagewesener Weise mit den Grundsätzen der Gesellschaft gebrochen hätte oder auf völlig absuden Ideen aufbaute (auf den Ökonomen Ricardo im Besonderen seine Außenhandelstheorie und sein Modell der "komparativen Kostenvorteile" bezieht sich die Wirtschaftswissenschaft auch heute noch) noch war das, wie von Beführwortern von Marx häufig dargestellt, der weit und breit einzige Versuch gegen ein ungerechtes System anzugehen.

Die Vorstellung, einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, bei der am Ende die Produktionsmittel ihren bisherigen Besitzern, die sich ihrer aber nicht selbst bedienten abgenommen und in die Hände ihrer Anwender gelegt werden sollten, die hatte etwa Proudhon 10 Jahre vor Marx formuliert, Marx hat nur eine andere Begründung geliefert, weil ihm die von Proudhon inkonsequent erschien und bei Anarchisten war etwa die Forderung, dass demjenigen, der ein Stück Land beackert, dieses und seine Produkte auch gehören sollten, Mainstream.
Engels hat mit seiner Sozialstudie über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" relativ früh versucht diese Verhältnisse zu beschreiben und die Problemlagen darzustellen, er war aber bei weitem nicht der Erste oder Einzige, der das tat. (Über andere Beispiele ist in den ersten Kapiteln von Christopher Clarks dickem Wälzer über die Revolution von 1848 einiges interessantes nachzulesen).

Im Übrigen waren einige Ideen und politische Forderungen, die sich bei Marx/Engels finden, möglicherweise Adaptionen von Modellprojekten, die es durchaus gab:

Z.B. die Idee zur Schaffung von staatlich geförderten Produktionsgenossenschaften (ähnlich, wie das in Deutschland Ferdinand Lasalle vertrat), um den proletarisierten Unterschichten Arbeit zu beschaffen, die war ab den 1830er Jahren in Frankreich von Louis Blanc propagiert worden und im Zuge der Revolution von 1848 wurden in Paris entsprechende Modellprojekte unter der Bezeichung "Nationalwerkstätten/Ateliers nationaux" gegründet.


Eine Maßnahme, die Marx/Engels im "Manifest der Kommunistischen Partei" ausdrücklich mit der Forderung "Vermehrung der Nationalfabriken" aufgreifen und die ihnen als real vorhandenes Modell durchaus bekannt war.

Von Modell der tatsächlich vorhandenen staatlich geförderten Produktionsgenossenschaft, um Teile der Unterschichten, die sonst nichts hatten mit Arbeit und Auskommen zu versorgen, war es gedanklich eigentlich nicht mehr weit, zu der Vorstellung die gesamte Wirtschaft nach genossenschaftlichem Modell organisieren zu wollen, im Besonderen für jemanden, der Proudhons Kritik am Eigentum privater Fabrik und Landbesitzer kannte und der mit Ricardos Arbeitswertlehre herumexperimentierte um dem ganzen eine solidere Begründung zu beschaffen, als Proudhons der sich eher an die Anarchisten anlehnende Vorstellungen, die mit Gerechtigkeit argumentierten orientierte, während Marx sich darum bemühte dass mit ökonomischen Annahmen zu untermauern.
 
Zuletzt bearbeitet:
(...) sei es von Marx vorrausgehenden Denkern, deren Ideen sich Marx teilweise angeeignet und Teilweise modifiziert hat.(...)
wobei man, was in deiner Darstellung fehlt, erwähnen sollte, dass keine philosophische Publikation vorgängerlos aus dem Nichts als Novum auf die Welt kam. Dass Marx nicht ohne Herzen, Bakunin, Proudhon etc möglich war, ist nichts unbekanntes. Deine Darstellung kann dahingehend missverstanden werden, dass es Marx an Originalität gemangelt hätte - was nicht der Fall war.
 
Deine Darstellung kann dahingehend missverstanden werden, dass es Marx an Originalität gemangelt hätte - was nicht der Fall war.
So ist sie ausdrücklich nicht gemeint, die Kritik vorrangegangener Ideen und deren Weiterentwicklung kann durchaus eine orriginelle Leistung sein und etwa Marxens Arbeitswertlehre, die aus der Kritik derjenigen von Ricardo entstanden ist, ist duchaus eine.

Aber der Gedanke den Wert einer Arbeit messen oder daraus Rechtsansprüche ableiten zu wollen was dann zusammen einen erheblichen Teil der Theorie bildete, die waren so ganz und gar nicht neu. Die konnte man im Grunde genommen auf das Feudalwesen zurückführen, wenn festgelegt war, wie viele Tage Arbeitsleistung ein Höhriger seinem Grundherrn schuldete.
Da sind eine Bemessung von Arbeitskraft und ein darauf basierender Rechtsanspruch, in diesem Fall der des Grundheeren durchaus vorhanden.

Also durchaus Bestandteile, die man in der realen Welt vorfinden konnte, die aber neu interpretiert und arrangiert wurden.
 
Zu der Rentiersklasse: Unten findet sich die Abbildung aus einem Artikel von Albers, Bartels und Schularick (2022) über Vermögen und Vermögensverteilung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Da sieht man, dass vor dem Ersten Weltkrieg das Verhältnis von Vermögen zu jährlichem Volkseinkommen (über 6 zu 1) viel höher als sonst im vergangenen Jahrhundert war, aber in den letzten Jahren möglicherweise wieder erreicht wurde (das ist umstritten). Natürlich kommt es dann noch auf die Verteilung dieses Vermögens an, aber zumindest war wohl genug vorhanden, um einer nicht zu kleinen Klasse von Rentiers ein auskömmliches Einkommen zu ermöglichen. Rechts sieht man dann auch noch, woraus dieses Vemögen bestand. So spielte landwirtschaflticher Grundbesitz noch eine erhebliche Rolle.


Albers_et_al_2022.jpeg
 
"1872" landet das Werk auf dem "Schreibtisch des Zensors".
""Es kann mit Sicherheit festgestellt werden", schloss der erste der beiden Zensoren , daß nur wenige in Russland es lesen und noch weniger es verstehen werden.""
Der zweite Zensor hielt das "Kapital" deshalb für harmlos, da es ja das englische "Fabriksystem" angreife, welches ja nicht das russische sei.
"So wurde Das Kapital in Russland eingeführt und die erste ausländische Veröffentlichung..."
15 Jahre vor England.
"Das Kapital war sofort ein Verkaufsschlager, die erste Auflage von 3000 war innerhalb eines Jahres vergriffen"
Im Vergleich dazu brauchte die erste deutsche Auflage von 1000 fünf Jahre vergriffen zu sein.
Marx selbst bemerkt, dass sein "Meisterstück" nirgendwo mehr gelesen und geschätzt werde als in Russland.

S. 152.
Figes, Orlando (2014): Russland. Die Tragödie eines Volkes ; die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin: Berlin-Verl.

(P.S.: @andreassolar
Danke für die Frage, bzw. Nachbohren.
War mir nicht mehr sicher woher ich das hab.)
 
Zuletzt bearbeitet:
"Das Kapital war sofort ein Verkaufsschlager, die erste Auflage von 3000 war innerhalb eines Jahres vergriffen"
Ich halte 3.000 Exemplare allerdings nicht für umwerfend viel.
Im Vergleich dazu brauchte die erste deutsche Auflage von 1000 fünf Jahre vergriffen zu sein.
Da dürften allerdings einige Schwierigkeiten, was den Vertrieb angeht, hinzugekommen sein.

Immerhin waren Marx/Engels in den deutschen Staaten, vor allem in Preußen keine unbeschriebenen Blätter mehr, sondern hatten sich spätestens 1848 bei den preußischen Behörden extrem unbeliebt gemacht.
Das dürfte in den deutschen Staaten möglicherweise sowohl Händler, als auch potentielle Käufer zur Vorsicht im Umgang mit diesem Buch veranlasst haben, zumal die Veröffentlichung 1867 natürlich auch mit den Einigungskriegen zusammenfiel (ggf. müsste man sich das näher ansehen, schärfere Zensurgesetzgebung in Kriegszeiten) und dann kommt natürlich noch die Kleinstaaterei mit ihren verschiedenen Vorgaben hinzu, was wo publiziert und gedruckt werden durfte und wo nicht.

Auch dürften die Deutschen wegen der Kriege von 1866/1867 und 1870/1871 erstmal mit den Kriegsereignissen und ihren Folgen beschäftigt gewesen sein, insofern mag der Umstand, dass sich das Buch im deutschsprachigen Raum erstmal etwas schleppend absetzen ließ möglicherweise auch einfach einem ungünstigen Timing bei der Veröffentlichung geschuldet gewesen sein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wie auch immer, so fasste die Marx'sche Deutung der Welt doch in Russland fuß,
folgt man Figes S.153
"Marx' Soziologie und Geschichtsauffassung, wenn auch nicht seine Politik, verbreiteten sich in den späten siebziger Jahren [1870er] wie eine Manie. Unter Studenten war es geradezu unanständig kein Marxist zu sein".
Und da hat der Marx, wie auch immer interpretiert, seine wahrscheinlich unbeabsichtigte Wirkung am intensivsten entfaltet.
 
In einigen Zeilen scheint mir der Versuch unternommen zu werden, Marx vor Marx zu retten. Die Fruchtbarmachung kann ich schon nachvollziehen, kann andererseits nicht übersehen, dass die Ideologie oder Dogmatik vom 'wissenschaftlichen Sozialismus' - auch in Abgrenzung zu allen anderen, natürlich nichtwissenschaftlichen, und daher nichtrelevanten sozialistischen oder sozialen Ideen - von Charly und Fritz wie auch die Aufladung mit einer welthistorischen und 'welterlösenden' Mission des 'Proletariats', verbunden mit der zum Dogma gewordenen dialektischen Geschichtsphilosophie durchaus gewisse Grundlagen für spätere, vermeintlich große Abwege legten.

Z.B. die Idee zur Schaffung von staatlich geförderten Produktionsgenossenschaften (ähnlich, wie das in Deutschland Ferdinand Lasalle vertrat), um den proletarisierten Unterschichten Arbeit zu beschaffen, die war ab den 1830er Jahren in Frankreich von Louis Blanc propagiert worden und im Zuge der Revolution von 1848 wurden in Paris entsprechende Modellprojekte unter der Bezeichung "Nationalwerkstätten/Ateliers nationaux" gegründet.

Eine Maßnahme, die Marx/Engels im "Manifest der Kommunistischen Partei" ausdrücklich mit der Forderung "Vermehrung der Nationalfabriken" aufgreifen und die ihnen als real vorhandenes Modell durchaus bekannt war.
Ja, und in Charlys Anmerkungen zum Gothaer Programm negiert er solche Absichtserklärungen (Punkt III), meine ich.
 
Die Fruchtbarmachung kann ich schon nachvollziehen, kann andererseits nicht übersehen, dass die Ideologie oder Dogmatik vom 'wissenschaftlichen Sozialismus' - auch in Abgrenzung zu allen anderen, natürlich nichtwissenschaftlichen, und daher nichtrelevanten sozialistischen oder sozialen Ideen - von Charly und Fritz wie auch die Aufladung mit einer welthistorischen und 'welterlösenden' Mission des 'Proletariats', verbunden mit der zum Dogma gewordenen dialektischen Geschichtsphilosophie durchaus gewisse Grundlagen für spätere, vermeintlich große Abwege legten.
Mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit ist das bei Marx natürlich schon insoweit eine Sache, dass er sich teilweise sehr darum bemüht hat sein Denken auf belastbare und überprüfbare Fundamente zu stellen abseits rein philosophischer Überlegungen zu stellen, dabei teilweise aber auch Dinge, die nicht ins Konzept passten offen ignoriert hat.

Z.B. hätte er als jemand aus Preußen der auch eine Zeit lang in Berlin gelebt hat und somit mal relativ nah auch an Schlesien drann war, schon bei der Arbeit an seinem Frühwerk wissen können, dass seine Vorstellungen, nach denen Grundsätzlich die Bourgesie Träger der wirtschaftlichen Veränderung und des Kapitalismus sei, so nicht aufging, weil die frühe Industrialisierung in Oberschlesien ein Projekt des preußischen Staates und der adligen Großgrundbesitzer dort war.
Ich gehe mal davon aus, dass ihm das durchaus bekannt war und dass er das um sein Theoriegebäude nicht zu unterhöhlen einfach ignoriert hat.

Insofern wäre durchaus von Anfang an die Frage an die Redlichkeit zu stellen, bzw. daran, wie weit ihm eigentlich selbst schon bewusst sein musste, dass der wissenschaftliche Anspruch seiner Theorie zumidest stückweise von Anfang an Wunschdenken war.

Ich bin zugegeben, was die Sache mit dem "wissenschaftliche Sozialismus" angeht etwas zwiegespalten, weil man den Anspruch in zwei verschiedene Richtungen verstehen kann:

a) Der Sozialismus ist allen anderen Theorien überlegen, weil er eo ipso auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, daher ist seine Richtigkeit auch nicht diskutierbar.
b) Der Sozialismus sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen, nicht auf utopischen/philosophischen Ideen entwickelt werden, daher wäre die Entwicklung der Theorie stets am aktuellen Stand der wissenschaftlichen Methoden zu messen.

Die erste Richtung ist natürlich hochproblematisch und genau die Attitüde, mit der dann später die Regimes in den Realsozialistischen Staaten auftraten. Insofern hast du sicherlich recht damit, dass er dadurch einer späteren Nutzung seiner Theorie im diktatorischen Sinne ermöglichte.

Aber das würde ich nicht mal auf die Vorstellung vom "wissenschaftlichen Sozialismus" beschränken, dass Problem, was die Anschlussfähigkeit für die späteren diktatorischen Regimes und linksautoritären Bewegungen angeht, besteht meines Erachtens schon darin, dass er zwar die Überwindung des Kapitalismus und die Kommunistische Gesellschaft propagiert hat, ohne sich präzise darauf festzulegen, wie die eigentlich genau aussehen sollte.
Das ist ja im Grunde genommen eine weitgehend leere Projektionsfläche, die zur Adaption einläd.

Ja, und in Charlys Anmerkungen zum Gothaer Programm negiert er solche Absichtserklärungen (Punkt III), meine ich.
Ich wollte auch nicht behauptet haben, dass der spätere Marx daran festgehalten hätte.
 
Vielen Dank, @Shinigami .

Nun war die Idee des 'wissenschaftlichen Sozialismus' - basierend auf einem Mix mit deutlich abstrakten, idealistischen Elementen - nur der eine Punkt, den ich notierte.
Die 'welthistorische' Mission mal der Arbeiter, dann aller Besitzlosen, dann der Kleinbauern und Tagelöhner und aller irgendwie Unterdrückten - ich weiss nicht was noch alles - für die dauerhafte, endgültige 'Erlösung' von allem möglichen Übel, bot durchaus, meine ich, ebenfalls eine merklich Grundlage für die für das 20. Jahrhundert so typischen radikalen Versuche, 'reine' Gesellschaften ideologisch-administrativ herzustellen - gerne verbunden mit umfassend(sten) moralisch & politisch-geschichtlichen Machtansprüchen.
Dass Marx gar keine konkreten, präzisen Vorstellungen sowohl vom Endzustand wie vom den Lebensumständen entwickelte, liegt natürlich u.a. daran, meine ich, dass es die nicht geben konnte und daran, dass dieser Endzustand ein aus dem Christentum übernommener, religiöser und entsprechend nichtweltlicher Topos war. Entsprechend mit unbegrenzter Gültigkeit für alle.

Gerade bei Marx lässt sich m.M. nach das Dilemma schön beobachten, dass er immer mehr aus seiner ideologischen Sicht heraus pragmatische Ideen & Projekte der kleinen Schritte, die eben konkrete Verbesserungen bewirken sollten, aber womöglich den vermeintlich endgültigen, notwendigen eschatologischen 'Kampf' zwischen Bourgeoise/Kapitalismus und den Besitzlosen aller Couleur hinausschoben oder gar verhinderten, diskreditierte. Ein journalistischer Scharfmacher, der unbeschadet im erzkapitalistischen UK in ziemlicher Freiheit leben konnte, gut bürgerlich.....
 
Das ist vielleicht eine Frage der Lesart/Interpretation.

Die 'welthistorische' Mission mal der Arbeiter, dann aller Besitzlosen, dann der Kleinbauern und Tagelöhner und aller irgendwie Unterdrückten - ich weiss nicht was noch alles - für die dauerhafte, endgültige 'Erlösung' von allem möglichen Übel, bot durchaus, meine ich, ebenfalls eine merklich Grundlage für die für das 20. Jahrhundert so typischen radikalen Versuche, 'reine' Gesellschaften ideologisch-administrativ herzustellen - gerne verbunden mit umfassend(sten) moralisch & politisch-geschichtlichen Machtansprüchen.
Lässt denn die materielle Geschichtsauffassung bei Marx so etwas wie eine "welthistorische Mission" der Arbeiter/Proletarier etc. überhaupt zu?

Wenn man die These in den Mittelpunkt stellt, dass die jeweilige Ausprägung der Gesellschaft nur zeitversetzter Spiegel der materiellen Machtverhältnisse ist und sich diesen laufend anpasst, würde ich meinen, müsste der postulierte Übergang von einer bürgerlich-kapitalistischen hin zu einer postkapitalistisch/kommunistischen Gesellschaft weniger als Revolution, als viel mehr als Konterrevolution begriffen werden.
Denn wenn die politischen Veränderungen nur verzögertes Abbild von und notwendige Reaktionen auf die materiellen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft sind, dann ist es nicht eigentlich nicht das Proletariat, dass den Übergang zur kommunistischen Gesellschaft anbahnt, sondern die Bourgeosie, als eigentlich revolutionäre Klasse, die die Grundlagen dafür schafft.

In meiner Lesart von Marx ist der Übergang zur postkapitalistischen Gesellschaft weniger historische Mission des Proletariats, als viel mehr quasimechanischer dialektischer Backlash der von der revolutionären Bourgeoise unwillentlich erzwungen wird.


Eine gewisse Verbindung zu religiösen Traditionen, würde ich Marx Werk auch unterstellen, aber ich würde da weniger eine Entlehnung dezidiert christlicher heilsgeschichtlicher Vorstellungen und Aufträge an eine Bestimmte Gruppe zur Erfüllung sehen, als eine Anlehnung an den Deismus der Aufklärung.

In letzterem ist Gott ja mitunter metaphorisch als eine Art Uhrmacher betrachtet worden, der sein Werk einmal geschaffen und in Gang gesetzt und sich dann daraus zurückgezogen hat ohne weiter lenkend einzugreifen.

So ähnlich stelle ich mir Marx' Blick auf die Geschichte vor, nur eben nicht mit einem Schöpfergott, sondern dem Menschen als Erschaffer und Erstbeweger der Mechanik.

Meine Erklärung warum er keine präzise vorstellung vom "danach" hatte, würde ich weniger in Problematiken utopischer Vorstellungen/Traditionen sehen, als in der Problematik, dass er die Welt und die Geschichte nur an Hand scheinbar mechanischer Gesetzmäßigkeiten erklären konnte, die aber keine Deutungen mehr zulassen, in einem Zustand, in dem die Energie aus der Mechanik entwichen ist oder die äußeren Umstände sich so verändert haben, dass das System der mechanischen Gesetzmäßigkeiten/bzw. sein Funktionieren an den Umweltveränderungen zerbricht und damit sein Deutungsapparat kaputt ist.
 
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