Der Erste Weltkrieg und seine Bedeutung in der heutigen Zeit.

Denn im Gegensatz zum Kriegszustand mit der Entente, für den man einen Teil der Verantwortung auch bei der letzteren sehen kann (auch diese ist dem Krieg nicht ausgewichen), wird man schwerlich einen Grund finden den deutschen Überfall auf Luxemburg und Belgien zu relativieren, der ohne jegliches "Wenn und Aber" ein Akt der Agression war.

Den hab ich ja auch als besonders schlimm herausgestellt... wenn das mit den Reperationszahlungen in Verbindung steht wird man da wenig nörgeln können. Gut.

Mit Politik beschäftigen wir uns hier aber nicht, sondern mit Geschichte und diese wiederrum kann sich nicht freiwillig für politische Zwecke instrumentalisieren lassen.

Die Geschichte wird aber immer instrumentalisiert. Da muss man dann etwas dagegen unternehmen, oder nicht?
 
Natürlich. Aber mit einer sauberen Argumentation. Und getrennt von der -ich nenne es mal plakativ- 'Faktenermittlung' durch die Geschichtswissenschaft.
 
Wobei man da in letzter Konsequenz vor dem Hintergrund des russisch-japanischen Krieges wahrscheinlich auch mit guten Gründen davon ausgehen konnte, dass es unwahrscheinlich sein würde, dass Deutschland in einen Krieg verwickelt würde, der so lange andauerte, dass dies wirklich ins Gewicht fallen könnte.

Der russisch-japanische Krieg begann im Februar 1904.

Schlieffen war der Nachfolger Waldersees als Generalstabschef seit 1891. 1906 übernahm Moltke das Amt.
 
Der Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrags hatte vor allem den Zweck eine Basis für die Reparationsforderungen der Entente und Assoziierten Mächte zu schaffen, deswegen stand er im Rahmen der Verhandlungen zur Abwickelung der Reparationen 1932 in Lausanne auch zur Debatte.

Ja, aber das wussten weder die damaligen deutschen Politiker noch die deutsche Bevölkerung. Entsprechend fiel die Reaktion aus. Als man in Lausanne darüber begann zu sprechen, war Hitler schon auf der Zielgeraden.

Darüber hinaus, wenn man Deutschland auch vielleicht als weniger schuldig am Ausbruch des Krieges betrachten möchte, als Fischer dies getan hat, entschuldigt dies natürlich auch nicht, was von deutscher Seite INNERHALB dieses Krieges getan wurde.

Natürlich nicht. Galt dies in Umkehrschluß auch für die alliierten Seite?

Wenn man in Ablehnung von Fischer annehmen wollte, dass eine "Hauptschuld" Deutschlands am Krieg sich nicht nachweisen lasse, ist das ja durchaus kein Freispruch, denn bei der gegebenen Faktenlage, wird man nicht umherkönnen Deutschland mindestens eine Teilverantwortung für diesen Weltkrieg zu attestieren.

So ist es.
 
Warum? Also ich hab dann das Gefühl das Deutschland eine riesen Ungerechtigkeit angetan wurde. Das kann man nutzen um die rechte Politik danach zu verharmlosen. Bin ich wirklich der Einzige der diese Gefahr sieht?

Verstehe ich das korrekt, das du der Meinung bist, man darf/sollte nicht über die Ungerechtigkeit sprechen, da sie die Rechten ausnutzen könnten? Das wäre aber dann schon Unterstützung von Geschichtsklitterung.
 
Seh ich aber Historiker selten machen, irgendwie gegen schlechte Narrative argumentieren. Man wird zu sehr allein gelassen.
hier attestierst du der Mehrheit der Historiker eine Art Versagen - kannst du das auch begründen oder wenigstens ein paar Beispiele nennen, in welchen Historiker "nicht irgendwie gegen schlechte Narrative argumentieren"? Und wo das der Fall ist, was genau tun sie denn da: die schlechten Narrative bestätigen, oder unberücksichtigt lassen?
Und der Frage von @Turgot schließe ich mich auch an.
 
Der russisch-japanische Krieg begann im Februar 1904.

Schlieffen war der Nachfolger Waldersees als Generalstabschef seit 1891. 1906 übernahm Moltke das Amt.

Durchaus korrekt, du sagtest, dass die Diskussion in Schlieffens Amtszeit einschlief, aber nicht wann genau. Ich hatte hier gemutmaßt, dass es eventuell mit dem russisch-japanischen Krieg am Ende seiner Amtszeit zu tun haben konnte, dass es hier einen Bruch gab oder die Überlegungen nicht wieder aufgenommen wurden.

Ja, aber das wussten weder die damaligen deutschen Politiker noch die deutsche Bevölkerung. Entsprechend fiel die Reaktion aus. Als man in Lausanne darüber begann zu sprechen, war Hitler schon auf der Zielgeraden.

Die Konferenz von Lausanne fand im Juni- Anfang Juli 1932, also vor den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 und dem amit verbundenen Erdrutschsieg der Nationalsozialisten statt.

Wenn von deutscher Seite anders gehandelt worden und es tatsächlich zu einer Einigung über einen Reparations-Restbetrag von about 4 Mrd. Goldmark und einer Streichung des Kriegsschuldartikels unmittelbar im Vorfeld der Wahl gekommen wäre, wären die Rechtsradikalen damit auf einen Schlag einen guten Teil ihrer Wahlkampfthemen los gewesen und das hätte bei den Reichstagswahlen zu einem Ausschlag in eine ganz andere Richtung führen können.
4 Mrd. wären nach der bisherigen Reparationspraxis nicht meehr als 2-3 Jahresraten in Jahren gewesen, die einigermaßen vernünftig verliefen.
Das wäre zu verschmerzen gewesen, weil dann wenigestens in diesem Punkt Licht am Ende des Tunnels zu sehen gewesen wäre und die Rechtsextremen mit Parolen wie derjenigen, dass Deutschland durch die Reparationen auf Generationen geknechtet werde, keine Rattenfängerei mehr hätten betreiben können.

Natürlich nicht. Galt dies in Umkehrschluß auch für die alliierten Seite?
Damit bezog ich mich vor allem auf den Überfall auf Luxemburg und Belgien mit dem ddie Entente so ja relativ wenig zu tun hatte.
 
Damit bezog ich mich vor allem auf den Überfall auf Luxemburg und Belgien mit dem ddie Entente so ja relativ wenig zu tun hatte.

Das ist natürlich unstrittig. Ich dachte beispielsweise an die Eingriffe der Alliierten in die Souveränität Griechenlands und das Verhalten gegenüber die neutralen Niederlande.
 
Also hälst du den Versailler Vertrag für ungerecht? Wie sollte man damit denn umgehen?

Fragen wir mal anders herum:

- Das Deutschland mit dem Versailler Vertrag die Souveränität und Zollhoheit über einen großen Teil seiner Binnengewässer faktisch aberkannt wurde.
- Das Deutschland mit dem Versailler Vertrag vorgeschrieben wurde, wie es seine Landesverteidigung zu organisieren habe (Verbot der Wehrpflicht und damit Festlegung auf Berufsheer).
- Das es Deutschland verboten wurde Teile seines eigenen Staatsgebiets zu befestigen und es damit in seinem Recht auf Selbstverteidigung eingeschränkt wurde.
- Das Deutschland in seiner Wehrhoheit (Rheinland/Begrenzung des Heeres auf 100.000 Mann + 15.000 Mann Reichsmarine) eingeschränkt wurde.
- Das Deutschland qua diesem Vertrag verboten wurde einen Zusammenschluss mit Östeerreich einzugehen, selbst wenn die Bevölkerung beider Staaten sich dafür aussprach

etc.

Sind das (alles Aspekte des Versailler Friedensvertrags) Dinge, die du als "gerecht" empfinden würdest?

Ich vermute mal eher nicht.

Da sollte man schon auch das Gesamtvertragswerk würdigen.
Es finden sich bei Lichte besehen wenig gute Argumente, die dafür sprechen den Kriegschuldartikel (Belgien/Luxemburg) und die Verpflichtung auf eine später in ihrer Höhe festzulegende Reparation per se für ungrecht zu halten.
Andere Aspekte des Versailler Vertrags, wie die oben angeführten, die einen dauerhaften Eingriff in die Souveränität Deutschlands bedeuteten können durchaus per se so betrachtet werden.

Durchaus. Ich würde gerne mal was gegen Islamophobie oder Migrantenhass hören

Inwiefern ist es Aufgabe eines Historikers in seiner beruflichen Funktion etwas dazu zu sagen? Das sind schlicht nicht seine Themenbereiche.
 
Das ist natürlich unstrittig. Ich dachte beispielsweise an die Eingriffe der Alliierten in die Souveränität Griechenlands und das Verhalten gegenüber die neutralen Niederlande.

Die sind dann selbstverständlich genau so zu betrachten, die griechische Souveränität ist ja nicht weniger schützenswert, als die Belgische.
 
@PostmodernAtheist ist vielleicht etwas ungeschickt im Formulieren, aber er hat doch Recht, wenn er sagt, dass der Versailler Vertrag in Deutschland nicht nur von den Nazis als ungerecht empfunden wurde. Das war der Grund, warum Nazis, die tagein, tagaus darauf ritten, überhaupt bei den Bürgerlichen Gehör fanden, die sonst allen radikalen Ideen abhold sind, solange sie ihren Status Quo nicht bedroht sehen. Aber in den Zeiten der Wirtschaftskrise änderte sich das, also wählten sie verstärkt vermeintliche Retter aus der Krise: NSDAP und KP, die beide radikale Umbaupläne und vor allem Schuldige präsentierten: Für die einen war das das internationale Judentum, für die anderen der Kapitalismus.

Und weil die Deutsche Zentrumspartei mit einigen kleineren Parteien am 24. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – die KP-Abgeordneten wurden schon zuvor unrechtmäßig ausgeschlossen, so dass nur die SPD dagegen stimmte –, geschah in der Folge verstärkt, was schon in der Weimarer Republik heimlich begonnen wurde: Einseitige Revision des Versailler Vertrages durch Aufrüstung, die erst den folgenden Krieg ermöglichte.
 
@PostmodernAtheist ist vielleicht etwas ungeschickt im Formulieren, aber er hat doch Recht, wenn er sagt, dass der Versailler Vertrag in Deutschland nicht nur von den Nazis als ungerecht empfunden wurde. Das war der Grund, warum Nazis, die tagein, tagaus darauf ritten, überhaupt bei den Bürgerlichen Gehör fanden, die sonst allen radikalen Ideen abhold sind, solange sie ihren Status Quo nicht bedroht sehen.

Joa, das ist nur insofern eine Fehlwidergabe der historischen Tatsachen, als dass die Ablehnung des Versailler Vertrags und Revisionswünsche so überhaupt kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis waren, sondern das war ja ein Allgemeinplätzchen, über das sich von der KPD bis zur NSDAP ausnahmsweise mal alle politischen Parteien einig waren, einschließlich der Sozialdemokratie und des Zentrums, die zwar auf die Annahme hingearbeitet hatten, die Artikel 168 und 169 selbigen Vertrags allerdings konsequent missachteten und sich ebenfalls nicht zu einer endgültigen Festschreibung der Ostgrenze bereit fanden.

Insofern ist die Behauptung, die Nazis hätten im Bürgertum wegen der Ablehnung des Versailler Vertrags besonderes Gehör gefunden, auf deutsch gesagt Bullshit, denn der wurde in seiner Gesamtheit von Zentrum, DVP und DNVP genau so abgelehnt und gerade letztere zwei Parteien schriehen ja mitunter sogar nach Revision qua Waffengewalt.
Dafür musste man nicht NSDAP wählen.
 
@PostmodernAtheist ist vielleicht etwas ungeschickt im Formulieren, aber er hat doch Recht, wenn er sagt, dass der Versailler Vertrag in Deutschland nicht nur von den Nazis als ungerecht empfunden wurde. Das war der Grund, warum Nazis, die tagein, tagaus darauf ritten, überhaupt bei den Bürgerlichen Gehör fanden, die sonst allen radikalen Ideen abhold sind, solange sie ihren Status Quo nicht bedroht sehen. Aber in den Zeiten der Wirtschaftskrise änderte sich das, also wählten sie verstärkt vermeintliche Retter aus der Krise: NSDAP und KP, die beide radikale Umbaupläne und vor allem Schuldige präsentierten: Für die einen war das das internationale Judentum, für die anderen der Kapitalismus.

Und weil die Deutsche Zentrumspartei mit einigen kleineren Parteien am 24. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – die KP-Abgeordneten wurden schon zuvor unrechtmäßig ausgeschlossen, so dass nur die SPD dagegen stimmte –, geschah in der Folge verstärkt, was schon in der Weimarer Republik heimlich begonnen wurde: Einseitige Revision des Versailler Vertrages durch Aufrüstung, die erst den folgenden Krieg ermöglichte.


Ich dachte, du wolltest dich hier nicht mehr zu Worte melden.:D

Wir diskutieren hier eigentlich nicht über den Versailler Frieden, sondern über die Kriegsschuldfrage.

Und Hitler hatte ab wann Erfolg mit seinem unerträglichen Gelaber? Ab dem Zeitpunkt wo es den Menschen schlecht oder zumindest immer schlechter ging. Stichwort ist hier die Weltwirtschaftskrise.
1924 6,5% (Deutsche Völkische Partei und NSDAP zusammen)
1928 2,6%
1930 18,3%
1932 37,4%
 
Das Folgende gehört zum besseren Verständnis durchaus auch dazu.

Ein Ergebnis der Balkankriege war das Scheitern des russischen Botschafters in Konstantinopel, Charykow, den russischen Kriegsschiffen das exklusive Recht der freien Durchfahrt durch den Bosporus und den Dardanellen zu verschaffen. Ein ganz wichtiger Punkt.

Charykow war schon seit Sommer 1909 von Stolypin den Auftrag ein Bündnis zu schaffen, welches den gesamten Balkanraumes umfassen sollte und die Spitze sollte gegen Österreich gerichtet sein. Das hätte natürlich bei Erfolg das Kräftegewicht erheblich verschoben. Stattdessen praktizierte Hartwig, russischer Botschafter in Belgrad, seine eigene Außenpolitik und er schuf den Balkanbund; wenn auch nicht in dem von Stolypin gewünschten Umfang. Und noch "schlimmer", die Russen hat den Balkanbund nicht unter Kontrolle.

Russlands internationale Lage war im Februar 1914 aus Sicht Petersburg unzufriedenstellend. Mit den Engländern lag man im Dauerclinch wegen Persien und neuerdings auch wegen Tibets. Es war zweifelhalt, ob das Bündnis über die vereinbarte Laufzeit hinaus Bestand haben würde.

Die Beziehungen zu Deutschland hatten sich durch die Liman-von-Sanders-Krise weiter verschlechtert.

Österreich-Ungarn wurde geradezu gehasst und galt als Staatsfeind Nr. 1.

Die Beziehungen zu Frankreich hatten sich verkompliziert. Petersburg war mit Paris unzufrieden. Man war über das Verhalten Frankreich beim Bukarester Frieden (Zweiter Balkankrieg) regelrecht verärgert. Paris hatte zusammen mit London und Berlin Partei für Griechenland gegen Bulgarien genommen. Ebenfalls alles andere als erfreut war man über das Verhalten des Alliierten in der Liman-von-Sanders-Krise, das Frankreich eine aktive (militärische) Unterstützung Russlands abgelehnt hatte, aber sich alle Mühe gegeben hatte, die Beziehungen zwischen Petersburg und Berlin zu schaden. Und schließlich kam es auch noch zu Zwistigkeiten, als Frankreich und Russland über die Modalitäten französischer Anleihen für Petersburgs militärische Bedürfnisse und über die Methoden zur Bindung Englands an die französisch-russische Allianz.

Die Annäherung an Serbien und Montenegro wurde wieder aufgenommen, da die bulgarische Haltung für Russland nicht eindeutig war.

Entsprechend war die Stimmung im Juli 1914 in Petersburg.
 
Kurz etwas zur ursprünglichen Fragestellung unter komparativer Perspektive. Eine "Bedeutung" kann ein historisches Ereignis unter zwei Gesichtspunkten haben.

1. Ein Ereignis ist so gravierend, dass es eine hochgradige "Pfadabhängigkeit" für nachfolgende Ereignisse hat. In diesem Sinne wird beispielsweise eine hohe Pfadabhängigkeit des WW1 für den WW2 via die VV unterstellt. Diese Sicht ist für die heutige Zeit nicht zielführend.

2. Unter komparativer Perspektive stellt sich die Frage nach vergleichbaren Strukturen und systemischen Abläufen, die kausal ähnlich gelagert sind. Und einen Beitrag zur Erklärung der heutigen Situation aufweisen. In diese Richtung zielt die Metapher von der "Schlafwandlerin".

Die Periode vor dem WW1 weist unter einer Reihe von Aspekten Ähnlichkeiten auf, die die Vermutung zulassen. dass außenpolitische Prozesse seit Thukydides einer gewissen Regelmäßigkeit unterliegen. Diese Regelmäßigkeit kann durch kognitive Prozesse gesteuert werden, durch sozialpsychologische erklärbare Reaktionen oder durch die gruppenspezfische, durch kulturelle Normen geprägte Wahrnehmung von Konflikten zu "Rivalen" (Großmachtkonflikte etc.)

Diese Aspekte mal Außen vor lassend zeigt der Prozess, der durch den "Kalten Krieg 2.0", inklusive dem Krieg in der Ukraine, umschrieben wird, Ähnlichkeiten zur "Juli-Krise" und zur Anfangsphase des WW1 auf.

Lange und kurze Wege: Die Eskalation in Richtung WW1 wird u.a. durch diese analytischen Dimensionen beschrieben. Und diese Kategorisierung ist ebenfalls hilfreich für die Beschreibung der aktuellen Situation. Dabei gehört zu den langen Wegen der gescheiterte Weg zu einer europäischen Friedensordnung wie sie sich ein Genscher noch vorgestellt hatte. Die entsprechenden Dynamisierungen der "langen Wege" können im Umfeld der klassischen Großmachtkonflikte gesucht werden.

Ein zweiter Aspekt betrifft das "August-Erlebnis" und die kriegsmäßge Formierung im Rahmen der Mobilisierung der "Massen" für den Krieg. Kriege können in modernen Gesellschaften nur durch einen breiten Konsens geführt werden udn dazu gehört die "Einstimmung" auf den Krieg und die Bereitschaft, Opfer zu bringen. In der Regel verbunden mit einer deutlichen Beschneidung von demokratischen Rechten und Mechanismen.

Und ein dritter Aspekt betrifft die Begründung von "gerechten Kriegen". Die Fähigkeit, die eigene Motivation und die Ziele als moralisch überlegen darzustellen ist ein Teil der psychologischen Kriegsführung, die auf die öffentliche Meinung in der Welt abzielte und die die Alliierte im WW1 erfolgreich für sich gewonnen haben. Und dieses auch innenpolitisch zu instrumentalisieren, um eine maxiamle Legitimation für das eigene Handeln und die Kriegsziele ziehen zu können.

Ein vierter Aspekt betrifft die Frage der "Kriegsgewinnler". Bei Kocka und anderen wird deutlich wie umfassend der Krieg sich auf die Gesellschaft ausgewirkt hat und hohe Opfer in jeder Beziehung von der Gesellschaft verlangt hat.

Vor diesem Hintergrund kann und muss man sich die Frage stellen, welche Lehren man aus dem miserablen politischen Management ziehen kann, das im wesentlichen für den Ausbruch des WW1 verantwortlich war. Personen, die ab einem gewissen Punkt nicht mehr sich vermeintlichen Automatismen entgegengesetllt haben und die Konsequenzen in der zu erwartenden Brutalität nicht sehen wollten. Und sich der Fiktion des "kurzen Krieges" hingegeben haben.

In diesem Sinne ist die erste Lehre und die wichtigste Bedeutung, dass man einen offenen und kritischen Diskurs führen muss. Dieses auch vor dem Hintergrund, dass Pazifisten wie der französische Politiker Jaures in der Juli-Krise getötet worden sind. Und so Handlungsoptionen nicht zum Zuge kommen konnten, die den WW1 hätten verhindern können.

Emmanuel Todd: World War III has already begun

Burkhardt, Johannes; Becker, Josef; Förster, Stig; Kronenbitter; Günther (Hg.) (1996): Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung. München: Vögel
Chickering, Roger (2007): "War enthusiasm?" Public oppinion and the outbreak of war in 1914. In: Holger Afflerbach (Hg.): An improbable war. The outbreak of World War I and European political culture before 1914. New York, NY: Berghahn, S. 200–212.
Horne, John (2012): Public Opinion and Politics. In: John Horne (Hg.): A companion to World War I. Chichester, U.K., Malden, Mass.: Wiley-Blackwell (Blackwell companions to world history), S. 279–294.
Kocka, Jürgen (1973): Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914 - 1918. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Verhey, Jeffrey (2000): Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft. 1. Aufl. Hamburg: Hamburger Edition HIS.
 
Vor diesem Hintergrund kann und muss man sich die Frage stellen, welche Lehren man aus dem miserablen politischen Management ziehen kann, das im wesentlichen für den Ausbruch des WW1 verantwortlich war. Personen, die ab einem gewissen Punkt nicht mehr sich vermeintlichen Automatismen entgegengesetllt haben und die Konsequenzen in der zu erwartenden Brutalität nicht sehen wollten. Und sich der Fiktion des "kurzen Krieges" hingegeben haben.
Das ist insgesamt ein faszinierender Gedanke, der wie ich meine eine eindeutige monokausale Verursachung eher ausschließt.

Das miserable politische Management befand sich nicht einzig innerhalb der Grenzen des Kaiserreichs, was dieses natürlich nicht "ent-schuldigt", denn es beherbergte einen erheblichen Anteil dieses Mismanagements.

Mitursächlich für das Mismanagement waren die vielfältigen, europaweit erkennbaren Varianten von Militarismus als gesellschaftlich nicht nur positivem, sondern enorm hohem (!) Wert. Das führte europaweit zu einer massiven Militarisierung zu Wasser und zu Lande (als Festungsfreak zähle ich da stets gerne auf, wer alles kurioserweise enorme Beträge in Stahl und Beton investierte, und das war bei weitem nicht das Kaiserreich allein) Metaphorisch gesagt: wo viele Bomben und Lunten, da wundert kaum, wenn beim zündeln mal eine hochgeht...

Militärische, technische und wirtschaftliche Stärke als staatliche Gebärdensprache: das fein geschliffene diplomatische Wort erhält einen anderen, gefährlicheren Sinn, wenn es sich auf Mougin-Panzerforts, Beton-Festen, Narewlinien (um nur F, D und R kurz zu erwähnen) einerseits stützen kann und andererseits ein permanent schwelender Wirtschaftskrieg (Kolonialstreitigkeiten etc) brodelt.

Da summierte sich einiger Druck im Kessel...

@thanepower deine pointierte Darstellung bringt mich auf den vielleicht kuriosen kulturhistorischen Gedanken, dass die Kapitelfolge gegen Ende des Zauberbergs im symbolischen Sinn alles andere als unzutreffend ist. Die verfeinerte kulturelle Blüte des Jugendstil und Expressionismus (Fülle des Wohllauts) als eine Seite, die gerne verklausuliert zänkische Krisendiplomatie (die große Gereiztheit) als die andere Seite der Medaille - literarisch dann konsequent und (!) unerwartet, scheinbar plötzlich der Donnerschlag. Und perdu ist die verfeinerte Jugendstilwelt, zerbröselt in Verdun, an der Somme...

Die literarisch als Effekt konstruierte Unausweichlichkeit: war sie eine hundertprozentige, alternativlose? Du hast alternative Modelle angedeutet, es kam nicht zu diesen. Ich glaube aber, dass diese Idee der Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit 1914 zu einem guten Teil der fatalen Mentalität dieser Zeit und ihrer Protagonisten geschuldet ist (die Mixtur aus Militarismus und kultureller Verfeinerung in brutal ausbeuterischen Klassengesellschaften ist ein Giftgebräu)

Man verzeihe mir diese zu "kulturlastigen" Causerien.
 
Burkhardt, Johannes; Becker, Josef; Förster, Stig; Kronenbitter; Günther (Hg.) (1996): Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung

Gute Aufsätze. Schön wäre es gewesen, wenn auch die französischen, russischen und englischen Machteliten einer Betrachtung unterzogen worden wären.
 
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