Liebe Ingeborg!
Ich habe Dein Geranze nicht zu Ende gelesen - kurz nach dem Punkt, wo Du mich in eine Reihe mit Theorien über Kometen und rothaarige Riesen stelltest, reichte es. Ich weiss nicht, wo Deine Gürtellinie sitzt - unter meine hast Du kräftig gezielt!
Bevor Du mich und andere weiter seitenweise mit Wikipedia zuschmeißt: Es gibt eine detaillierte genetische Studie (keinen WP-Artikel, aber in diesen zitiert) zum Verhältnis von
Haplogruppe X2 (nahöstlich) und X2a (ameroindisch), die ich verlinkt hatte, und aus der ich auch zitierte. Lies diese doch bitte durch, bevor Du Dich weiter am Thema und meinen Aussagen vorbei ergießt! Ich füge hier die "Conclusion" bei (Heraushebung duirch mich):
The results of this study point to the following conclusions. First, haplogroup X variation is completely captured by two ancient clades that display distinctive phylogeographic patterns—X1 is largely restricted to North and East Africa, whereas X2 is spread widely throughout West Eurasia. Second, it is apparent that the
Native American haplogroup X mtDNAs derive from X2 by a unique combination of five mutations. Third,
the few Altaian (Derenko et al. 2001) and Siberian haplogroup X lineages are not related to the Native American cluster, and they are more likely explained by recent gene flow from Europe or from West Asia. (..) Finally, phylogeography of the subclades of haplogroup X suggests that the
Near East is the likely geographical source for the spread of subhaplogroup X2, and the associated
population dispersal occurred around, or after, the LGM when the climate ameliorated. The presence of a daughter clade in northern Native Americans testifies to the range of this population expansion.
Und weiter:
These findings leave unanswered the question of the geographic source of Native American X2a in the Old World, although our analysis provides new clues about the time of the arrival of haplogroup X in the Americas. Indeed, if we assume that the two complete Native American X sequences (from one Navajo and one Ojibwa) began to diverge while their common ancestor was already in the Americas, we obtain a coalescence time of 18,000 ± 6,800 YBP, implying an arrival time not later than 11,000 YBP.
Noch mal, damit Du es auch wirklich verstehst:
- Ursprung im Nahen Osten;
- Keine genetischen Spuren einer Migration durch Sibirien;
- Ankunft in Amerika zwischen 18.000 und 11.000 YBP, also 16.000-9.000 v. Chr. [Hier ist bemerkenswert, da0 die Entstehung von X2 auf ca. 18.000 YBP datiert wird (Figure 2), so daß die Ankunft in Amerika wohl eher zum Ende der angegeben Zeitspanne hin erfolgte].
Das hat
nichts mit Solutrean zu tun, dazu kam die X2a-Expansion zu spät. Ob ein transatlantisch-maritimes oder ein eurasisch-kontinentales Migrationsszenario für wahrscheinlicher gehalten wird, mag jede(r) für sich entscheiden. Die Studienautoren legen sich diesbezüglich ausdrücklich
nicht fest - jeder, der Übung im "zwischen den Zeilen lesen" hat, und den akademischen
mainstream zur Besiedlung Amerikas kennt, weiß, was das heißt.
Die im verlinkten Wikipedia-Artikel enthaltene Aussage, X2a hätte sich in Amerika von West nach Ost ausgebreitet, kann ich leider nicht nachvollziehen. Die im WP-Artikel als Quelle genannte Studie ist hinter einem Paywall, aber die Grafiken und "Supplementary Materials" sind frei zugänglich. Ein Blick auf Figure 1 (Link unten) zeigt, dass die US- und kanadische Westküste überhaupt nicht untersucht wurde. Nördlich Mexikos, und außerhalb Grönlands wurden lediglich vier Gruppen betrachtet, nämlich Ojibwa (5 samples), Algonquin (5 samples), Cree (5 samples) und Chipewya (15 samples) - summa summarum 30 (von 607) samples. Der Einfachheit halber wurden Algonquin, Ojibwa und Cree für die Analyse mit Maya (49 samples), Kaqchikuel (13 samples) und Zapotec2 (21 samples) zur Gruppe "Northern Amerind" zusammengefasst. Weiterhin wurde die in der ersten Admixture-Analyse deutlich zu Tage tretende "European Admixture" von u.a. "Northern Amerinds" maskiert bzw. durch "Filterung" einzelner samples eliminiert. Hinzu kommt, dass als "outgroup", d.h. Proxy des Urmenschen für den phylogenetischen Baum, die Yoruba verwendet wurden - von allen afrikanischen Ethnien ausgerechnet diejenige mit dem höchsten Anteil an yDNA R1b (neolithische "back to Africa"-Migration)! Wie aus dieser Datenbasis und mit den (sehr fragwürdigen) verwendeten Methoden tragfähige Ergebnisse zur Ausbreitungsrichtung der mtDNA Haplogruppe X2a entstehen sollen, ist mir schleierhaft - vielleicht trägt ein Blick hinter die
paywall ja zur Aufklärung bei, aber viel Hoffnung hege ich da nichti.
Geographic, linguistic and genetic overview of 52 Native American populations. : Reconstructing Native American population history : Nature : Nature Publishing Group
Was
R1b angeht - der verlinkte Wikipedia-Artikel
Y-DNA haplogroups in indigenous peoples of the Americas nennt jeweils die Quellen für die Ergebnisse je Ethnie. Meine Berufserfahrung hat mir nahegelegt, solche Quellen zu prüfen, oder zumindest Fußnoten zu lesen (im WP-Artikel findet sich zur Zeile "Athabascan" die FN 2: "Athabaskan ethnic groups:
Chipewyan,
Tłı̨chǫ,
Tanana,
Apache and
Navajo."), bevor ich, an Thema und Text vorbei, mich zu didaktischen Exkursen wie etwa zum Verhältnis zwischen amerikanischen Sprachgruppen und Ethnien hinreißen lasse.
Das Grundproblem mit der amerindischen R1b ist, daß die geographische Verteilung schwer mit postkolumbischen Kontakten in Einklang zu bringen ist. Eigentlich wäre die höchste "European Admixture" im karibisch-zentralamerikanischen Raum und im Gebiet des alten Inka-Reichs zu erwarten - einerseits, weil dort der früheste Kontakt stattfand, zum anderen, weil Spanien von allen Kolonialmächten den höchsten Anteil an Bevölkerung mit R1b hat (69%, dagegen Frankreich 58,5%).
Daneben haben wir - mit Einschränkung - Referenzwerte für die genetische Auswirkung von Migrationen/ Fremdkontakten in historischer Zeit. Langobarden in Mittel-/ Süditalien, Awaren/ Alanen, Angelsachsen, Burgunder etc, haben sichtbare genetische Spuren in den Ankunftsregionen hinterlassen, jedoch typischerweise in der Größenordnung von 5-10%.
Will sagen: 6% R1b bei den Zapoteken ist plausibel durch postkolumbische europäische Admixtur erklärbar, meinetwegen auch noch 12,7% bei den Maya. 2,6% bei den Navajo passen ebenfalls ins Bild - dort begann der Kontakt mit Europäern halt später, entsprechend geringer die Admixtur. Aber wie, bitte, erklären sich 55% R1b bei den Chippewa der
Turtle Mountain Indian Reservation (51 samples, also kein "statistical noise")? Klar gab es dort seit dem frühen 17. Jahrhundert Kontakte mit französischen/ englischen Pelzhändlern, aber doch wohl eher sporadisch und kaum geeignet, solch massive Verdrängung "amerindischer" DNA herbeizuführen.
Bevölkerungsengpässe und nachfolgende Gründereffekte? Dies würde durch niedrige genetische Diversität angezeigt - tatsächlich aber liegt die durchschnittliche genetische Diversität der Amerinder in den USA (0,775) über der der europäischen Amerikaner (0,637). Dies betrifft auch einzelne Gruppen mit festgestelltem hohen Anteil an R1b, wie die Sioux South Dakotas (0,711, zum Vergleich: Europäischstämmige in South Dakota 0,641). Quelle (Table 1):
https://www.familytreedna.com/pdf/HammerFSIinpress.pdf
Der Aspekt scheidet also aus - er würde im übrigen auch nicht die Unterschiede zu Mittel-und Südalamerikanern erklären, die ebenso, wenn nicht stärker, von krankheitsinduzierten Bevölkerungsengpässen betroffen waren.
Hinzu tritt als weitere Auffälligkeit, daß ein hoher Anteil von yDNA R1b tendenziell mit hohem Anteil von mtDNA X2a korrelliert. Und letztere ist zwar europäisch-nahöstlichen Ursprungs, aber, wie wir nun aus der Genanalyse des Kennewick-Menschen wissen, seit über 8.000 Jahren auf dem amerikanischen Kontinent präsent. Ist diese Korrelation reiner Zufall? Ich sehe erwartungsvoll entsprechenden statistischen Analysen, die hoffentlich irgendwann kommen, entgegen.
Schließlich ist da dieses:
Anomalous Native American DNA: New Tests Show Middle East Origins?
Native Americans are conventionally held to fit into a handful of haplogroups. (..) Haplogroup T is not among the haplogroups most geneticists recognize as Native American. Yates, however, said that it is prevalent among the Cherokee and has been for a very long time.
He wrote
in his report, released earlier this month: “T is the leading haplogroup (23.1 percent), with a frequency on a par with modern-day Egyptians (23.4 percent) and Arabs (24.4 percent). T is thus a defining mark of Cherokee ancestry. … We can safely rule out recent European admixture. As we have discussed again and again, there was no available source for a huge, sudden influx of female-mediated Middle Eastern DNA on the American frontier. Even Sephardic Jews (11 to 14 percent), many of whom were also Indian traders, could hardly have accounted for such admixture.
Vorsicht ist in mehrerlei Hinsicht angeraten: Zum einen waren die Tests nicht repräsentativ, sondern bezogen sich v.a. auf Individuen, die ihre "Reinblütigkeit" genealogisch über mindestens 4 Generationen belegen konnten, aber durch den für die Erlangung von Sozialhilfe vom Stamm obligatorischen DNA-Test gefallen waren. Alle ermittelten Prozentsätze sollten also auf einen (unbekannten) Bruchteil reduziert werden. Des weiteren haben sich an diese Ergebnisse teilweise obskure Spekulationen angeschlossen ("12 Stämme Zions" etc.) - wohl auch, um mormonisches und orthodox-jüdisches Geld für weitere Tests zu mobilisieren.
Festzustellen bleibt aber ein
meßbarer, jedoch in seiner Größe unbestimmter Anteil verschiedener
originär nahöstlicher mtDNA bei den Cherokee. Die Cherokee waren traditionell matrilokal/ matrilinear, insofern steht nennenswerter Zuzug europäisch-nahöstlicher Frauen im 17.-19. Jahrhundert eigentlich nicht zu erwarten. Auch läßt sich die festgestellte Admixtur kaum kolonial erklären, weil typisch britische/ spanische mtDNA weitgehend fehlt. Postkolumbianische Erklärungsansätze richten sich im wesentlichen auf frühen Zuzug sephardischer Juden samt Familie, um der Inquisition in den spanischen Kolonien zu entgehen. Ob dieser Erklärungsansatz historisch und genetisch tragfähig ist, bleibt abzuwarten.