Arne schrieb:
Na ja... ..eigentlich interessiert mich dieses Thema so viel, wie die Neuwahl des Vorstands vom Kaninchenzüchterverein Klein-Ingersleben - aber wenn ich mich hier schon eingemischt habe, will ich mich bemühen ein vernünftiger Diskussionspartner zu sein..:rotwerd:
Arne: Mir fällt es auch schwer auf Deinen Beitrag zu antworten. Du stellst viele Fragen, die ich meine schon beantwortet zu haben. Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, erlaube ich mir nur zu den Punkten Stellung zu nehmen, die meiner Meinung nach noch einer Ausführung bedürfen. Falls wider Erwarten doch noch Fragen offen bleiben sollten, bin ich gerne bereit, auf diese auch ein zweites Mal einzugehen. Ich hoffe, dass Du mit dieser Vorgehensweise einverstanden bist.
Sollte es wirklich so simpel gewesen sein? Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube...:grübel:
Wäre es Berlin um Erhalt seiner Glaubwürdigkeit gegangen, hätte es den Rückversicherungsvertrag mindestens noch einmal verlängert. Immerhin hatte Kaiser Wilhelm II. dem russischen Botschafter in der Nacht zum 21.3.1890 die Verlängerung zugesagt. Ging es nur um das "bulgarische Problem" hätte man ja Russlands Angebot annehmen können, den Rückversicherungsvertrag ohne Geheimabkommen zu ratifizieren. Ein um Glaubwürdigkeit bemühtes Deutsches Reich, welches nach der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages gegenüber Moskau beteuerte, seine neue Außenpolitik sei keinesfalls als ein grundsätzlicher Politikwechsel zu Gunsten Londons zu verstehen, hätte es zudem vermieden, schon im Juli 1890 mit Großbritannien den Helgoland-Sansibar-Vertrag abzuschließen. Die Glaubwürdigkeitsprobleme lagen ganz auf der Seite der Nichtverlängerungs-Politik.
Du gehst ja ausführlich auf Bismarcks Hintergedanken und Strategien ein, aber was hat sich in den drei Jahren von 1887-1890 geändert, was eine Abkehr von der Strategie verursachte? Okay, Bismarck war nicht mehr da, Wilhelm II und Caprivi dachten anders in vielen Punkten- warum in Bezug zum Rückversicherungsvertrag? Was steckte alles dahinter? Was hatte man für Erfahrungen gemacht?
1889 lehnte England Bismarcks Bündnisangebot ab. Das Deutsche Reich war, um einer Isolierung zu entgehen, weiterhin auf einen Bündniskontakt zu Moskau angewiesen. Gerade deshalb war es auch 1890 noch besser über ein loses Neutralitätsbündnis mit dem Zaren zu verfügen als weder über ein Bündnis mit London noch über eins mit Moskau.
Arne schrieb:
Wie entwickelte sich das zwischen 1887 und 1890? Wer hatte Erfolg und wer fühlte sich zurückgesetzt? Wie sah das in der Praxis aus? Waren Italien und ÖU mit der Entwicklung zufrieden?
Der Orientdreibund, an dem Deutschland nicht beteiligt war, stand einer russischen Ausdehnung entgegen. Er sicherte Deutschland die Möglichkeit, den Frieden in Europa balancierend zu bewahren. Folge: um Moskau auszubalancieren benötigte London Berlin; Berlin war das diplomatische Zentrum Europas.
Arne schrieb:
Also weg von Rußland und Schmusekurs zu GB...
Die Annäherung an England war schon 1889 gescheitert. Die unübersehbare russische Abwendung vom Deutschen Reich ließ in der Zeit nach 1890 den Marktwert der Deutschen fallen. Nun brauchten diese ein Bündnis mit London. Folge: London löste Berlin als diplomatisches Zentrum ab.
Arne schrieb:
Das Zusatzprotokoll hätte entfallen können.
Dennoch wurde der Rückversicherungsvertrag - angeblich aus Glaubwürdigkeitsgründen - nicht unterzeichnet! Ganz offensichtlich ist das Glaubwürdigkeitsargument nur vorgeschoben.
Arne schrieb:
Tatsächlich nur blanke Rhetorik? Irgendwie liest sich das für mich wie die Gedanken eines Mannes, dem das Wasser bis zum Hals steht und der Angst hat. Angst vor einer kriegerischen Eskalation verbunden mit der Gefahr, seine Bündnispartner zu verlieren, weil man ein falsches Spiel gespielt hat. :grübel:
So hat man es verkauft. Doch stand dem Reich 1890 das Wasser tatsächlich bis zum Hals?Bestand wirklich die Gefahr seine Bündnispartner zu verlieren?:winke:
England hatte schon 1889 ein Verteidigungsbündnis mit DR abgelehnt. Frankreich war wegen der Annexion Elsaß-Lothringens nicht als Partner zu gewinnen. Letztlich bestand allenfalls die Gefahr, den österreichischen Partner im Konfliktfall mit dem russischen Partner austzutauschen. Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wäre dies nicht der schlechteste Tausch gewesen. Selbst wenn diese Gefahr bestand, hätte sie sich nur dann realisieren können, wenn es zum Krieg gekommen wäre. Der Rückversicherungsvertrag wirkte aber gerade einem solchen Krieg entgegen.
1) Hat Caprivi 1890 tatsächlich die 17 Jahre alte Erkenntnis so fahrlässig verworfen, mit einem Krieg gegen Frankreich oder gar einer deutschen Atlantikküste geliebäugelt?Wäre mir neu.
2) Welche Bedeutung hatte 1890 noch Moltke der Ältere? Er war schließlich 1888 aus dem Amt des Generalstabschefs verabschiedet worden (und starb 1891).Wenn man seit 1872 nicht auf ihn gehört hat, warum sollten seine Worte plötzlich 1890 Gewicht bekommen?
Nein, ich zweifele an deutschen Gebietsforderungen an Frankreich im Jahr 1890.
Zunächst einmal hat Caprivi aus der Erwartung, dass der nächste große europäische Krieg ein Volkskrieg sein wird, daraus geschlossen, dass man diesen Krieg eher mit den Österreichern zusammen führen kann und weniger mit den Russen. Ihm ging es weniger darum, mit Bündnissen den Frieden zu erhalten, als vielmehr darum, über kriegstaugliche Bündnisse zu verfügen. Und er hielt es für logisch, dass ein Bündnis, mit der eine Waffenbrüderschaft begründet wurde, politisch eine Interessengemeinschaft sein sollte. Von dieser zur Erwerbsgemeinschaft ist es nur noch ein kleiner Schritt ... vor allem dann, wenn man dem Aspekt der Friedenserhaltung nur einen so geringen Stellenwert einräumte wie Caprivi.
Was die Idee angeht, die außenpolitischen Probleme Deutschlands mit einem Angriffskrieg (beschönigend "Präventivkrieg" genannt) zu lösen, wurde diese von Moltke dem Älteren in der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) gegenüber Frankreich vehement vertreten. Diese Idee war im deutschen Militär stark verbreitet und nicht nur dort: sogar in Bismarcks Umgebung, in der Staatsbürokratie, im Auswärtigen Amt gab es Anhänger dieser Idee. Die Option des Angriffskrieges wurde in nahezu allen weiteren außenpolitischen Krisen bis 1914 von diesen Vertretern empfohlen - nicht nur im Hinblick auf Frankreich. So forderte Moltke - nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des Rückversicherungsvertrages (18.6.1887) am 30.11.1887 einen Angriffskrieg gegen Rußland zu führen (vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 126). Die Präventivkriegsidee gab es also auch in östlicher Richtung, verbunden mit der Vorstellung zusammen mit ÖU, I und GB Front gegen R zu machen.
Es bedurfte also 1890 keiner besonderen Hörigkeit Caprivis gegenüber Moltke dem Älteren um diesem die Idee eines Präventivkrieges in seinen außenpolitischen Überlegungen in Erinnerung zu rufen. Dem um ein kriegstaugliches Bündnis bemühten Ex-General Caprivi waren diese Vorstellungen sehr gut bekannt.
Immer wieder Fragen und Unklarheiten wenn man genauer hinguckt. Ich bin nicht davon überzeugt, daß sich das Problem "Kündigung des Rückversicherungsvertrages" in ein paar Schlagworten erledigen lassen kann. Schade, meine Chronik-Jahresbände beginnen erst 1900, sonst könnte man da die Entwicklung der drei Jahre schön nachblättern.
Es gibt aber auch Antworten auf die Fragen und Unklarheiten. Ich empfehle: Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 155 ff.
"Auf die entscheidende Frage, wie er sich zum Rückversicherungsvertrag stelle, antworteteer (Caprivi, Gandolf) mit entwaffnender Ehrlichkeit, er könne nicht >>mit fünf Glaskugeln spielen, er könne nur zwei Glaskugeln gleichzeitig halten.<<" (zitiert nach Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 156, unter Hinweis auf Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Band 2, S. 404).
Ziemlich ernüchternd, oder?