Dritte amerikanische Protestnote aus Anlass des Lusitania-Falles vom 23. Juli 1915
Nachstehend stelle ich die in Rede stehende amerikanische Note vollständig und auf deutsch ins Netz:
"Berlin, den 23. Juli 1915
Im Auftrage meiner Regierung habe ich die Ehre, Eure Exzellenz zu benachrichtigen, dass die Note der Kaiserlich Deutschen Regierung vom 8. Juli 1915 eine sorgfältige Prüfung seitens der Regierung der Vereinigten Staaten erfahren hat; die Regierung der Vereinigten Staaten bedauert, aussprechen zu müssen, dass sie die Note sehr unbefriedigend gefunden hat, da diese die eigentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Regierungen nicht behebt, auch keinen Weg weist, auf dem die anerkannten Grundsätze von Recht und Menschlichkeit in dieser ernsten Streitfrage zur Geltung gebracht werden können, sondern im Gegenteil Vereinbarungen über eine teilweise Aussetzung jener Grundsätze vorschlägt, wodurch diese im Endergebnis überhaupt beseitigt würden.
Die Regierung der Vereinigten Staaten nimmt mit Genugtuung davon Vermerk, dass die Kaiserlich Deutsche Regierung ohne Vorbehalt die Gültigkeit der Grundsätze anerkennt, an denen die Amerikanische Regierung in ihren verschiedentlichen Zuschriften an die Kaiserlich Deutsche Regierung in Ansehung der Verkündigung eines Kriegsgebiets und der Verwendung von Unterseebooten gegen Kauffahrteischiffe auf hoher See festgehalten hat – nämlich des Grundsatzes, dass die Meere frei sind, dass Charakter und Ladung eines Kauffahrteischiffes erst festgestellt sein müssen, ehe es rechtmäßigerweise in Beschlag genommen oder zerstört werden kann, und dass das Leben von Nichtkämpfern auf keinen Fall gefährdet werden darf, es sei denn, das Schiff leiste Widerstand oder versuche zu entfliehen, nachdem es aufgefordert worden ist, sich der Durchsuchung zu unterwerfen. Denn Vergeltungsmaßnahmen eines Kriegsführenden stehen an sich außerhalb des Gesetzes, und wenn man die Verteidigung einer Handlung damit zu begründen sucht, dass sie eine Vergeltungshandlung sei, so heißt das zugeben, dass sie ungesetzlich ist.
Die Regierung der Vereinigten Staaten ist jedoch bitter enttäuscht darüber, dass die Kaiserlich Deutsche Regierung sich in weitem Maße von der Verpflichtung zur Beachtung dieser Grundsätze selbst neutralen Schiffen gegenüber entbunden erachtet infolge der Politik und der Praxis, die nach ihrer Ansicht Großbritannien im gegenwärtigen Kriege dem neutralen Handel gegenüber befolgt. Die Kaiserlich Deutsche Regierung wird ohne weiteres verstehen, dass die Regierung der Vereinigten Staaten die Politik der Großbritannischen Regierung selbst erörtern kann; auch muss sie das Verhalten anderer kriegsführender Regierungen für jede Erörterung mit der Kaiserlich Deutschen Regierung über die ihrer eigenen Ansicht nach ernste und nicht zu rechtfertigende Verletzung von Rechten amerikanischer Bürger durch deutsche Seebefehlshaber als unerheblich ansehen. Ungesetzliche und unmenschliche Handlungen, so gerechtfertigt sie auch immer einem Feinde gegenüber erscheinen mögen, der sich gegen Recht und Menschlichkeit vergangen haben soll, sind offenbar nicht zu verteidigen, wenn sie Neutrale ihrer anerkannten Rechte berauben, insbesondere gar das Recht auf Leben verletzen. Wenn ein Kriegführender einem Feinde gegenüber nicht Vergeltung üben kann, ohne das Leben Neutraler oder deren Eigentum zu schädigen, so sollen Menschlichkeit wie auch Gerechtigkeit und eine gebotene Rücksichtnahme auf die Würde der neutralen Mächte verlangen, das ein solches Verfahren eingestellt wird. Wird es jedoch fortgesetzt, so würde das unter solchen Umständen einen unverzeihlichen Verstoß gegen die Hoheitsrechte der betroffenen neutralen Völker bedeuten. Die Regierung der Vereinigten Staaten lässt die außergewöhnlichen, durch diesen Krieg geschaffenen Verhältnisse nicht außer acht, noch den grundlegenden Wandel, den die Angriffsmöglichkeiten und Angriffsweisen durch die moderne Seekriegsführung erfahren haben können, als die geltende Regeln des Völkerrechts aufgestellt wurden. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist bereit, jede vernünftige Rücksichtnahme auf diese neue und unerwartete Gestaltung der Seekriegsführung walten zu lassen; sie kann jedoch nicht zugeben, dass ein wesentliches oder grundlegendes Recht ihres Volkes wegen einer bloßen Änderung äußerer Umstände preisgegeben wird. Die Rechte Neutraler in Kriegszeiten beruhen auf Grundsätzen, nicht auf Zweckmäßigkeit, und die Grundsätze sind unantastbar. Pflicht und Obliegenheit der Kriegsführenden ist es, einen Weg zu finden, die neuen Verhältnisse den Grundsätzen anzupassen.
Die Ereignisse der letzten zwei Monate haben klar gezeigt, dass es sich ermöglichen und durchführen lässt, Kriegsoperationen durch Unterseeboote, wie sie die Tätigkeit der Kaiserlich Deutschen Marine innerhalb des sogenannten Kriegsgebiets gekennzeichnet haben, in wesentlicher Übereinstimmung mit den anerkannten Gebräuchen einer geordneten Kriegsführung zu halten. Die ganze Welt hat mit Interesse und mit wachsender Genugtuung auf den Nachweis dieser Möglichkeit durch deutsche Kriegsschiffkommandanten geblickt. Es ist mithin offenbar möglich, die ganze Angriffsweise der Unterseeboote der Kritik zu entheben, die sie hervorgerufen hat, und die Hauptursachen des Anstoßes zu beseitigen.
Angesichts des Umstandes, dass die Kaiserliche Regierung die Gesetzeswidrigkeit ihrer Handlungsweise zugab, indem sie zu deren Rechtfertigung das Recht der Vergeltung anführte, und angesichts der offenbaren Möglichkeit, die hervorgebrachten Regeln der Seekriegsführung innezuhalten, vermag die Regierung der Vereinigten Staaten nicht zu glauben, dass die Kaiserliche Regierung noch länger davon absehen wird, die willkürliche Handlungsweise ihres Schiffskommandanten bei der Versenkung der „Lusitania“ zu missbilligen oder Entschädigung für die Verluste an amerikanischen Menschenleben anzubieten, insoweit für unnötige Vernichtung von Menschenleben durch eine ungesetzliche Tat überhaupt Ersatz geleistet werden kann.
Die Regierung der Vereinigten Staaten kann die Anregung der Kaiserlich Deutschen Regierung nicht annehmen und sich auf bestimmt bezeichnete Schiffe einigen, die das zurzeit gesperrte Seegebiet unbehelligt befahren dürfen, wenn sie auch den freundschaftlichen Geist nicht verkennt, in dem diese Anregung gemacht ist. Gerade eine solche Vereinbarung würde stillschweigend andere Schiffe widerrechtlichen Angriffen aussetzen und eine Beeinträchtigung und demgemäß ein Aufgeben der Grundsätze bedeuten, für die die Amerikanische Regierung eintritt, und die in Zeiten ruhigerer Überlegung jede Nation als selbstverständlich anerkennen würde.
Die Regierung der Vereinigten Staaten und die Kaiserlich Deutsche Regierung kämpfen für das gleiche große Ziel und sind lange gemeinsam für die Anerkennung eben jener Grundsätze eingetreten, auf denen die Regierung der Vereinigten Staaten jetzt so feierlich besteht. Sie kämpfen beide für die Freiheit der Meere. Die Regierung der Vereinigten Staaten wird fortfahren, für diese Freiheit zu kämpfen, von welcher Seite sie auch immer verletzt werden möge, ohne Kompromiss und um jeden Preis. Sie ladet die deutsche Regierung zu praktischer Mitarbeit in einem Augenblicke ein, wo durch Zusammenarbeiten am meisten gewonnen und das große, gemeinsame Ziel am eindruckvollsten und wirksamsten erreicht werden kann.
Die Kaiserlich deutsche Regierung gibt der Hoffnung Ausdruck, dass dieses Ziel in gewissem Maße sogar vor dem Ende des gegenwärtigen Krieges erreicht werden möge. Das kann geschehen. Die Regierung der Vereinigten Staaten fühlt sich nicht nur verpflichtet, zum Schutze ihrer eigenen Bürger darauf zu bestehen, dass dieses Ziel erreicht wird, von wem auch immer die Verletzung oder Missachtung ausgehen mag, sie ist auch im höchsten Maße interessiert, dieses Ziel zwischen den Kriegführenden selbst verwirklicht zusehen, und bereit jederzeit als gemeinsamer Freund beider Parteien einzuspringen, der sich erlauben darf, einen Rat zu erteilen.
Mittlerweile sieht sich die Amerikanische Regierung veranlasst, gerade wegen des großen Wertes, den sie auf die lange und ununterbrochene Freundschaft zwischen Volk und Regierung der Vereinigten Staaten und Volk und Regierung Deutschlands legt, der Kaiserlich Deutschen Regierung feierlichst die Notwendigkeit einer gewissenhaften Beachtung der Rechte Neutraler in dieser heiklen Angelegenheit ans Herz zu legen. Gerade diese Freundschaft drängt sie, der Kaiserlichen Regierung zu erklären, dass die Regierung der Vereinigten Staaten eine Wiederholung der Verletzung von Rechten Neutraler durch die Kommandanten deutscher Kriegsschiffe, falls amerikanische Bürger darunter leiden, als eine vorsätzlich unfreundliche Handlung betrachten müsste.
Ich benutze auch diesen Anlass, um Eurer Exzellenz die Versicherung meiner ausgezeichnesten Hochachtung zu erneuern.
James W. Gerard
Seiner Exzellenz
Herrn von Jagow,
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes usw. usw. usw."
Quelle: Eugen Fischer, Berthold Widmann, Johannes Bell (Hrsg.); Völkerrecht im Weltkrieg, Vierter Band, 1927, S. 303 ff.