Kurz etwas zur ursprünglichen Fragestellung unter komparativer Perspektive. Eine "Bedeutung" kann ein historisches Ereignis unter zwei Gesichtspunkten haben.
1. Ein Ereignis ist so gravierend, dass es eine hochgradige "Pfadabhängigkeit" für nachfolgende Ereignisse hat. In diesem Sinne wird beispielsweise eine hohe Pfadabhängigkeit des WW1 für den WW2 via die VV unterstellt. Diese Sicht ist für die heutige Zeit nicht zielführend.
2. Unter komparativer Perspektive stellt sich die Frage nach vergleichbaren Strukturen und systemischen Abläufen, die kausal ähnlich gelagert sind. Und einen Beitrag zur Erklärung der heutigen Situation aufweisen. In diese Richtung zielt die Metapher von der "Schlafwandlerin".
Die Periode vor dem WW1 weist unter einer Reihe von Aspekten Ähnlichkeiten auf, die die Vermutung zulassen. dass außenpolitische Prozesse seit Thukydides einer gewissen Regelmäßigkeit unterliegen. Diese Regelmäßigkeit kann durch kognitive Prozesse gesteuert werden, durch sozialpsychologische erklärbare Reaktionen oder durch die gruppenspezfische, durch kulturelle Normen geprägte Wahrnehmung von Konflikten zu "Rivalen" (Großmachtkonflikte etc.)
Diese Aspekte mal Außen vor lassend zeigt der Prozess, der durch den "Kalten Krieg 2.0", inklusive dem Krieg in der Ukraine, umschrieben wird, Ähnlichkeiten zur "Juli-Krise" und zur Anfangsphase des WW1 auf.
Lange und kurze Wege: Die Eskalation in Richtung WW1 wird u.a. durch diese analytischen Dimensionen beschrieben. Und diese Kategorisierung ist ebenfalls hilfreich für die Beschreibung der aktuellen Situation. Dabei gehört zu den langen Wegen der gescheiterte Weg zu einer europäischen Friedensordnung wie sie sich ein Genscher noch vorgestellt hatte. Die entsprechenden Dynamisierungen der "langen Wege" können im Umfeld der klassischen Großmachtkonflikte gesucht werden.
Ein zweiter Aspekt betrifft das "August-Erlebnis" und die kriegsmäßge Formierung im Rahmen der Mobilisierung der "Massen" für den Krieg. Kriege können in modernen Gesellschaften nur durch einen breiten Konsens geführt werden udn dazu gehört die "Einstimmung" auf den Krieg und die Bereitschaft, Opfer zu bringen. In der Regel verbunden mit einer deutlichen Beschneidung von demokratischen Rechten und Mechanismen.
Und ein dritter Aspekt betrifft die Begründung von "gerechten Kriegen". Die Fähigkeit, die eigene Motivation und die Ziele als moralisch überlegen darzustellen ist ein Teil der psychologischen Kriegsführung, die auf die öffentliche Meinung in der Welt abzielte und die die Alliierte im WW1 erfolgreich für sich gewonnen haben. Und dieses auch innenpolitisch zu instrumentalisieren, um eine maxiamle Legitimation für das eigene Handeln und die Kriegsziele ziehen zu können.
Ein vierter Aspekt betrifft die Frage der "Kriegsgewinnler". Bei Kocka und anderen wird deutlich wie umfassend der Krieg sich auf die Gesellschaft ausgewirkt hat und hohe Opfer in jeder Beziehung von der Gesellschaft verlangt hat.
Vor diesem Hintergrund kann und muss man sich die Frage stellen, welche Lehren man aus dem miserablen politischen Management ziehen kann, das im wesentlichen für den Ausbruch des WW1 verantwortlich war. Personen, die ab einem gewissen Punkt nicht mehr sich vermeintlichen Automatismen entgegengesetllt haben und die Konsequenzen in der zu erwartenden Brutalität nicht sehen wollten. Und sich der Fiktion des "kurzen Krieges" hingegeben haben.
In diesem Sinne ist die erste Lehre und die wichtigste Bedeutung, dass man einen offenen und kritischen Diskurs führen muss. Dieses auch vor dem Hintergrund, dass Pazifisten wie der französische Politiker Jaures in der Juli-Krise getötet worden sind. Und so Handlungsoptionen nicht zum Zuge kommen konnten, die den WW1 hätten verhindern können.
Emmanuel Todd: World War III has already begun
Burkhardt, Johannes; Becker, Josef; Förster, Stig; Kronenbitter; Günther (Hg.) (1996): Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung. München: Vögel
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