Arbeit mit Quellen/Quellenkritik

jschmidt

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Ursi hat diesen Thread geöffnet - vielen Dank! :winke:

Mod an: Hab ein eigenes Thema daraus gemacht. Schema zur Quellenkritik findet man hier:

http://www.geschichtsforum.de/f82/schema-zur-quellenkritik-34009/
Mod aus


Ich würde nämlich gern einige Fragen, die in der etwas ungebärdigen Diskusssion in http://www.geschichtsforum.de/f30/historizit-t-jesu-von-nazareth-16041/ bisher stehen geblieben sind, angehen bzw. ins Allgemeine zerren. Beispiele:
...ist eine Person [A], die besser bezeugt ist als jetzt historisch? Und muss jede historische Person [X] so gut bezeugt sein, wie die von ... [A] um als historisch durchgehen zu können? Gibt es eine bestimmte Anzahl von Bezeugungen, ab der eine Person [X] sicher historisch ist?


Mit solchen und anderen sinnvollen Fragen [1] haben es ja nicht nur Historiker, sondern auch Philologen und anderes Gezücht zu tun.

Die dankenswerterweise verlinkte historicum.net: Einführung gibt zum Stichwort sehr wichtige Hinweise, besonders dort wo es um "innere Quellenkritik" geht, und hier wieder ist die Frage nach Tendenz bzw. Intention bzw. Interesse von großer Bedeutung.

Zum Problem der Quantifizierung: So wie vier Augen mehr sehen als zwei, könnte man sagen, dass zwei Zeugen (Quellen, Belege) zu ein und demselben Sachverhalt stärkeres Gewicht haben als einer. Zu dieser trivialen These lassen sich genau so triviale Bedingungen formulieren, z.B.: (a) Die Sehkraft/Wahrnehmungsfähigkeit beider muss annähernd gleichstark sein, und (b) beide Zeugen müssen - um sinnvoll "addiert" werden zu können - voneinander unabhängig sein [2].

zu a) Einem Zeugen, der seine Glaubwürdigkeit bei anderen Gelegenheiten unter Beweis gestellt hat, wird man jedoch eher glauben als zwei anderen, denen schon mal vermeidbare Fehler oder gar Falschaussagen nachgewiesen wurden.
zu b) Es nützt nichts, wenn ein Zeuge A von einem Zeugen B zitiert wird [3] - das ist halt nur "Hörensagen".

Es leuchtet ein, und so habe ich tela verstanden, dass es keinen (quantitativen) Algorithmus geben kann, der zur Beantwortung der Frage, wann etwas als bezeugt im Sinne von gesichert gilt, anwendbar wäre - es ist stets eine Einzelfallprüfung notwendig. [4]

Ein anderes potentielles Problem: "zeitliche und örtliche Nähe zum Geschehen". Liegt A, der ganz nah dabei dabei und anschließend eine "Reportage" schreibt, prinzipiell richtiger als der entferntere B? Oder besteht bei A eine höhere Wahrscheinlichkeit, persönlich involviert zu sein? Ist es nützlich, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, über Tatsachenbehauptungen reflektieren zu können?

Ein Haken an der Sache ist sicherlich gerade bei geisteswissenschaftlichen Sachverhalten, die sich der experimentellen Reproduzierbarkeit entziehen, der erreichbare Grad von "Sicherheit". Für Freizeitzwecke - wozu ich dieses Forum rechnen muss - bin ich in der Regel zu Zugeständnissen bereit, wenn mehr nach Lage der Dinge nicht erreichbar ist [5]; den Vorwurf der Beliebigkeit [6] nehme ich insoweit in Kauf. Anders ausgedrückt: Ich halte die Darstellung eines Sachverhalts so lange für plausibel (und bin bereit, auf seiner Grundlage weiter zu diskutieren), bis diese Darstellung ganz oder teilweise falsifiziert worden ist. Andere mögen das anders handhaben.

Wo endet die Beliebigkeit im "richtigen Leben"? Sicher dort, wo an die Klärung der WAHR-FALSCH-Alternative handfeste Konsequenzen sozialer, rechtlicher usw. Art geknüpft werden.

So weit erstmal. Ich bitte um Vergebung, wenn meine Betrachtungsweise trivial erscheint. Aber die professionellen Quellenkritiker können mich ja gern ergänzen/verbessern.


[1] Als nicht sinnvolle Frage sehe ich an, wie man die Nichtexistenz von Etwas beweisen kann. Das ist nach meinen Dafürhalten logisch unmöglich und sollte deswegen weder unternommen noch gefordert werden.
[2] Den neuerdings vielzierten Topos der "Schwarmintelligenz" lasse ich mal beiseite.
[3] Oder wenn das Zeugnis A über soundsoviele Stationen die Dignität der Wikipedia bekommt.
[4] Aber auch insoweit keine Regel ohne Ausnahme: Es gehört zur Philosophie dieses Forums, dass Tatsachenbehauptungen/Thesen, die aus einer bestimmten Ecke kommen (Stichwort: "Revisionismus"), ungeprüft abgelehnt werden dürfen.
[5] Siehe http://www.geschichtsforum.de/515391-post1130.html
[6] Wie in http://www.geschichtsforum.de/374648-post301.html
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zum Problem der Quantifizierung: So wie vier Augen mehr sehen als zwei, könnte man sagen, dass zwei Zeugen (Quellen, Belege) zu ein und demselben Sachverhalt stärkeres Gewicht haben als einer.
Die "Zeugenzählerei" basiert auf archaischem Denken.

Im Alten Testament finden sich Zeugenregeln wie "Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist; aber auf eines Zeugen soll er nicht sterben" (Deut 17, 6) oder "Es soll kein einzelner Zeuge wider jemand auftreten über irgend eine Missetat oder Sünde, es sei welcherlei Sünde es sei, die man tun kann, sondern in dem Mund zweier oder dreier Zeugen soll die Sache bestehen" (Deut 19, 15).

Der Römer Plinius prägte hingegen die Regel "testes non numerantur sed ponderantur" ("Zeugen werden nicht gezählt, sondern gewogen" [Epistulae 2,12,5]). Nicht auf die Zahl der Zeugen kommt es an, sondern auf das Gewicht (2) ihrer Aussagen (1) und auf ihre Glaubwürdigkeit (3).

Drei Fragestellungen würde man voneinander unterscheiden:
(1) Was sagt der Zeuge überhaupt aus?
(2) Wie ergiebig ist die Aussage des Zeugen zum (Beweis-)Thema?
(3) Welchen Beweiswert hat die Aussage des Zeugen? (Glaubwürdigkeit, etc.).
 
Nicht auf die Zahl der Zeugen kommt es an, sondern auf das Gewicht (2) ihrer Aussagen (1) und auf ihre Glaubwürdigkeit (3).
Die "freie Beweiswürdigung" als Grundlage für die richterliche Überzeugung ist heute eine tragende Säule des deutschen Zivilprozesses (§ 286 ZPO: "Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei"; vgl. auch § 261 StPO).

Unter dem Einfluss Savignys 1846/49 in Preußen eingeführt, trat die f.B. an die Stelle vormals geltender "gesetzlicher Beweisregeln". In der damaligen Diskussion wurde großer Wert auf die Feststellung gelegt, dass mit "Überzeugung" keinesfalls die "conviction intime" des Richters gemeint sei - die könnte ja im Zweifelsfall zu Subjektivität und Willkür verkommen oder zur Ungleichheit vor dem Gesetz. Gemeint sei immer die "conviction raisonée", d.h. die Überzeugung des Urteilenden bildet sich ausschließlich aufgrund rationaler Erwägungen, insbesondere durch Anwendung der Regeln der Logik und der Wahrscheinlichkeit, letztere begründet durch Erfahrung. Die geforderte Rationalität wird gefördert durch die Verpflichtung zur Dokumentation: "In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind" (noch § 286 ZPO).

Was soll dieser juristische Kram zur Geisterstunde? könnte jetzt ein Skeptiker fragen. Wegen der offenkundigen Parallelen, meint Arnold [1]:
"Auch wenn es banal erscheinen mag, hat man doch die [historische] Quellenkritik nicht zu Unrecht mit den Methoden der Kriminalistik oder einer Zeugenbefragung vor Gericht verglichen. Denn in der Regel wird die Tendenz eines Autors (oder Zeugen) nicht offen, sondern nur durch eine subtile Befragung oder durch ein 'Kreuzverhör' der Aussagen erkennbar. Dies gilt naturgemäß auch für die Frage der Authentizität einer Quelle insgesamt."
[1] Der wissenschaftliche Umgang mit den Quellen. In: Goertz, Geschichte - ein Grundkurs. 3. Aufl. Reinbek 2007, S. 57.
 
Ursi hat diesen Thread geöffnet - vielen Dank! :winke:

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http://www.geschichtsforum.de/f82/schema-zur-quellenkritik-34009/
Mod aus

Ich würde nämlich gern einige Fragen, die in der etwas ungebärdigen Diskusssion in http://www.geschichtsforum.de/f30/historizit-t-jesu-von-nazareth-16041/ bisher stehen geblieben sind, angehen bzw. ins Allgemeine zerren. Beispiele:


Mit solchen und anderen sinnvollen Fragen [1] haben es ja nicht nur Historiker, sondern auch Philologen und anderes Gezücht zu tun.

Die dankenswerterweise verlinkte historicum.net: Einführung gibt zum Stichwort sehr wichtige Hinweise, besonders dort wo es um "innere Quellenkritik" geht, und hier wieder ist die Frage nach Tendenz bzw. Intention bzw. Interesse von großer Bedeutung.

Zum Problem der Quantifizierung: So wie vier Augen mehr sehen als zwei, könnte man sagen, dass zwei Zeugen (Quellen, Belege) zu ein und demselben Sachverhalt stärkeres Gewicht haben als einer. Zu dieser trivialen These lassen sich genau so triviale Bedingungen formulieren, z.B.: (a) Die Sehkraft/Wahrnehmungsfähigkeit beider muss annähernd gleichstark sein, und (b) beide Zeugen müssen - um sinnvoll "addiert" werden zu können - voneinander unabhängig sein [2].

zu a) Einem Zeugen, der seine Glaubwürdigkeit bei anderen Gelegenheiten unter Beweis gestellt hat, wird man jedoch eher glauben als zwei anderen, denen schon mal vermeidbare Fehler oder gar Falschaussagen nachgewiesen wurden.
zu b) Es nützt nichts, wenn ein Zeuge A von einem Zeugen B zitiert wird [3] - das ist halt nur "Hörensagen".

Es leuchtet ein, und so habe ich tela verstanden, dass es keinen (quantitativen) Algorithmus geben kann, der zur Beantwortung der Frage, wann etwas als bezeugt im Sinne von gesichert gilt, anwendbar wäre - es ist stets eine Einzelfallprüfung notwendig. [4]

Ein anderes potentielles Problem: "zeitliche und örtliche Nähe zum Geschehen". Liegt A, der ganz nah dabei dabei und anschließend eine "Reportage" schreibt, prinzipiell richtiger als der entferntere B? Oder besteht bei A eine höhere Wahrscheinlichkeit, persönlich involviert zu sein? Ist es nützlich, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, über Tatsachenbehauptungen reflektieren zu können?

Ein Haken an der Sache ist sicherlich gerade bei geisteswissenschaftlichen Sachverhalten, die sich der experimentellen Reproduzierbarkeit entziehen, der erreichbare Grad von "Sicherheit". Für Freizeitzwecke - wozu ich dieses Forum rechnen muss - bin ich in der Regel zu Zugeständnissen bereit, wenn mehr nach Lage der Dinge nicht erreichbar ist [5]; den Vorwurf der Beliebigkeit [6] nehme ich insoweit in Kauf. Anders ausgedrückt: Ich halte die Darstellung eines Sachverhalts so lange für plausibel (und bin bereit, auf seiner Grundlage weiter zu diskutieren), bis diese Darstellung ganz oder teilweise falsifiziert worden ist. Andere mögen das anders handhaben.

Wo endet die Beliebigkeit im "richtigen Leben"? Sicher dort, wo an die Klärung der WAHR-FALSCH-Alternative handfeste Konsequenzen sozialer, rechtlicher usw. Art geknüpft werden.

So weit erstmal. Ich bitte um Vergebung, wenn meine Betrachtungsweise trivial erscheint. Aber die professionellen Quellenkritiker können mich ja gern ergänzen/verbessern.


[1] Als nicht sinnvolle Frage sehe ich an, wie man die Nichtexistenz von Etwas beweisen kann. Das ist nach meinen Dafürhalten logisch unmöglich und sollte deswegen weder unternommen noch gefordert werden.
[2] Den neuerdings vielzierten Topos der "Schwarmintelligenz" lasse ich mal beiseite.
[3] Oder wenn das Zeugnis A über soundsoviele Stationen die Dignität der Wikipedia bekommt.
[4] Aber auch insoweit keine Regel ohne Ausnahme: Es gehört zur Philosophie dieses Forums, dass Tatsachenbehauptungen/Thesen, die aus einer bestimmten Ecke kommen (Stichwort: "Revisionismus"), ungeprüft abgelehnt werden dürfen.
[5] Siehe http://www.geschichtsforum.de/515391-post1130.html
[6] Wie in http://www.geschichtsforum.de/374648-post301.html


Den "Mega-Thread" die "Historizität von Jesu" lese ich nur sporadisch und dann immer wieder mit Erstaunen, aber auch mit Verständnis. Relegionsnahe Themen erhitzen die Gemüter.

Natürlich kann man sich Zitate um die "Ohren schlagen", Übersetzungen und deren Interpretation, Statistiken etc. und natürlich ist ein Diskussionsforum nicht der Ort bzw. das richtige Medium, um hochkomplexe historische Fragestellungen inkl. quellenkritischer Analyse darzustellen.

Nun zu Deinen sechs formulierten Fragen. Sei bitte so freundlich und sieh mir nach, daß ich nur ein einfacher Historiker bin, denn die Fragen die Du formulierst sind tw. philosophischer Natur. Versuch:

ad 1)

Richtig! Wenn ich eine "Nichtexistenz" beweisen möchte, muß ich nachweisen können, was die Kategorie "Nichtexistenz" ist. Also müßte auch der Nachweis erbracht werden, was "Existenz" ist, denn nur dann könnte ich selbige verneinen. Eine philosophische Fragestellung und m.E. mit keinerlei Bezug zur historischen Quellenkritik.

Dann würden wir fast 3000 Jahre Philosophiegeschichte "anfassen" müssen. Ich denke, per se absurd.

ad 2)

Dazu könnte ich sowieso nichts sinnvolles schreiben.

ad 3)

Aus meiner Sicht unbedeutend. Ob etwas die Diginität von Wikipedia hat oder nicht, ist aus quellenkritisch historischer Sicht vollkommen unwichtig.

Es sei denn, Wikipedia verlinkt auf Primärquellen, die allerdings dann auch einer quellenkritischen Prüfung unterzogen werden müssen. Darüber hinaus glaube ich keiner Quelle, wenn es um grundsätzliche historische mich interessierende Fragestellungen geht, die ich nicht selbst eingesehen und kritisch bewertet habe. Mit der Einschränkung, ich sollte auch in der Lage sein, die Quelle zu bewerten, also ich sollte meine quellenkritische Fähigkeiten auch selbstkritisch beurteilen können.

Ich traue mir zu, nach Quellenstudium festzustellen, ob ein Schreiben aus der 2. Hälfte des 19. Jh. inhaltlich passt und somit verwertbar ist,:


- Ort des Archives, Archivhistorie
- Schreibstil
- Anreden
- paßt es in die vorhandene Korrespondenz
- Konvoluthistorie
- Systematik des Findbuches
- Akteneinsichtshistorie
- Stempel
- Faltung des Schriftstückes
- Kontrasignaturen
- Bearbeitungsvermerke
- etc.

:winke:

Wäre das Schriftstück aber historisch sehr wichtig, würde ich aber vor Publikation naturwissenschaftlich gutachterliche Äußerungen einholen und natürlich den Rat von Kollegen.

Wikipedia ist gut und schön für einen ersten Überblick, aber ist aus historischer Sicht niemals "belastbar und nachhaltig" aussagekräftig.

ad 4)

Revisionismus, eine unklare Kategorie. Wenn Du unter Revisionismus, Revisionismus des Nationalsozialismus subsumierst, dann hat das Forum doch klare Regeln.

:friends:

ad 5)

Siehe http://www.geschichtsforum.de/515391-post1130.html

Prima facie, disqualifiziert.

ad 6)

Vllt. nur so einfach dahin geschrieben, kann bei einem emotionsgeladenem Thema schon mal passieren.

M.
 
Zuletzt bearbeitet:
...ich sollte meine quellenkritische Fähigkeiten auch selbstkritisch beurteilen können.
Ich traue mir zu, nach Quellenstudium festzustellen, ob ein Schreiben aus der 2. Hälfte des 19. Jh. inhaltlich passt und somit verwertbar ist ...
Wäre das Schriftstück aber historisch sehr wichtig, würde ich aber vor Publikation naturwissenschaftlich gutachterliche Äußerungen einholen und natürlich den Rat von Kollegen. ...
Die erste Aussage finde ich sehr sympathisch und kann mich ihr nur anschließen. :winke:

Die dritte kann man optimistisch so paraphrasieren: Je größer und je seriöser und je heterogener die Gemeinschaft derer ist, die etwas von der Sache verstehen ("scientific community" - passt ansatzweise auch auf Foren wie dieses!), desto größer ist auch die Chance, Fehlinterpretationen oder gar Fälschungen auf die Spur zu kommen - vorausgesetzt, man bittet die anderen um Feedback, so wie Du das vorhast.

Der zweite Punkt betrifft das eigentliche Werkzeug von Historikern, und da fällt einem als Gegenbeispiel zwangsläufig die "Hitler-Tagebücher"-Affäre ein, wo Leute tätig waren, deren fachlicher Blick aus mehreren Gründen getrübt war. Positiv auch hier: Was das "Geschäftsschriftgut: Urkunden und Akten" betrifft [1], stehen uns heute Prüf-Mittel zur Verfügung, die frühere Generationen entbehren mussten. (Zugleich sehen wir uns einer Situation gegenüber, nämlich der elektronisch-maschinellen Datenspeicherung, in der wiederum die Manipulationsmöglichkeiten sich potenzieren.)

Die Frage, wie ich einander widersprechende Aussagen (Zeugnisse, Urkunden usw.) bewerte, lässt sich mit Hilfe von Werkzeugen jedenfalls zu einem guten Teil beantworten, wenn bisweilen auch nicht vollständig. Das andere Problem ist schwieriger: Wie gehe ich mit der Tatsache bzw. dem Verdacht um, dass eine für die Entscheidung maßgebliche Aussage fehlt?

Verwaltungen etwa sammeln die Informationen, die sie zur Erfüllung ihres Auftrags für notwendig erachten; irgend jemand ordnet an, was nicht gesammelt oder irgendwann weggeworfen wird. Eine Geschichtsschreibung, die sich auf "Haupt- und Staatsaktionen" konzentriert, kann aber darauf vertrauen, dass das "Wesentliche", z.B. diplomatisches Geschäftsschriftgut, unter normalen Umständen erhalten bleibt, und wenn nicht am Ursprungsort, dann vielleicht anderswo.

Bekanntes Beispiel: Entscheidende Dokumente zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs fehlten in den Berliner Archiven, aber Fritz Fischer fand sie im Archivgut von anderen Ländern, von Gesandtschaften usw. Das ist so ein Fall, bei dem eine Verschwörungstheorie nicht ganz unplausibel ist, und natürlich lassen sich auch aus den Jahrhunderten davor entsprechende Defizite ausmachen. Wie gehe ich damit um?


[1] So die Kapitelüberschrift bei Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. 8. Aufl. Stuttgart 1976, S. 81-118; noch mehr zum Geschäftsschriftgut bringt Ernst Opgenoorth: Einführung in das Studium der neueren Geschichte. Frankfurt 1974, S. 93-148
 
Die erste Aussage finde ich sehr sympathisch und kann mich ihr nur anschließen. :winke:

Die dritte kann man optimistisch so paraphrasieren: Je größer und je seriöser und je heterogener die Gemeinschaft derer ist, die etwas von der Sache verstehen ("scientific community" - passt ansatzweise auch auf Foren wie dieses!), desto größer ist auch die Chance, Fehlinterpretationen oder gar Fälschungen auf die Spur zu kommen - vorausgesetzt, man bittet die anderen um Feedback, so wie Du das vorhast.

Der zweite Punkt betrifft das eigentliche Werkzeug von Historikern, und da fällt einem als Gegenbeispiel zwangsläufig die "Hitler-Tagebücher"-Affäre ein, wo Leute tätig waren, deren fachlicher Blick aus mehreren Gründen getrübt war. Positiv auch hier: Was das "Geschäftsschriftgut: Urkunden und Akten" betrifft [1], stehen uns heute Prüf-Mittel zur Verfügung, die frühere Generationen entbehren mussten. (Zugleich sehen wir uns einer Situation gegenüber, nämlich der elektronisch-maschinellen Datenspeicherung, in der wiederum die Manipulationsmöglichkeiten sich potenzieren.)

Die Frage, wie ich einander widersprechende Aussagen (Zeugnisse, Urkunden usw.) bewerte, lässt sich mit Hilfe von Werkzeugen jedenfalls zu einem guten Teil beantworten, wenn bisweilen auch nicht vollständig. Das andere Problem ist schwieriger: Wie gehe ich mit der Tatsache bzw. dem Verdacht um, dass eine für die Entscheidung maßgebliche Aussage fehlt?

Verwaltungen etwa sammeln die Informationen, die sie zur Erfüllung ihres Auftrags für notwendig erachten; irgend jemand ordnet an, was nicht gesammelt oder irgendwann weggeworfen wird. Eine Geschichtsschreibung, die sich auf "Haupt- und Staatsaktionen" konzentriert, kann aber darauf vertrauen, dass das "Wesentliche", z.B. diplomatisches Geschäftsschriftgut, unter normalen Umständen erhalten bleibt, und wenn nicht am Ursprungsort, dann vielleicht anderswo.

Bekanntes Beispiel: Entscheidende Dokumente zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs fehlten in den Berliner Archiven, aber Fritz Fischer fand sie im Archivgut von anderen Ländern, von Gesandtschaften usw. Das ist so ein Fall, bei dem eine Verschwörungstheorie nicht ganz unplausibel ist, und natürlich lassen sich auch aus den Jahrhunderten davor entsprechende Defizite ausmachen. Wie gehe ich damit um?


[1] So die Kapitelüberschrift bei Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. 8. Aufl. Stuttgart 1976, S. 81-118; noch mehr zum Geschäftsschriftgut bringt Ernst Opgenoorth: Einführung in das Studium der neueren Geschichte. Frankfurt 1974, S. 93-148


Zur zweiten und eigentlichen Frage. Zu dem von Dir angeführten Fall kann ich nichts schreiben - weil es mir nicht bekannt ist.

Was ich jetzt schreibe bezieht sich auf den Zeitraum ab 2. Hälfte 19 JH.

Bürokratische Organisationen haben bürokratische Strukturen und bürokratische Abläufe. Finde ich einen für meine Arbeit bedeutsamen Fund, muß ich den bürokratischen Weg, so wie er in der Aufbau- und Ablauforganisation der Institution vorgegeben war nachvollziehen. Also:

- externe Postvermerke (Briefmarke, Poststempel usw.)
- Posteingangsverzeichnis, so vorgeschrieben
- Bearbeitungsvermerk des Abteilungsleiters, Kontrasignatur, Bearbeitungsvermerk des "Vorzimmers" etc.
- Sachbearbeiter, auch hier Eingangsvermerk, Aktenzeichen, behördeninterne Vermerke, die Systematik so nicht offiziell geregelt, muß ich mir halt aus der Korrespondenz erarbeiten
- Zwischenstands- und Sachstandsberichte
- Korrespondenz mit anderen Institutionen*
- Abschlußberichte
- Ablagevermerke
- Archivierungsordnung
- Archivhistorie

* Je mehr Institutionen, desto besser.

Also ich habe über die Zollpolitik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik gearbeitet. Ich konnte immer guten gewissens davon ausgehen (jetzt bezogen WR im Kaiserreich die Vorgängerinstitutionen), daß Archivalien, die die Bearbeitungsvermerke, des Reichsfinanzministeruims, des Reichswirtschaftministeriums, des Reichsschatzministeriums, des Reichswirtschaftsrates, des Reichtagsausschusses, des Reichsrates etc. trugen auch verwendbar waren, bei außenpolitischen Involvierungen halt auch Notizen des AA und des Reichskanzleramtes. Natürlich erkennt man auch die individuellen Stile und Bearbeitungsvermerke der Abteilungsleiter und teilweise über die Jahre ihre Karriere (Beamte fallen ja nicht vom Himmel).

O.K. kein aufregendes Thema.

Ich mach ein Beispiel. Würde mir durch Zufall in den Akten des Militärkabinettes von W II. ein "Niki-Brief" in die Hände fallen der noch nicht publiziert ist und vllt. den Inhalt hat.

"Dear Niki,

I dislike Moltke, I think, this is the last time, we should finish this malaise.

Berlin, july 1914

Willy"

Dann würden alle Alarmglocken schrillen. Ohne gutachterlichen naturwissenschaftlichen Rat (Papier und Schriftanalyse, Analyse der Tinte etc.), Rat von Kollegen, situative Einordnung, Tagebucheintragungen der Adjudantur etc. wäre diese Archivalie nicht verwertbar.

Natürlich faken auch Geheimdienste Archivalien, aber dazu gibt es schon einen Thread:

http://www.geschichtsforum.de/f46/dr-konrad-morgen-27746/

Letztlich bleibt immer die Frage: "Cui bono?"

Gruß und danke für die Nachsicht!

M.
 
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