Außenpolitik von Bismarck

Brecht schrieb:
Lieber Heinz,
jetzt verdrehst du aber Ursache und Wirkung. Selbstverständlich liegt meist Zeit zwischen der Ursache und der daraus resultierenden Problematik. Nur ist es in der Geschichte sehr selten, dass auf ein Problem genau eine Ursache folgt. Zum Beispiel folgt auf den Versailler Vertrag nicht automatisch Hitler (danke für den schönen Vergleich vom grünen Punktgeber). Ein Reusltat ist meist die Summe vieler Ursachen und das beachtest du meist in deinen Argumentationen...
Das ist alles schön und gut, hat aber mit deiner Argumentation, dass die Auflösung des Rückversicherungsvertrages zum Zweifrontenkrieg im 1. WK führt, nichts zu tun. Der Beitrag weiter oben enthält einen Determinismus der so nicht zu halten ist...

Lieber Brecht,
was ist Determinismus?:confused: Ich habe Geschichte incht studiert und in unserem Häuschen im Odenwald, wo ich mich zur Zeit aufhalte, habe ich leider auch kein Wörterbuch vorliegen. Mit mir muß Du schon in deutscher Umgangssprache schreiben.
Frankreich wurde von Bismarck zu Recht nach dem Frieden von Frankfurt als ständiger Feind eingeschätzt. Also mußte Deutschland sich den Rücken freihalten und das geschah durch den Rückversicherungsvertrag. WII hat sich intelligenterweise auch nach mit seiner Flottenpolitik mit GB angelegt und sich so einen weiteren Feind geschaffen.
Ich würde den WK I und II zusammennehmen und als 30jährigen Krieg in Europa bezeichnen. Natürlich hatte der Verseiller Vertrag mit der Kriegsschuldfrage, den abgetretenen Gebieten und den Reperationen, die nach den verschiedenen Plänen zuletzt Youngplan, Auswirkungen auf die Innenpolitik in Deutschland. :grübel:
 
Arne schrieb:
Der Rückversicherungsvertrag vereinbarte ja Neutralität, ausser in zwei Fällen: Angriff F auf das DR und Angriff R auf ÖU.

Ich habe den Rückversicherungsvertrag so verstanden, daß:
- R bei einem Angriff F auf DR neutral bleiben muß,
- R bei einem Angriff DR auf F nicht zur Neutralität verpflichtet ist und F beistehen darf,
- DR bei einem Angriff ÖU auf R neutral bleiben muß,
- DR bei einem Angriff R auf ÖU nicht zur Neutralität verpflichtet ist und ÖU beistehen darf.

Hast Du oder einer der weiteren Diskutanten den Vertragswortlaut? Ich kenne leider nur knappe Inhaltswiedergaben.

In Bezug auf die Notwendigkeit der Vermeidung eines französischen Krieges stimme ich Dir vollkommen zu. Das DR hatte nichts von F zu gewinnen oder zu verlangen. Ich wollte auch nicht zum Ausdruck bringen, daß das Selbstvertrauen, einem französischen Angriff gewachsen zu sein, zu einer gleichgültigen Haltung gegen diese Gefahr Anlaß gegeben hätte. Ich gehe eher davon aus, daß die jeweiligen Entscheidungsträger des DR darauf vertrauten, F werde ohne Offensivverbündete das Risiko eines Angriffs auf das DR scheuen. Gleichgültig, ob das DR Defensivverbündete an seiner Seite hat.
 
Arne schrieb:
Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages wird heute viel zu oft als offensichtliche Dummheit und Versagen der Politiker angesehen, ohne die komplizierte politische Lage der Zeit zu beachten. Leider ist hohe Politik selten so durchsichtig, wie sich das auf den zwei Zeilen der BILD-Zeitung ausdrücken lässt.
Die Grundidee, die hinter dem - erst später von Bismarck - so genannten "Rückversicherungsvertrag" steckte, war wirklich simpel: jede noch so lose geknüpfte Verbindung zu Russland war wertvoller als ein völlig bindungsloser Zustand.
Arne schrieb:
Der Wikipedia-Artikel dazu führt meines Erachtens gut die näheren Umstände, die zu dieser Entscheidung führten, aus:

"Der Rückversicherungsvertrag war als Teil des Systems der Aushilfen in Bismarcks komplizierten Versuch, einen Krieg in Europa zu verhindern, eingebunden. Nach der Entlassung Bismarcks sah sich sein Nachfolger Leo von Caprivi außerstande, diese komplexe Politik erfolgreich fortzusetzen. Zudem plante eine „neue Generation“ im Auswärtigen Amt um Friedrich August von Holstein und Bernhard von Bülow die generelle Abkehr von Russland und einen Ausbau des Zweibundes zu einem mitteleuropäischen Machtblock, an den dann Großbritannien herangezogen werden sollte.

In diese Strategie passte es nicht, dass im Rückversicherungsvertrag Deutschland zwar nicht vor einem französischen Angriff geschützt war, Russland aber unter Verweis auf seine historischen Rechte auf dem Balkan, de facto das Recht zugesprochen wurde, Österreich-Ungarn anzugreifen.

Als Russland aufgrund der beschriebenen Vorteile 1890 auf eine Verlängerung des auslaufenden Vertrags drängte, weigerte sich das Deutsche Reich unter Wilhelm II. beharrlich. Selbst als Russland sich bereit erklärte, auf das „Ganz Geheime Zusatzprotokoll“ zu verzichten, behielt die deutsche Führung ihre Ansicht bei. Ursache für die deutsche Entscheidung war die Annahme, dass ein Abkommen mit Russland in Bezug auf den Balkan die deutsche Glaubwürdigkeit gegenüber den Verbündeten Österreich-Ungarn und Italien unterminiere. Die heutige Forschung vertritt allerdings die These, dass ein Vertrag mit Russland durchaus mit dem Dreibund vereinbar gewesen wäre."
Nicht nur die "neuere" Forschung bewertet dies so. Schon Bismarck, der den Dreibund und den Rückversicherungsvertrag zimmerte, sah dies genauso; ebenso Legionen von Historikern, die die Fehler der Wilhelminischen Aussenpolitik analysierten. Wo soll eigentlich der Widerspruch zwischen Dreibund und Rückversicherungsvertrag liegen?
Arne schrieb:
Beachtet das "die heutige Forschung vertritt die These", was soviel heißt, daß man selbst mit heutigem Kenntnisstand der Folgen, nur eine These vertritt und keine Feststellung zum "was wäre wenn" gefunden hat.
Die Aussage, dass nach Auffassung der aktuellen Forschung die Verpflichtungen des Rückversicherungsvertrages mit jenen des Dreibundes vereinbar waren, besagt, dass es keine überzeugenden Gründe für die gegenteilige These gibt. Mit anderen Worten: die damaligen Entscheidungsträger haben mit der Begründung von der Widersprüchlichkeit der übernommenen Bündnisverpflichtungen ihre eigentlichen Entscheidungsmotive verdeckt: Orientierung der Aussenpolitik am casus belli statt an der Kriegsverhinderung; Abbau der Komplexität des Bündnissystems zu Gunsten klarer Fronten, Anpassung der Bündnispolitik an den Volkswillen, Idee einer deutsch-österreichischen Interessengemeinschaft im Vorfeld einer im Kriegsfall bestehenden Waffenbrüderschaft, etc.
Arne schrieb:
Hätte man wirklich ohne Zögern zugunsten eines Nichtangriffspaktes mit Rußland seine beiden wichtigsten Verbündeten (die auch Beistand bei einem Angriff geleistet hätten!), verprellen sollen?
Zweibund und Dreibund wurden von Bismarck als Defensivbündnisse konstruiert. Sie sahen keine Bündnispflichten für den Fall eines Angriffs eines Verbündeten auf Russland vor.
Arne schrieb:
Was wäre bei einem französischen Angriff passiert?
In diesem Fall versprach der Rückversicherungsvertrag Russlands Neutralität. Schon im Vorfeld eines solchen Angriffs hätte die russische Neutralitätszusage die Chancen der Friedenswahrung erhöht: sie hätte infolge russischer Zurückhaltung Frankreichs Motivation, einen Angriffskrieg zu führen, gedämpft. Selbst wenn es dennoch zu einem Krieg gekommen wäre und der Zar seine Neutralitätszusage - auf Druck der russischen Öffentlichkeit - nur ein paar Monate lang hätte durchhalten können, wäre dieses Szenario für das Deutsche Reich immer noch vorteilhafter gewesen, als gleich zu Beginn eines Krieges gegen Frankreich UND Russland kämpfen zu müssen.
Arne schrieb:
Deutschland hätte allein dastehen können...?
Wirklich? Das war doch äusserst unwahrscheinlich! Die Verhinderung eines französisch-russischen Bündnisses lag auch im Interesse ÖU, da das Szenario eines Zweifrontenkrieges Deutschlands Fähigkeiten beschränkte, ÖU Beistand zu leisten. Zudem konnte ÖU die Ausschaltung Deutschlands nicht akzeptieren, da es damit rechnen musste, anschließend von Russland auseinandergenommen zu werden, ohne dass ihm dabei das zuvor ausgeschaltene Deutschland helfen konnte.
Arne schrieb:
Es ist vieles nicht so simpel, wie es scheint. Also Vorsicht mit der Verurteilung früherer Politikergenerationen, die zu den klügsten Köpfen ihrer Zeit gehörten und einen ganzen Beraterstab neben sich hatten.
Wie gesagt, die Grundidee des Rückversicherungsvertrages war durchaus simpel. Dass sich die "nächste Generation" gegen diesen entschied, lag weniger an deren Dummheit als an deren Glauben, Deutschland einer großartigen Zukunft entgegenführen zu können. Bekanntlich ist der Glaube, der nicht mit einsichtsvoller Klugheit verbunden ist, ein gefährliches Ding:

Bismarck wusste wie sehr die Deutschen ihren Nationalstaat auch dem (Kriegs-)Glück verdankten. Es hätte auch alles anders kommen können. Er wollte das glücklich Erreichte bewahren und deshalb auch den Frieden. Zu diesem Zweck versuchte er die Interessengegensätze der Großmächte auszunutzen und diese durch Bündnisse an das Deutsche Reich zu binden. Sein Bündnissystem war komplex und unüberschaubar. Genau diese Unberechenbarkeit hielt die Großmächte davon ab, zum großen europäischen Krieg, der alles in Frage stellen würde, zu schreiten.

Der "nächsten Generation" schien diese konservative Politik nicht zukunftsträchtig zu sein. Sie hielt das von Bismarck Geschaffene für selbstverständlich. Dem rasanten Wandel der Zeit und ihrem Kräftegefühl folgend war sie mehr als nur an der Erhaltung des Erreichten interessiert. Den Krieg hielten sie für unvermeidlich. Konsequenterweise orientierte sich ihre Aussenpolitik am casus belli. Das übernommene komplexe Bündnissystem wurde vereinfacht, seine Popularität stieg und die Fronten wurden überschaubarer.

Wohin dieser Prozess führte, zeigte sich bei der bosnischen Annexionskrise (Oktober 1908). Bismarck hatte gegenüber ÖU noch klargestellt, dass der Zweibund die Donaumonarchie allein vor einem russischen Angriff schützen sollte. Keineswegs dürfe sich Wien durch diesen zu einer aggressiven antirussischen Balkanpolitik ermutigt fühlen und im Falle eines provozierten russischen Angriffs mit deutscher Hilfe rechnen. Dem deutschen Generalstab verbot er zudem, gemeinsame Absprachen mit dem österreichisch-ungarischen Generalstab zu treffen. Die Militärs sollten gar nicht erst in eine Rolle gelangen, die sie in die Lage versetzt hätte, über den Bündnisfall zu bestimmen.
Von Bülow hingegen ermutigte im Vorfeld der bosnischen Annexionskrise eine aggressive österreichische Balkanpolitik. Zugleich legte Wilhelm II. die deutsche Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hände von Kaiser Franz-Josef, der im Falle eines Konfliktes mit Russland als preußischer Feldmarschall den Zeitpunkt der deutschen Mobilmachung zu bestimmen habe. Entsprechend knapp schrammte Europa 1908 an einem großen Krieg vorbei.
 
Interssante ausführliche Gedanken, Gandolf. Ich stimme auch in den wesentlichen Punkten zu, aber:

Gandolf schrieb:
Nicht nur die "neuere" Forschung bewertet dies so. Schon Bismarck, der den Dreibund und den Rückversicherungsvertrag zimmerte, sah dies genauso; ebenso Legionen von Historikern, die die Fehler der Wilhelminischen Aussenpolitik analysierten. Wo soll eigentlich der Widerspruch zwischen Dreibund und Rückversicherungsvertrag liegen?

Die Aussage, dass nach Auffassung der aktuellen Forschung die Verpflichtungen des Rückversicherungsvertrages mit jenen des Dreibundes vereinbar waren, besagt, dass es keine überzeugenden Gründe für die gegenteilige These gibt.

wenn das so ist, wie verstehst du dann den Satz von den Wikis:
Wikipedia schrieb:
Ursache für die deutsche Entscheidung war die Annahme, dass ein Abkommen mit Russland in Bezug auf den Balkan die deutsche Glaubwürdigkeit gegenüber den Verbündeten Österreich-Ungarn und Italien unterminiere.

Sollte der Verlust der Glaubwürdigkeit nur darin liegen, daß man "mit dem Gegner" Verträge schließt? Quasi ein rein moralisches Risiko unter Verbündeten, welches zugunsten klarer Fronten geklärt werden sollte?
Welche Interessen Italiens und ÖUs könnten hier angesprochen sein? (Meine Vermutungen, siehe Beitrag von 12.36 Uhr). Du kennst dich in diesem Komplex wohl besser aus. Rate mal...:cool:
 
Einen tatsächlichen Widerspruch zwischen dem Zweibundvertrag des DR mit ÖU und dem Rückversicherungsvertrag sehe ich nicht. Die Glaubwürdigkeitsproblematik dürfte eher aus Reibungen zwischen dem Rückversicherungsvertrag mitsamt seinem "ganz geheimen Zusatzprotokoll" und dem Mittelmeerübereinkommen in der Meerengenfrage herrühren.

Kurz zum Hintergrund: Der Zugang zum Schwarzen Meer - Dardanellen und Bosporus - wurde vom Osmanischen Reich kontrolliert und war für Kriegsschiffe gesperrt. Rußland hatte das Interesse, zumindest den Bosporus selbst zu kontrollieren und sich dadurch seiner weichen Flanke an der langen Schwarzmeerküste zu entledigen. GB, Italien und ÖU verfolgten mit ihrer Mittelmeerentente das Ziel, ein russisches Vordringen an den Bosporus zu verhindern und das schwächelnde Osmanische Reich in der Kontrolle der Meerengen zu halten. Die Mittelmeerentente war im Jahre 1887 unter entscheidender Mitwirkung Bismarcks zustandegekommen.

Das ganz geheime Zusatzprotokoll zum Rückversicherungsvertrag - ebenfalls aus dem Jahre 1887 - versprach Rußland deutsche Unterstützung diplomatischer und moralischer Art für den Fall, daß aus russischer Sicht die Notwendigkeit bestehe, die Verteidung des Zugangs zum Schwarzen Meer selbst zu übernehmen. Nach Bismarcks Auffassung trat diese Notwendigkeit ein, sobald der status-quo von einer dritten Macht verletzt wird. Festgeschrieben war dies aber nicht.

Caprivi hegte als Amtsnachfolger Bismarcks die Befürchtung, Rußland könne das Merkmal "Notwendigkeit" weit auslegen und ohne ernsthafte Verletzung des status-quo durch Dritte die Unterstützung des DR für einen Vorstoß an den Bosporus einfordern. Dies hätte für Caprivi die unerwünschte Konsequenz gehabt, sich zwischen Rußland oder der Mittelmeerentente entscheiden zu müssen und gegenüber der zurückgewiesenen Partei als vertragsbrüchig dazustehen. Vor diesem Hintergrund sah er die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages als möglichen Keim für Zweifel an der Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik an.
 
Arne schrieb:
Interssante ausführliche Gedanken, Gandolf. Ich stimme auch in den wesentlichen Punkten zu, aber:

wenn das so ist, wie verstehst du dann den Satz von den Wikis:

Sollte der Verlust der Glaubwürdigkeit nur darin liegen, daß man "mit dem Gegner" Verträge schließt? Quasi ein rein moralisches Risiko unter Verbündeten, welches zugunsten klarer Fronten geklärt werden sollte?
Das Glaubwürdigkeitsargument war nur vorgeschoben. In Wirklichkeit gab es kein Glaubwürdigkeitsproblem. Der defensive Bismarck verfolgte mit dem (Rückversicherungsvertrag inkl. Geheimabkommen) nur die Ziele, die er auch schon zuvor mit dem Dreikaiserabkommen (1873) und dem Dreikaiserbund (1881) verfolgte. Er wollte auf dem Balkan eine Linie ziehen, die den österreichischen vom russischen Einflussbereich trennte. Zudem sollte Russlands Aufmerksamkeit auf Konstantinopel gelenkt werden, damit Englands ausgleichendes Interesse zu Gunsten ÖU und I erhalten blieb. Bismarcks Politik bezweckte also die Erhaltung des Status Quo und in Wien, Rom, London und St. Petersburg wusste man auch, dass man seine Bündnispolitik in diesem konservativen Sinne zu interpretieren hatte. Glaubwürdigkeitsprobleme gab es bei dieser Konzeption gerade keine; diese stellten sich aber ein, nachdem Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag trotz vorheriger Zusage nicht verlängerte und Berlin sogar das russische Angebot ablehnten, den Rückversicherungsvertrag ohne Zusatzabkommen zu unterzeichnen.

Dass die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages aus dem Reichskanzleramt dennoch mit Glaubwürdigkeitsproblemen begründet wurde, war blanke Rhetorik. Hatte der in diplomatischen Kategorien denkende Bismarck die Deutsche Aussenpolitik noch als Spiel mit den fünf Kugeln beschrieben, von denen man drei im entscheidenden Augenblick in den Händen halten müsste, erklärte Ex-General Caprivi bei diesem Spiel stets nur zwei Kugeln in den Händen halten zu können. Ihm ging es um eine Vereinfachung des Bündnissystems zu Gunsten der Herausbildung der populären deutsch-österreichischen Interessengemeinschaft. Der Überlegung, dass Bismarcks Aussenpolitik gerade auf die Verhinderung eines großen europäischen Krieges ausgerichtet war, konnte Caprivi nichts positives abgewinnen. Ob der nächste Krieg komme oder nicht, hinge nicht allein vom DR ab. Die Aufgabe der Diplomatie sei es nicht, das ohnehin nicht zu Verhindernde zu verhindern zu versuchen, sondern ein Bündnissystem zu schaffen, dass im (Präventiv-)Kriegsfall funktioniert.
Arne schrieb:
Welche Interessen Italiens und ÖUs könnten hier angesprochen sein? (Meine Vermutungen, siehe Beitrag von 12.36 Uhr). Du kennst dich in diesem Komplex wohl besser aus. Rate mal...:cool:
Hm... wenn ich raten wollte, wäre ich im Rateforum.:D Allerdings sind mir in Deinem 12.36er Beitrag ein paar Fehler aufgefallen, die möglicherweise Deine Bewertung des Rückversicherungsvertrages berühren:
Arne 20.4.06 12.36 Uhr schrieb:
Der Rückversicherungsvertrag vereinbarte ja Neutralität, ausser in zwei Fällen: Angriff F auf DR ...
Die Ausnahme von der Neutralitätspflicht im Westen galt für einen deutschen Angriff auf Frankreich. In diesem Fall musste Berlin seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) mit einer Intervention Russlands zu Gunsten Frankreichs rechnen.
Arne 20.4.06 12.36 Uhr schrieb:
Es mag sein, daß man in D keine große Angst vor einem Krieg nur gegen Frankreich hatte - aber ist es nicht besser jeden Krieg zu vermeiden, als ihn möglich werden zulassen?
Darum ging es ja Bismarck: seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) hatte er verstanden, dass Deutschland auf einen (Präventiv-)Krieg gegen Frankreich verzichten musste, da eine weitere Schwächung Frankreichs das europäische Gleichgewicht zerstört hätte. UND wenn den Franzosen mit dem Rückversicherungsvertrag erst einmal der potentiell vorhandene russische Bündnispartner neutralisiert wurde, musste mit einem französischen Angriff auf Deutschland vernünftigerweise auch nicht gerechnet werden, es sei denn Paris wollte unbedingt Selbstmord begehen.
Arne 20.4.06 12.36 Uhr schrieb:
Gegen F gab es keine Gebietsforderungen, im Gegenteil, man war in D am erhalt des Status Quo interessiert.
Bismarck war am Erhalt des Status Quo interessiert; das deutsche Militär nicht.

Als sich Frankreich vom harten 1871er Friedensvertrag unerwartet schnell erholte, forderte Moltke der Ältere Frankreich noch einmal anzugreifen und zu schlagen, bevor sich seine neuen Kräfte schädlich für Deutschland auswirken konnten, und diesesmal große Gebiete Nordfrankreichs zu annektieren, so dass Frankreich nie wieder Krieg gegen Deutschland führen konnte. Die Idee, Frankreich (präventiv) anzugreifen, um französische Gebiete zu annektieren und Frankreich künftig als europäischen Machtfaktor auszuschalten, existierte bis zum Ersten WK fort und spielte in der Julikrise 1914 eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Bismarck verwarf diese Idee, als sich in der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) zeigte, dass die anderen europäischen Großmächte eine solche Vorgehensweise nicht akzeptieren und zu Gunsten Frankreichs intervenieren würden. Aus diesem "Lehrstück für die Zukunft" zog er gerade die Konsequenz, in einem Kriegsfall mit Frankreich allenfalls die Neutralität Englands und Russlands erreichen zu können.
 
Zuletzt bearbeitet:
Na ja... ..eigentlich interessiert mich dieses Thema so viel, wie die Neuwahl des Vorstands vom Kaninchenzüchterverein Klein-Ingersleben - aber wenn ich mich hier schon eingemischt habe, will ich mich bemühen ein vernünftiger Diskussionspartner zu sein..:rotwerd:

Steigen wir mal ein:
Gandolf schrieb:
Das Glaubwürdigkeitsargument war nur vorgeschoben.
Sollte es wirklich so simpel gewesen sein? Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube...:grübel:

Du gehst ja ausführlich auf Bismarcks Hintergedanken und Strategien ein, aber was hat sich in den drei Jahren von 1887-1890 geändert, was eine Abkehr von der Strategie verursachte? Okay, Bismarck war nicht mehr da, Wilhelm II und Caprivi dachten anders in vielen Punkten- warum in Bezug zum Rückversicherungsvertrag? Was steckte alles dahinter? Was hatte man für Erfahrungen gemacht?

Ich muß mich jetzt am Wiki-Artikel langhangeln. Stellen wir erstmal die beiden Hauptvertragspunkte noch einmal fest:

1)
Wiki schrieb:
Der erste Teil des auf drei Jahre geschlossenen Geheimabkommens vom 18.06.1887 verpflichtete beide Parteien zu wohlwollender Neutralität im Kriegsfall. Davon ausgenommen waren ein deutscher Angriffskrieg gegen Frankreich und ein russischer Angriffskrieg gegen Österreich-Ungarn. Weiterhin erkannte das Deutsche Reich die historischen Rechte Russlands auf dem Balkan, insbesondere in Bulgarien, an.
(hier war mein Passus "französischer Angriff auf Deutschland" falsch. Sorry!)

2) Der "ganz geheime Teil"
Wiki schrieb:
Im zweiten Teil, dem „Ganz Geheimen Zusatzprotokoll“, sicherte Deutschland Russland moralische und diplomatische Unterstützung für den Fall zu, dass Russland es für nötig erachte, seinen Zugang zum Mittelmeer zu verteidigen.

Zur Problematik 1887 wird ausgeführt: "De facto erkannte Bismarck damit das russische Recht zum Vordringen an die Meerengen an. Um der damit verbundenen Kriegsgefahr zwischen Russland und den Mächten, die an einem Erhalt des Status quo auf dem Balkan interessiert waren (v. a. GB und Österreich-Ungarn), die Spitze zu nehmen, war der deutsche Reichskanzler maßgeblich am Abschluss der Mittelmeerentente beteiligt, die ein „russisches Wagnis“ auf dem Balkan und in der Meerengenfrage verhindern sollte.

Das "Orient-Drei-Bündnis" war ein Bündnispakt zwischen GB, ÖU und I, für den Fall, dass die bestehenden Verhältnisse auf dem Balkan und im übrigen Mittelmeerraum bedroht werden. (-> http://de.wikipedia.org/wiki/Mittelmeerentente)

Wie entwickelte sich das zwischen 1887 und 1890? Wer hatte Erfolg und wer fühlte sich zurückgesetzt? Wie sah das in der Praxis aus? Waren Italien und ÖU mit der Entwicklung zufrieden?

Wiki schrieb:
Der Rückversicherungsvertrag war als Teil des Systems der Aushilfen in Bismarcks komplizierten Versuch, einen Krieg in Europa zu verhindern, eingebunden. Nach der Entlassung Bismarcks sah sich sein Nachfolger Leo von Caprivi außerstande, diese komplexe Politik erfolgreich fortzusetzen. Zudem plante eine „neue Generation“ im Auswärtigen Amt um F. A. von Hollstein und Bernhard von Bülow die generelle Abkehr von Russland und einen Ausbau des Zweibundes zu einem mitteleuropäischen Machtblock, an den dann Großbritannien herangezogen werden sollte.
In diese Strategie passte es nicht, dass im Rückversicherungsvertrag Deutschland zwar nicht vor einem französischen Angriff geschützt war, Russland aber unter Verweis auf seine historischen Rechte auf dem Balkan, de facto das Recht zugesprochen wurde, Österreich-Ungarn anzugreifen.
Also weg von Rußland und Schmusekurs zu GB...

Wiki schrieb:
Als Russland aufgrund der beschriebenen Vorteile 1890 auf eine Verlängerung des auslaufenden Vertrags drängte, weigerte sich das Deutsche Reich unter Wilhelm II. beharrlich. Selbst als Russland sich bereit erklärte, auf das „Ganz Geheime Zusatzprotokoll“ zu verzichten, behielt die deutsche Führung ihre Ansicht bei. Ursache für die deutsche Entscheidung war die Annahme, dass ein Abkommen mit Russland in Bezug auf den Balkan die deutsche Glaubwürdigkeit gegenüber den Verbündeten Österreich-Ungarn und Italien unterminiere.

Das Zusatzprotokoll hätte entfallen können. Wir erinnern uns: Da geht es um die Interessensphären auf dem Balkan, explizit Bulgarien. Hat sich da eine Verschärfung des Gegensatzes OÜ zu Rußland zwischen 1887 und 1890 entwickelt? Der Rückversicherungsvertrag war bis 1896 geheim. Was wußten ÖU und Italien eigentlich davon? Gab es vielleicht den Fall, daß sich eines dieser Länder über mangelnde deutsche Unterstützung im Konflikt mit Rußland wunderte oder gar beschwerte ohne zu wissen, woher die deutsche Zurückhaltung resultierte?

1887 wurde Ferdinand von Coburg-Gotha neuer Bulgarischer Fürst, nachdem sein Vorgänger, Alexander von Battenberg durch einen von Rußland unterstützten Aufstand gestürzt worden war. Er hatte eben (lt. Wiki) "die Serben besiegt".
->http://de.wikipedia.org/wiki/Bulgarien#T.C3.BCrkische_Herrschaft_und_Unabh.C3.A4ngigkeit
Was war da los? Serbische Kräfte im Inneren? Oder gar ein Krieg gegen das neue, unabhängige Serbien? Ich finde da nichts - Wer kennt sich mit der bulgarischen Geschichte aus? Wie stand ÖU zu den Vorgängen dort? Gefiel es den Österreichern, was sich dort tat?


Gandolf schrieb:
Dass die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages aus dem Reichskanzleramt dennoch mit Glaubwürdigkeitsproblemen begründet wurde, war blanke Rhetorik. Hatte der in diplomatischen Kategorien denkende Bismarck die Deutsche Aussenpolitik noch als Spiel mit den fünf Kugeln beschrieben, von denen man drei im entscheidenden Augenblick in den Händen halten müsste, erklärte Ex-General Caprivi bei diesem Spiel stets nur zwei Kugeln in den Händen halten zu können. Ihm ging es um eine Vereinfachung des Bündnissystems zu Gunsten der Herausbildung der populären deutsch-österreichischen Interessengemeinschaft. Der Überlegung, dass Bismarcks Aussenpolitik gerade auf die Verhinderung eines großen europäischen Krieges ausgerichtet war, konnte Caprivi nichts positives abgewinnen. Ob der nächste Krieg komme oder nicht, hinge nicht allein vom DR ab. Die Aufgabe der Diplomatie sei es nicht, das ohnehin nicht zu Verhindernde zu verhindern zu versuchen, sondern ein Bündnissystem zu schaffen, dass im (Präventiv-)Kriegsfall funktioniert.
Tatsächlich nur blanke Rhetorik? Irgendwie liest sich das für mich wie die Gedanken eines Mannes, dem das Wasser bis zum Hals steht und der Angst hat. Angst vor einer kriegerischen Eskalation verbunden mit der Gefahr, seine Bündnispartner zu verlieren, weil man ein falsches Spiel gespielt hat. :grübel:

Gandolf schrieb:
Bismarck war am Erhalt des Status Quo interessiert; das deutsche Militär nicht.
Als sich Frankreich vom harten 1871er Friedensvertrag unerwartet schnell erholte, forderte Moltke der Ältere Frankreich noch einmal anzugreifen und zu schlagen, bevor sich seine neuen Kräfte schädlich für Deutschland auswirken konnten, und diesesmal große Gebiete Nordfrankreichs zu annektieren, so dass Frankreich nie wieder Krieg gegen Deutschland führen konnte. Die Idee, Frankreich (präventiv) anzugreifen, um französische Gebiete zu annektieren und Frankreich künftig als europäischen Machtfaktor auszuschalten, existierte bis zum Ersten WK fort und spielte in der Julikrise 1914 eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Bismarck verwarf diese Idee, als sich in der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) zeigte, dass die anderen europäischen Großmächte eine solche Vorgehensweise nicht akzeptieren und zu Gunsten Frankreichs intervenieren würden. Aus diesem "Lehrstück für die Zukunft" zog er gerade die Konsequenz, in einem Kriegsfall mit Frankreich allenfalls die Neutralität Englands und Russlands erreichen zu können.

1) Hat Caprivi 1890 tatsächlich die 17 Jahre alte Erkenntnis so fahrlässig verworfen, mit einem Krieg gegen Frankreich oder gar einer deutschen Atlantikküste geliebäugelt? Wäre mir neu.
2) Welche Bedeutung hatte 1890 noch Moltke der Ältere? Er war schließlich 1888 aus dem Amt des Generalstabschefs verabschiedet worden (und starb 1891).Wenn man seit 1872 nicht auf ihn gehört hat, warum sollten seine Worte plötzlich 1890 Gewicht bekommen?

Nein, ich zweifele an deutschen Gebietsforderungen an Frankreich im Jahr 1890.

Immer wieder Fragen und Unklarheiten wenn man genauer hinguckt. Ich bin nicht davon überzeugt, daß sich das Problem "Kündigung des Rückversicherungsvertrages" in ein paar Schlagworten erledigen lassen kann. Schade, meine Chronik-Jahresbände beginnen erst 1900, sonst könnte man da die Entwicklung der drei Jahre schön nachblättern. :(
 
Ein Einwurf von der Seitenlinie:

Ich habe mal die Ansicht gelesen, die von Bismarck wesentlich mitgetragene Schutzzollpolitik, die dem russ. Adel die Weizenabsatzgebiete nahm, hätte zur Abwendung Rußlands mehr beigetragen als alles andere.
Insbesondere mehr als die "Nichtverängerung" des Rückversicherungsvertrags.

Grüße Repo
 
Was schreibt eigentlich unser letzter Kaiser dazu im Kapitel zur Amtszeit Caprivis:

"Sehr bald kam die Frage der Verlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland. Caprivi erklärte, ihn schon in Rücksicht auf Österreich nicht mehr erneuern zu können, da die darin enthaltene Spitze gegen Östereich bei seinem kaum vermeidbaren Bekanntwerden in Wien zu recht unangenehmen Konsequenzen zu führen geeignet sei. So wurde der Vertrag hinfällig. Meiner Ansicht nach hatte er seinen Hauptwert damals schon verloren, da die Russen doch nicht mehr mit dem Herzen dahinter standen. In dieser Auffassung bestärkte mich eine Denkschrift des Unterstaatssekretärs Grafen Berchem, eines Mitarbeiters des Fürsten Bismarcks."

Quelle: KWII "Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 - 1918", Köhler, Leipzig und Berlin 1922
 
Dank Timos Hilfe, weiß ich nun näheres zur Bulgarischen Krise, die ein Grund zum Abschluß des Rückversicherungsvertrages war:
http://de.wikipedia.org/wiki/Serbisch-Bulgarischer_Krieg

Wenn ich das richtig kurz zusammenfasse, gab es also diese Kriege und Krise, wo am Schluß Rußland als Verlierer und ÖU eher als Gewinner dastand. GB lasse ich mal aussen vor.
In dieser Situation, nach dem Zerbrechen des Drei-Kaiser-Bündnisses, schließt D einen geheimen Vertrag mit R ab, in dem Rußland Rechte an Bulgarien zuerkannt werden, um das es gerade fast einen Krieg der Großmächte gegeben hätte. Deutschlands Verbündeter(!) ÖU weiß davon nichts.

Also das erscheint mir schon als nachvollziehbarer Grund für Caprivis Bedenken, oder etwa nicht?
 
Arne schrieb:
Meiner Ansicht nach hatte er seinen Hauptwert damals schon verloren, da die Russen doch nicht mehr mit dem Herzen dahinter standen. In dieser Auffassung bestärkte mich eine Denkschrift des Unterstaatssekretärs Grafen Berchem, eines Mitarbeiters des Fürsten Bismarcks."

Quelle: KWII "Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 - 1918", Köhler, Leipzig und Berlin 1922

Seit wann wird Politik mit dem Herzen gemacht? Ich habe immer gedacht, dass man Politik mit dem Verstand machen sollte?:confused:
 
heinz schrieb:
Seit wann wird Politik mit dem Herzen gemacht? Ich habe immer gedacht, dass man Politik mit dem Verstand machen sollte?:confused:

Ich würde die Formulierung von SM mal so interpretieren, daß er befürchtete, daß sich die Russen ggfl. nicht mehr an den Vertrag halten würden, weil sie nicht mehr vom Nutzen überzeugt waren.
 
Arne schrieb:
Na ja... ..eigentlich interessiert mich dieses Thema so viel, wie die Neuwahl des Vorstands vom Kaninchenzüchterverein Klein-Ingersleben - aber wenn ich mich hier schon eingemischt habe, will ich mich bemühen ein vernünftiger Diskussionspartner zu sein..:rotwerd:
Arne: Mir fällt es auch schwer auf Deinen Beitrag zu antworten. Du stellst viele Fragen, die ich meine schon beantwortet zu haben. Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, erlaube ich mir nur zu den Punkten Stellung zu nehmen, die meiner Meinung nach noch einer Ausführung bedürfen. Falls wider Erwarten doch noch Fragen offen bleiben sollten, bin ich gerne bereit, auf diese auch ein zweites Mal einzugehen. Ich hoffe, dass Du mit dieser Vorgehensweise einverstanden bist.
Sollte es wirklich so simpel gewesen sein? Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube...:grübel:
Wäre es Berlin um Erhalt seiner Glaubwürdigkeit gegangen, hätte es den Rückversicherungsvertrag mindestens noch einmal verlängert. Immerhin hatte Kaiser Wilhelm II. dem russischen Botschafter in der Nacht zum 21.3.1890 die Verlängerung zugesagt. Ging es nur um das "bulgarische Problem" hätte man ja Russlands Angebot annehmen können, den Rückversicherungsvertrag ohne Geheimabkommen zu ratifizieren. Ein um Glaubwürdigkeit bemühtes Deutsches Reich, welches nach der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages gegenüber Moskau beteuerte, seine neue Außenpolitik sei keinesfalls als ein grundsätzlicher Politikwechsel zu Gunsten Londons zu verstehen, hätte es zudem vermieden, schon im Juli 1890 mit Großbritannien den Helgoland-Sansibar-Vertrag abzuschließen. Die Glaubwürdigkeitsprobleme lagen ganz auf der Seite der Nichtverlängerungs-Politik.
Du gehst ja ausführlich auf Bismarcks Hintergedanken und Strategien ein, aber was hat sich in den drei Jahren von 1887-1890 geändert, was eine Abkehr von der Strategie verursachte? Okay, Bismarck war nicht mehr da, Wilhelm II und Caprivi dachten anders in vielen Punkten- warum in Bezug zum Rückversicherungsvertrag? Was steckte alles dahinter? Was hatte man für Erfahrungen gemacht?
1889 lehnte England Bismarcks Bündnisangebot ab. Das Deutsche Reich war, um einer Isolierung zu entgehen, weiterhin auf einen Bündniskontakt zu Moskau angewiesen. Gerade deshalb war es auch 1890 noch besser über ein loses Neutralitätsbündnis mit dem Zaren zu verfügen als weder über ein Bündnis mit London noch über eins mit Moskau.
Arne schrieb:
Wie entwickelte sich das zwischen 1887 und 1890? Wer hatte Erfolg und wer fühlte sich zurückgesetzt? Wie sah das in der Praxis aus? Waren Italien und ÖU mit der Entwicklung zufrieden?
Der Orientdreibund, an dem Deutschland nicht beteiligt war, stand einer russischen Ausdehnung entgegen. Er sicherte Deutschland die Möglichkeit, den Frieden in Europa balancierend zu bewahren. Folge: um Moskau auszubalancieren benötigte London Berlin; Berlin war das diplomatische Zentrum Europas.
Arne schrieb:
Also weg von Rußland und Schmusekurs zu GB...
Die Annäherung an England war schon 1889 gescheitert. Die unübersehbare russische Abwendung vom Deutschen Reich ließ in der Zeit nach 1890 den Marktwert der Deutschen fallen. Nun brauchten diese ein Bündnis mit London. Folge: London löste Berlin als diplomatisches Zentrum ab.
Arne schrieb:
Das Zusatzprotokoll hätte entfallen können.
Dennoch wurde der Rückversicherungsvertrag - angeblich aus Glaubwürdigkeitsgründen - nicht unterzeichnet! Ganz offensichtlich ist das Glaubwürdigkeitsargument nur vorgeschoben.
Arne schrieb:
Tatsächlich nur blanke Rhetorik? Irgendwie liest sich das für mich wie die Gedanken eines Mannes, dem das Wasser bis zum Hals steht und der Angst hat. Angst vor einer kriegerischen Eskalation verbunden mit der Gefahr, seine Bündnispartner zu verlieren, weil man ein falsches Spiel gespielt hat. :grübel:
So hat man es verkauft. Doch stand dem Reich 1890 das Wasser tatsächlich bis zum Hals?Bestand wirklich die Gefahr seine Bündnispartner zu verlieren?:winke:
England hatte schon 1889 ein Verteidigungsbündnis mit DR abgelehnt. Frankreich war wegen der Annexion Elsaß-Lothringens nicht als Partner zu gewinnen. Letztlich bestand allenfalls die Gefahr, den österreichischen Partner im Konfliktfall mit dem russischen Partner austzutauschen. Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wäre dies nicht der schlechteste Tausch gewesen. Selbst wenn diese Gefahr bestand, hätte sie sich nur dann realisieren können, wenn es zum Krieg gekommen wäre. Der Rückversicherungsvertrag wirkte aber gerade einem solchen Krieg entgegen.
1) Hat Caprivi 1890 tatsächlich die 17 Jahre alte Erkenntnis so fahrlässig verworfen, mit einem Krieg gegen Frankreich oder gar einer deutschen Atlantikküste geliebäugelt?Wäre mir neu.
2) Welche Bedeutung hatte 1890 noch Moltke der Ältere? Er war schließlich 1888 aus dem Amt des Generalstabschefs verabschiedet worden (und starb 1891).Wenn man seit 1872 nicht auf ihn gehört hat, warum sollten seine Worte plötzlich 1890 Gewicht bekommen?
Nein, ich zweifele an deutschen Gebietsforderungen an Frankreich im Jahr 1890.
Zunächst einmal hat Caprivi aus der Erwartung, dass der nächste große europäische Krieg ein Volkskrieg sein wird, daraus geschlossen, dass man diesen Krieg eher mit den Österreichern zusammen führen kann und weniger mit den Russen. Ihm ging es weniger darum, mit Bündnissen den Frieden zu erhalten, als vielmehr darum, über kriegstaugliche Bündnisse zu verfügen. Und er hielt es für logisch, dass ein Bündnis, mit der eine Waffenbrüderschaft begründet wurde, politisch eine Interessengemeinschaft sein sollte. Von dieser zur Erwerbsgemeinschaft ist es nur noch ein kleiner Schritt ... vor allem dann, wenn man dem Aspekt der Friedenserhaltung nur einen so geringen Stellenwert einräumte wie Caprivi.

Was die Idee angeht, die außenpolitischen Probleme Deutschlands mit einem Angriffskrieg (beschönigend "Präventivkrieg" genannt) zu lösen, wurde diese von Moltke dem Älteren in der Krieg-in-Sicht-Krise (1873) gegenüber Frankreich vehement vertreten. Diese Idee war im deutschen Militär stark verbreitet und nicht nur dort: sogar in Bismarcks Umgebung, in der Staatsbürokratie, im Auswärtigen Amt gab es Anhänger dieser Idee. Die Option des Angriffskrieges wurde in nahezu allen weiteren außenpolitischen Krisen bis 1914 von diesen Vertretern empfohlen - nicht nur im Hinblick auf Frankreich. So forderte Moltke - nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des Rückversicherungsvertrages (18.6.1887) am 30.11.1887 einen Angriffskrieg gegen Rußland zu führen (vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 126). Die Präventivkriegsidee gab es also auch in östlicher Richtung, verbunden mit der Vorstellung zusammen mit ÖU, I und GB Front gegen R zu machen.

Es bedurfte also 1890 keiner besonderen Hörigkeit Caprivis gegenüber Moltke dem Älteren um diesem die Idee eines Präventivkrieges in seinen außenpolitischen Überlegungen in Erinnerung zu rufen. Dem um ein kriegstaugliches Bündnis bemühten Ex-General Caprivi waren diese Vorstellungen sehr gut bekannt.
Immer wieder Fragen und Unklarheiten wenn man genauer hinguckt. Ich bin nicht davon überzeugt, daß sich das Problem "Kündigung des Rückversicherungsvertrages" in ein paar Schlagworten erledigen lassen kann. Schade, meine Chronik-Jahresbände beginnen erst 1900, sonst könnte man da die Entwicklung der drei Jahre schön nachblättern. :(
Es gibt aber auch Antworten auf die Fragen und Unklarheiten. Ich empfehle: Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 155 ff.

"Auf die entscheidende Frage, wie er sich zum Rückversicherungsvertrag stelle, antworteteer (Caprivi, Gandolf) mit entwaffnender Ehrlichkeit, er könne nicht >>mit fünf Glaskugeln spielen, er könne nur zwei Glaskugeln gleichzeitig halten.<<" (zitiert nach Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 156, unter Hinweis auf Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Band 2, S. 404).

Ziemlich ernüchternd, oder?
 
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Gandolf schrieb:
Arne: Mir fällt es auch schwer auf Deinen Beitrag zu antworten. Du stellst viele Fragen, die ich meine schon beantwortet zu haben. Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, erlaube ich mir nur zu den Punkten Stellung zu nehmen, die meiner Meinung nach noch einer Ausführung bedürfen. Falls wider Erwarten doch noch Fragen offen bleiben sollten, bin ich gerne bereit, auf diese auch ein zweites Mal einzugehen. Ich hoffe, dass Du mit dieser Vorgehensweise einverstanden bist.
Aber natürlich :winke: Machen wir es dann auch kurz...(siehe Endbetrachtung)

Wäre es Berlin um Erhalt seiner Glaubwürdigkeit gegangen, hätte es den Rückversicherungsvertrag mindestens noch einmal verlängert. Immerhin hatte Kaiser Wilhelm II. dem russischen Botschafter in der Nacht zum 21.3.1890 die Verlängerung zugesagt. Ging es nur um das "bulgarische Problem" hätte man ja Russlands Angebot annehmen können, den Rückversicherungsvertrag ohne Geheimabkommen zu ratifizieren.
Das wäre ja nicht möglich gewesen, denn wenn ich das richtig verstanden habe, stand die Sache mit Bulgarien im Hauptteil. Im "ganz geheimen Zusatz", auf den Rußland verzichtet hätte, stand das mit der Meerengenfrage.
Na ja, Fälle in denen KWII meinte etwas sagen zu müssen und wo er nachher wieder von der Regierung zurückgepfiffen wurde, gibt es viele. Genauso beim lieben Nicki... (Björko 1905)

Ein um Glaubwürdigkeit bemühtes Deutsches Reich, welches nach der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages gegenüber Moskau beteuerte, seine neue Außenpolitik sei keinesfalls als ein grundsätzlicher Politikwechsel zu Gunsten Londons zu verstehen, hätte es zudem vermieden, schon im Juli 1890 mit Großbritannien den Helgoland-Sansibar-Vertrag abzuschließen. Die Glaubwürdigkeitsprobleme lagen ganz auf der Seite der Nichtverlängerungs-Politik.
Es ging ja um die Glaubwürdigkeit gegenüber dem "Nibelungenfreund" Österreich, der mit England weniger ein Problem hatte, als mit Rußland. Auf die Glaubwürdigkeit gegenüber Rußland schien man bewußt verzichtet zu haben.

England hatte schon 1889 ein Verteidigungsbündnis mit DR abgelehnt. Frankreich war wegen der Annexion Elsaß-Lothringens nicht als Partner zu gewinnen. Letztlich bestand allenfalls die Gefahr, den österreichischen Partner im Konfliktfall mit dem russischen Partner austzutauschen. Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wäre dies nicht der schlechteste Tausch gewesen.
Bei so einer Konstellation wäre allerdings Deutschland in der Frontlinie gegen die potentiellen Gegner Frankreich und England in vorderster Linie gewesen, Rußland hatte weniger Kontakte. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß man aus diesem Grund nicht allein auf Rußland als Bündnispartner bauen wollte - kann dir da aber keine Quelle nennen. Ob das allerdings schlechter als ein Zweifrontenkrieg gewesen wäre, überlasse ich den Militärstrategen. Ich zweifele daran..

Zunächst einmal hat Caprivi aus der Erwartung, dass der nächste große europäische Krieg ein Volkskrieg sein wird, daraus geschlossen, dass man diesen Krieg eher mit den Österreichern zusammen führen kann und weniger mit den Russen. Ihm ging es weniger darum, mit Bündnissen den Frieden zu erhalten, als vielmehr darum, über kriegstaugliche Bündnisse zu verfügen. Und er hielt es für logisch, dass ein Bündnis, mit der eine Waffenbrüderschaft begründet wurde, politisch eine Interessengemeinschaft sein sollte. Von dieser zur Erwerbsgemeinschaft ist es nur noch ein kleiner Schritt ... vor allem dann, wenn man dem Aspekt der Friedenserhaltung nur einen so geringen Stellenwert einräumte wie Caprivi.

"Auf die entscheidende Frage, wie er sich zum Rückversicherungsvertrag stelle, antworteteer (Caprivi, Gandolf) mit entwaffnender Ehrlichkeit, er könne nicht >>mit fünf Glaskugeln spielen, er könne nur zwei Glaskugeln gleichzeitig halten.<<" (zitiert nach Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 156, unter Hinweis auf Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Band 2, S. 404).

Ziemlich ernüchternd, oder?
Ja, auf jeden Fall zeigt es ein klares Charakterbild von Caprivi im Gegensatz zu Bismarck. Der eine ein kluger Taktierer, der sich möglichst viele Türen offen lässt, der andere ein eingleisig denkender Mann, dem klare Verhältnisse wichtig sind. Caprivi erscheint demnach als der typische Zeitgenosse, der nie den großen Erfolg haben wird... (mitleidig ausgedrückt: "Der Ehrliche ist der Dumme")

Wie stellt sich das bisher alles dar: Die anstehende Verlängerung des Rückversicherungsvertrages wurde 1890 nach den drei Jahren abgelehnt. Was war geschehen und beeinflußte die Entscheidung?

- Versuche ein Bündnis mit England zu erreichen waren zwischenzeitlich gescheitert. Eigentlich gerade ein Grund den russischen Bären an die Leine zu nehmen, aber man zweifelte in Berlin an der Verlässlichkeit und Vertragstreue Rußlands.
- Rußland war bereit auf die Fürsprache Deutschlands bezüglich der Meerengenfrage zu verzichten. Die war ja eigentlich auch im wesentlichen geregelt, allerdings nicht so, wie sich das Rußland gewünscht hatte. Der Griff nach Konstantinopel wurde durch das Orient-Drei-Bündnis verwehrt.
- Rußland bestand auf seinen "Rechten" in Bulgarien, wo es im Gegensatz zu ÖU stand. Der Rückversicherungsvertrag sicherte R diese Rechte zu.
- Caprivi war kein geschickter Diplomat und scheinbar mental nicht willens und fähig Bismarcks Sicherheitsnetz aufrecht zu erhalten.
- Im deutschen Kanzleramt bestand Angst das Verhältnis zu ÖU zu belasten, wenn der Geheimvertrag publik werden könnte. Auch wenn sich gar keine Alternative zum Dreibund bot, befürchtete man scheinbar eine Veränderung der Freundschaft zum Zweckbündnis im Mißtrauen.

Einige Punkte, in denen wir nun das erarbeitet haben, worum es mir ganz am Anfang ging: Die Nichtverlängerung war keine gedankenlose ad hoc Tat von Dummköpfen, sondern eine durch viele Faktoren beeinflußte Fehleinschätzung, die im wesentlichen vom damaligen Reichskanzler Caprivi und seinem Stab zu verantworten ist. Mehr wollte ich gar nicht klar machen. :)

Könntest du das "Abnicken", Gandolf?
 
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Arne schrieb:
Aber natürlich :winke: Machen wir es dann auch kurz...(siehe Endbetrachtung)

Das wäre ja nicht möglich gewesen, denn wenn ich das richtig verstanden habe, stand die Sache mit Bulgarien im Hauptteil. Im "ganz geheimen Zusatz", auf den Rußland verzichtet hätte, stand das mit der Meerengenfrage.
Na ja, Fälle in denen KWII meinte etwas sagen zu müssen und wo er nachher wieder von der Regierung zurückgepfiffen wurde, gibt es viele. Genauso beim lieben Nicki... (Björko 1905)

Es ging ja um die Glaubwürdigkeit gegenüber dem "Nibelungenfreund" Österreich, der mit England weniger ein Problem hatte, als mit Rußland. Auf die Glaubwürdigkeit gegenüber Rußland schien man bewußt verzichtet zu haben.

Bei so einer Konstellation wäre allerdings Deutschland in der Frontlinie gegen die potentiellen Gegner Frankreich und England in vorderster Linie gewesen, Rußland hatte weniger Kontakte. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß man aus diesem Grund nicht allein auf Rußland als Bündnispartner bauen wollte - kann dir da aber keine Quelle nennen. Ob das allerdings schlechter als ein Zweifrontenkrieg gewesen wäre, überlasse ich den Militärstrategen. Ich zweifele daran..

Ja, auf jeden Fall zeigt es ein klares Charakterbild von Caprivi im Gegensatz zu Bismarck. Der eine ein kluger Taktierer, der sich möglichst viele Türen offen lässt, der andere ein eingleisig denkender Mann, dem klare Verhältnisse wichtig sind. Caprivi erscheint demnach als der typische Zeitgenosse, der nie den großen Erfolg haben wird... (mitleidig ausgedrückt: "Der Ehrliche ist der Dumme")

Wie stellt sich das bisher alles dar: Die anstehende Verlängerung des Rückversicherungsvertrages wurde 1890 nach den drei Jahren abgelehnt. Was war geschehen und beeinflußte die Entscheidung?

- Versuche ein Bündnis mit England zu erreichen waren zwischenzeitlich gescheitert. Eigentlich gerade ein Grund den russischen Bären an die Leine zu nehmen, aber man zweifelte in Berlin an der Verlässlichkeit und Vertragstreue Rußlands.
- Rußland war bereit auf die Fürsprache Deutschlands bezüglich der Meerengenfrage zu verzichten. Die war ja eigentlich auch im wesentlichen geregelt, allerdings nicht so, wie sich das Rußland gewünscht hatte. Der Griff nach Konstantinopel wurde durch das Orient-Drei-Bündnis verwehrt.
- Rußland bestand auf seinen "Rechten" in Bulgarien, wo es im Gegensatz zu ÖU stand. Der Rückversicherungsvertrag sicherte R diese Rechte zu.
- Caprivi war kein geschickter Diplomat und scheinbar mental nicht willens und fähig Bismarcks Sicherheitsnetz aufrecht zu erhalten.
- Im deutschen Kanzleramt bestand Angst das Verhältnis zu ÖU zu belasten, wenn der Geheimvertrag publik werden könnte. Auch wenn sich gar keine Alternative zum Dreibund bot, befürchtete man scheinbar eine Veränderung der Freundschaft zum Zweckbündnis im Mißtrauen.

Einige Punkte, in denen wir nun das erarbeitet haben, worum es mir ganz am Anfang ging: Die Nichtverlängerung war keine gedankenlose ad hoc Tat von Dummköpfen, sondern eine durch viele Faktoren beeinflußte Fehleinschätzung, die im wesentlichen vom damaligen Reichskanzler Caprivi und seinem Stab zu verantworten ist. Mehr wollte ich gar nicht klar machen. :)

Könntest du das "Abnicken", Gandolf?
Leider kann ich das aus vielerlei Gründen nicht:

Meiner Ansicht nach überbewertest Du nach wie vor das angebliche "Glaubwürdigkeitsproblem":
  • Wie Du ja selbst geschrieben hast, hatten Bismarcks Nachfolger kein Problem, gegenüber Russland "auf die Glaubwürdigkeit bewußt" zu verzichten.
  • Was die "Niebelungentreue" zu Österreich angeht, ist Deine Argumentation anachronistisch. Die "Nibelungentreue" wurde erst 1908 von RK von Bülow beschworen, ironischerweise in der bosnischen Annexionskrise, die ÖU - mit deutscher Ermutigung - durch den Bruch der Abkommen hervorrief, die es 1897 und 1903 mit R getroffen hatte, um die Balkanrivalitäten einzuhegen (Bulgarien gehörte diesen Absprachen zufolge zur russischen Einflussphäre; so einseitig konnten Bismarcks Vorstellungen über eine Demarkation des Balkans also nicht gewesen sein).
  • Schließlich stand der Rückversicherungsvertrag in keinem Gegensatz zu den Bündnisverpflichtungen, die das DR gegenüber ÖU im Zweibund übernommen hatte. Dieses Bündnis war ein Verteidigungsbündnis gegenüber einem russischen Angriff und der Rückversicherungsvertrag verpflichtete D gegenüber R zur Neutralität nur bei einem österreichischen Angriff auf R. Freilich brachte der Rückversicherungsvertrag zum Ausdruck, dass Bismarck nicht bereit war, ÖU bei einer aggressiven Balkanpolitik zu unterstützen, währenddessen er eine aggressive Balkanpolitik Russlands mit dem Orient-Dreibund, also mit E, auszutarieren dachte.
Mir ist auch dieses Bild vom ehrlich-dummen-erfolglosen Caprivi und vom raffiniert-perfiden-erfolgreichen Bismarck viel zu vereinfachend. Du ignorierst Caprivis Motiv, Bismarcks friedenserhaltende (defensive) Aussenpolitik zu Gunsten eines kriegstauglichen Bündnisses mit ÖU umzugestalten, das politisch als (auch offensive) Interessengemeinschaft auftreten sollte. Dies ist auch meine Hauptkritikpunkt an Deinem Beitrag: Du blendest diesen Mentalitätswechsel (vom defensiven zum offensiven) einfach aus.

Auch versuchst Du - meiner Ansicht nach - viel zu viel aus den angeblichen Veränderungen der Jahre 1887-1890 abzuleiten, ohne auf die entscheidende aussenpolitische Zäsur der Jahre 1871-1914 einzugehen: auf Bismarcks Entlassung im März 1890. Gegen Bismarcks Aussenpolitik gab es bereits vor 1887 eine große Opposition (im Militär, in der Staatsbürokratie, bei KW-II, im Auswärtigen Amt). Was sich 1890 änderte, waren nicht die Umstände, auf deren Grundlage der Rückversicherungsvertrag abgeschlossen wurde. Bismarck wollte ja 1890 den Rückversicherungsvertrag auch noch verlängern. Vielmehr änderte sich in Berlin, dass Bismarcks Opposition mit dessen Entlassung nun die Chance bekam, den neuen Reichskanzler Caprivi (einen diplomatisch unerfahrenen Ex-General) für ihre aussenpolitische Konzeption einer englandorientierten, kriegstauglichen und offensiveren Aussenpolitik zu gewinnen, was auch gelang.

Im Hinblick auf die Frage, ob dieser Politikwechsel klug oder dumm war, hast Du ja selbst geschrieben, dass es sich um eine "Fehlentscheidung" handelte. Warum sollte man nicht schreiben können, dass es sich hierbei um eine "Dummheit" handelte? Ob man das so nennt oder etwas zurückhaltender eine "Fehlentscheidung" ist doch letztlich eine Stilfrage.

ABER eine grobe Fehlentscheidung, meinetwegen auch eine Dummheit, war es allemal:

Sollte es für das DR wirklich klüger gewesen sein, über gar kein Bündnis mit R zu verfügen als über ein loses Neutralitätsbündnis?

Die von Bismarcks Opposition favorisierte "englische Bündnisoption" war ja bereits 1889 gescheitert. Obwohl E sich als Gegengewicht zu R verstand, lehnte es dieses Bündnis ab, mit dem es D auf seine Seite gezogen hätte. Warum sollte es nun ein Bündnis mit D eingehen, nachdem sich D entschlossen hatte, an der Seite von ÖU als Gegengewicht zu R aufzutreten? Warum sollte London für eine Leistung nachträglkich etwas bezahlen, die sie von Caprivi kostenlos geliefert bekam? Ganz im Gegenteil: die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages ebnete den Weg für einen britischen Rückzug vom Balkan (nun traten dort ja die Deutschen antirussisch auf) und eine britische Schiedsrichterrolle zwischen den sich herausbildenden Blöcken DR/ÖU und R/F.

Schließlich übersah die Bismarck-Opposition, dass zwischen ihrem offeniveren aussenpolitischen Konzept und den aussenpolitischen Interessen Englands ein Gegensatz bestand. England hatte ein Interesse an einem Gegengewicht zu Russland, aber kein Interesse an einem Machtzuwachs des deutschen Halbhegemons, schon gar nicht an einem Erfolg eines deutschen Angriffskriegs gegen R oder F. Währenddessen die Diplomaten von einem Bündnis mit E träumten, begannen die Militärs eine Strategie zu entwerfen, die D im Konfliktfall durch die wahrscheinliche Gefährdung des europäischen Gleichgewichts und eine Verletzung neutraler Staaten in einen Gegensatz zu E bringen musste.
 
Gandolf schrieb:
Leider kann ich das aus vielerlei Gründen nicht:
Schade ;)

Zuerst Vorbemerkungen:
- Habe wieder etwas über Englands Politik und Sichtweise dazugelernt. Danke für die Nachhilfe
- Ob Dummheit oder Fehlentscheidung, ist für mich der Unterschied ob ein halbwegs intelligenter Mensch etwas tut ohne Nachzudenken oder ob er vorher überlegt, abwägt und eine (falsche) Entscheidung trifft. Aber das ist Ansichtssache - kein Streitpunkt.

Nun zum Wesentlichen:
Gandolf schrieb:
Mir ist auch dieses Bild vom ehrlich-dummen-erfolglosen Caprivi und vom raffiniert-perfiden-erfolgreichen Bismarck viel zu vereinfachend. Du ignorierst Caprivis Motiv, Bismarcks friedenserhaltende (defensive) Aussenpolitik zu Gunsten eines kriegstauglichen Bündnisses mit ÖU umzugestalten, das politisch als (auch offensive) Interessengemeinschaft auftreten sollte. Dies ist auch meine Hauptkritikpunkt an Deinem Beitrag: Du blendest diesen Mentalitätswechsel (vom defensiven zum offensiven) einfach aus.

Dies blende ich weniger aus, als daß ich das nicht sehe. Rein aus der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages kann ich keine Veränderung der deutschen Politik vom Defensiv zum Offensivbündnis, bzw. zur Vorbereitung eines Angriffskrieges, erkennen. Dazu fußt das nach meinem Kenntnisstand und deinen bisherigen Ausführungen viel zu sehr auf Interpretationen und Mutmaßungen. Wer im ersten Weltkrieg einen Angriffskrieg der Mittelmächte sieht, sucht nach vorherigen Anzeichen desselben. Eine Beweisführung durch "Seht die Folgen dieses Tuns sind doch Tatsache" ist m.E. nicht korrekt (schon weil es noch 24 Jahre hin war bis zum August 1914).
Selbst wenn man Hinweise in der deutschen Politik sehen will, die auf eine möglichst gute militärische Ausgangslage hinzielen, so muß dies nicht ein Beleg für einen Angriffskrieg sein, sondern kann genauso gut auf eine möglichst schlagkräftige Verteidigung hin ausgerichtet sein. Gerade das (zurückgewiesene) Werben um England ist für mich ein Zeichen, daß man stark und sicher sein wollte, nicht um einen neuen Krieg führen zu können, sondern um den Status Quo zu erhalten.


PS: Schon aufgefallen: Nicht einmal "Gandalf" geschrieben?! :)
 
Arne schrieb:
Dies blende ich weniger aus, als daß ich das nicht sehe. Rein aus der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages kann ich keine Veränderung der deutschen Politik vom Defensiv zum Offensivbündnis, bzw. zur Vorbereitung eines Angriffskrieges, erkennen. Dazu fußt das nach meinem Kenntnisstand und deinen bisherigen Ausführungen viel zu sehr auf Interpretationen und Mutmaßungen. Wer im ersten Weltkrieg einen Angriffskrieg der Mittelmächte sieht, sucht nach vorherigen Anzeichen desselben. Eine Beweisführung durch "Seht die Folgen dieses Tuns sind doch Tatsache" ist m.E. nicht korrekt (schon weil es noch 24 Jahre hin war bis zum August 1914).
Selbst wenn man Hinweise in der deutschen Politik sehen will, die auf eine möglichst gute militärische Ausgangslage hinzielen, so muß dies nicht ein Beleg für einen Angriffskrieg sein, sondern kann genauso gut auf eine möglichst schlagkräftige Verteidigung hin ausgerichtet sein. Gerade das (zurückgewiesene) Werben um England ist für mich ein Zeichen, daß man stark und sicher sein wollte, nicht um einen neuen Krieg führen zu können, sondern um den Status Quo zu erhalten.

PS: Schon aufgefallen: Nicht einmal "Gandalf" geschrieben?! :)
Letzteres ist mir natürlich positiv aufgefallen.:)

Nicht so positiv hat mir hingegen Deine These gefallen, dass ich vom Jahr 1914 auf die Motive im Jahr 1890 schliessen würde. Das habe ich nicht getan.

ABER ich habe darauf hingewiesen, dass Bismarck Bündnisse einging, um den Krieg zu verhindern, währenddessen Caprivi den Wert der übernommenen Bündnissen nach seiner Kriegstauglichkeit beurteilte. Dies stellte einen wichtigen Mentalitätswechsel dar, den man zu Recht als Wechsel von einem defensiven zu einem offensiven Bündnisverständnis bezeichnen kann.

Freilich war es noch ein langer Weg bis Juli 1914. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages stellte eine Etappe auf diesem Weg dar. Viele weitere Etappen folgten: Absprachen der Militärs bezüglich der Generalmobilmachung, aggressive Aussenpolitik durch die die Bündnisse der "gegnerischen Großmächte" aufgesprengt werden sollten, Ermutigung der Österreicher eine aggressive Balkanpolitik zu betreiben (bosnische Annexionskrise, 1908), Zurückpfeiffen der Österreicher als sich die gegnerischen Bündnisse als standfest und der Zweibund noch nicht als kriegstauglich erwies, Ermutigung der Österreicher Serbien anzugreifen und einen Krieg mit R zu riskieren (Juli 1914). Ich schliesse also nicht von 1914 auf 1890 sondern ich markiere die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages (1890) als Beginn einer neuen deutschen Aussenpolitik, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führte.
 
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Gandolf schrieb:
Freilich war es noch ein langer Weg bis Juli 1914. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages stellte eine Etappe auf diesem Weg dar. Viele weitere Etappen folgten: Absprachen der Militärs bezüglich der Generalmobilmachung, aggressive Aussenpolitik durch die die Bündnisse der "gegnerischen Großmächte" aufgesprengt werden sollten, Ermutigung der Österreicher eine aggressive Balkanpolitik zu betreiben (bosnische Annexionskrise, 1908), Zurückpfeiffen der Österreicher als sich der Zweibund noch nicht als kriegstauglich erwies, Ermutigung der Österreicher Serbien anzugreifen und einen Krieg mit R zu riskieren (Juli 1914). Ich schliesse also nicht von 1914 auf 1890 sondern ich markiere die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages als Beginn einer neuen deutschen Aussenpolitik, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führte.

Was bleibt festzuhalten:

1) Die Beurteilung der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages ist nicht so einfach, wie es sich manche Leute gern machen
2) Der Bahnstrecke zum Ersten Weltkrieg führt über viele Weichen und keine gerade unausweichliche Strecke
3) Mal interessant diskutiert, ohne daß die Fetzen flogen - auch was Gutes :rofl:
 
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